Читать книгу Christine Bernard. Das Mädchen aus einer anderen Welt - Vieten Michael E. - Страница 7

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Lina

Justizvollzugsbeamte liefen mit quietschenden Sohlen über den Linoleumboden. Es roch nach Putzmitteln. Kommissarin Bernard nippte an ihrem Kaffee.

„Während der ersten Vernehmung stellst du bitte keine Fragen. Wir können später darüber reden. Ist das deine erste Vernehmung?“

Rita nickte.

„Ja. Bin ein wenig aufgeregt.“

„Mal sehen, was uns hier erwartet. Kann man nie vorhersehen. Langweilig war es jedenfalls bisher nie.“

Eine junge Frau in Anstaltskleidung wurde über den Flur geleitet. Blass, mager. Strähniges blondes Haar. Mit scheuem Blick musterte sie die beiden Frauen, die offenbar ihretwegen gekommen waren.

Lina wurde in den Vernehmungsraum geführt. Sie fürchtete sich, obwohl sie gar nicht genau wusste, was sie nun erwartete.

Sie durfte sich setzen. Die zwei Beamtinnen nahmen ihr gegenüber Platz. Beide erschienen ihr sympathisch. Die mit den langen Haaren mochte sie ein wenig lieber. Sie sprach freundlich mit angenehmer Stimme. Die andere sagte nichts.

Die Beamtin der JVA lächelte Lina aufmunternd zu, verließ den Raum und schloss die Tür hinter sich.

Kommissarin Bernard beugte sich vor und schaltete das Mikrofon ein, das auf dem Tisch stand.

„Frau Ahlers …“

„Sie können mich Lina nennen.“

„Also gut, Lina. Sind Sie damit einverstanden, dass unser Gespräch aufgezeichnet wird?“

Lina nickte.

„Sie müssen bitte ‚ja‘ oder ‚nein‘ sagen.“

„Ja.“

„Sind Sie damit einverstanden, dass Frau Lange zu Schulungszwecken während der Vernehmung anwesend ist?“

Lina warf Rita einen scheuen Blick zu.

„Ja.“

„Beginn der Vernehmung von Lina Ahlers. Es ist 9:34 Uhr. Die Vernehmung führt Kommissarin Christine Bernard. Außerdem anwesend: Praktikantin Rita Lange.“

Lina lächelte unsicher.

„Lina, ich bin Kommissarin Christin’ Bernar’, das ist meine Kollegin Frau Lange.“

„Sind Sie Französin?“, fragte Lina zaghaft.

„Nein. Ich bin in Luxemburg geboren und in Deutschland aufgewachsen.“

Lina nickte schüchtern.

„Ich muss Sie darüber belehren, dass Sie als Beschuldigte vernommen werden und Sie einen Anwalt hinzuziehen dürfen.“

Lina nickte unterwürfig, während die Kommissarin sie weiter belehrte. Linas Hände zitterten vor Aufregung. Nervös rieb sie ihre Handflächen aneinander, sie waren kalt und feucht.

Christine schlug die Ermittlungsakte auf und las die ersten Zeilen.

„Sie wurden heute Nacht von den Kollegen des Kriminaldauerdienstes verhaftet, weil Sie behaupten, jemanden getötet zu haben. Ist das richtig?“

Lina nickte stumm.

Kommissarin Bernard verzichtete auf eine erneute Belehrung, geschlossene Fragen mit „ja“ oder „nein“ zu beantworten. Sie sah es Lina an, wie schwer es ihr fiel, überhaupt eine Antwort zu formulieren.

„Wen haben Sie getötet?“

„Einen von ihnen.“

„Einen? Einen Mann?“

Lina nickte unsicher. Christine stellte die folgenden Fragen offener, um Lina Antworten zu entlocken.

„Wen genau meinen Sie? Wie ist sein Name?“

„Sie haben keine Namen.“

„Woher kannten Sie Ihr Opfer?“

„Sie haben mich geholt.“

Christine warf einen kurzen Blick auf das Vernehmungsprotokoll.

„Hier steht, Sie seien einer Polizeistreife aufgefallen, weil Sie blutverschmiert, barfuß und für die Tageszeit zu leicht bekleidet eine Straße entlanggelaufen sind. Die Kollegen sind mit Ihnen zu dem Tatort gefahren, den Sie ihnen genannt haben, aber dort wurde keine Leiche gefunden.“

Lina beugte sich vor und flüsterte: „Sie haben sie mitgenommen.“

„Warum flüstern Sie?“

„Man kann sie nicht sehen, aber sie sind trotzdem da. Sie beobachten uns.“

Ängstlich blickte Lina auf. Christine und Rita folgten ihrem Blick. An der Decke war eine Videokamera montiert. Rot blinkte die Betriebsleuchte.

„Wen meinen Sie mit ‚sie‘?“

„Die Wesen.“

„Was sind das für Wesen?“

„Sie nehmen uns mit auf ihr Schiff und untersuchen uns. Danach bringen sie uns zurück. Sie kommen aus einer anderen Welt. Einer besseren Welt. Sie könnten uns alle vernichten. Sie sind freundlich und sie wollen uns dorthin mitnehmen. Aber erst müssen sie uns studieren, damit wir dort nicht sterben.“

„Haben die das gesagt?“

Lina nickte.

„Wieso sprechen die Deutsch, wenn sie doch aus einer anderen Welt kommen?“

„Die sind schlau, die haben das gelernt. Wenn die Raumschiffe bauen können, können die das eben.“

„Nun gut. Kommen wir zurück zu der Untersuchung. Wurden Sie auch ‚untersucht‘?“

Lina nickte wieder.

„Wer wurde noch untersucht?“

„Ich kenne die anderen nicht. Nur Miranda. Ich habe sie manchmal getröstet.“

„Warum musste Miranda getröstet werden?“

„Sie vertrug die Untersuchung nicht.“

„Wie heißt Miranda mit Nachnamen?“

„Das weiß ich nicht. Hätte ich sie danach fragen sollen?“

„Dann wüssten wir schneller, wer sie ist und wo sie wohnt.“

„Das tut mir leid“, entschuldigte sich Lina „Sie ist Holländerin“, lieferte sie nach, in der Hoffnung, dass dieses Detail die Kommissarin interessieren würde. „Hilft Ihnen das weiter?“

Christine ließ Linas Frage unbeantwortet, las einen kurzen Absatz und blickte wieder auf.

„Sie wurden heute Nacht erkennungsdienstlich behandelt und mit Ihrem Einverständnis ärztlich untersucht. Es wurde eine Blutprobe genommen. Sie trugen keine Unterwäsche und wurden offenbar gewaschen, bevor die Kollegen von der Streife Sie aufgegriffen haben. Wurden Sie vergewaltigt?“

Kommissarin Bernard brachte diese Frage nie leicht über ihre Lippen, auch diesmal nicht. Aber Karin Vollmer hatte ihr geraten, Geschädigte nicht ein zweites Mal zum Opfer zu machen. Die Polizeipsychologin empfahl, Frauen, die sexueller Gewalt ausgesetzt waren, mit ihrer Aussage die Hoheit über ihre Situation zurückzugeben, anstatt sie mit falsch verstandener Rücksicht und Bedauern weiter in der Opferrolle zu belassen. Schweigen und tatenlos verstrichene Zeit nutzte nur den Tätern.

Lina schüttelte heftig ihren Kopf.

„Sie untersuchen uns nur.“

Auf Linas Stirn bildeten sich Schweißperlen.

Christine nahm sich zurück.

„Okay, Lina. Reden wir über etwas anderes. Wie haben Sie dieses Wesen umgebracht?“

„Da war so ein Ding in der Tür.“

„Was für eine Tür?“

„Von dem Auto.“

„Ihr seid mit dem Auto gefahren? Wieso fliegen diese Wesen nicht?“

Christine hätte ihre letzte Frage am liebsten zurückgezogen. Aber nun war sie bereits ausgesprochen und Lina war der leicht spöttische Unterton sicher nicht entgangen. Doch sie reagierte nicht darauf.

„Dann könnte sie doch jeder bemerken“, antwortete sie, offenbar überzeugt davon, dass diese beiden Frauen ihren Argumenten schließlich folgen würden.

„Nun gut. Sie haben also im Auto gesessen. Vorne oder hinten?“

„Hinten.“

„Saß jemand neben Ihnen?“

Lina nickte.

„Das Opfer?“

Lina nickte erneut.

„Was haben Sie dann gemacht?“

„Ich hab’ das Ding genommen und damit zugestochen.“

„Was für ein Ding war das?“

„So eins, wo man Eis mit abmacht.“

„Ein Eiskratzer?“

Lina nickte wieder.

„Wieso haben Sie das gemacht? Sie sagten, Sie wurden nur untersucht.“

„Weil es weh tut.“

„Die Untersuchung?“

„Ja.“

„Was genau haben die mit Ihnen gemacht?“

„Ich weiß es nicht. Wir schlafen ja fast. Aber danach tut es weh.“

„Wo genau tut es weh?“

Lina reagierte nicht.

„Lina?“

„Im Bauch.“

„Im Bauch oder weiter unten?“

„Ich möchte etwas trinken“, lenkte Lina ab.

„Einen Moment noch. Wir sind sofort fertig. Was geschah, nachdem Sie zugestochen haben?“

„Das Auto hat gebremst. Ich habe die Tür aufgestoßen, bin ausgestiegen und weggerannt.“

„Okay, Lina. Was dann geschah, haben die Kollegen ja hier protokolliert. Eine Frage habe ich noch: Wie sehen sie aus, diese Wesen?“

Kommissarin Bernard erwartete auf ihre letzte Frage keine rationale Antwort. Doch sie wurde überrascht.

Lina hielt sich beide Hände vor das Gesicht. „Sie haben so große Augen, aber keinen Mund, keine Nase und keine Haare auf dem Kopf.“

Dann legte sie ihre Hände wieder auf die Tischplatte vor sich und schaute die Kommissarin an. Offenbar erwartete sie eine bestimmte Reaktion. Doch die blieb aus.

Christine wusste nicht, was sie darauf antworten sollte, und ließ Linas letzte Aussage unkommentiert.

„Ich werde meine Kollegin, Frau Doktor Vollmer, bitten, mit Ihnen zu sprechen. Sie ist Psychologin und kann gegebenenfalls für eine Verlegung in eine psychiatrische Einrichtung sorgen.“

Plötzlich schoss Linas Arm über den Tisch und noch bevor Christine reagieren konnte, umklammerten dürre, eisige Finger ihre Hand.

„Nein. Bitte nicht. Ich will hier bleiben. Hier bin ich sicherer. Hier können sie mich nicht mehr holen kommen.“

Kommissarin Bernard lächelte und erwiderte kurz Linas Händedruck.

„Würden Sie bitte meine Hand loslassen?“

„Entschuldigung“, flüsterte Lina unterwürfig, zog ihren Arm an sich heran und knetete mit der rechten Hand ihre linke. Christine klappte die Ermittlungsakte zu und erhob sich. Rita auch.

Sie verließen den Vernehmungsraum. Die Justizvollzugsbeamtin führte Lina zurück in ihre Zelle.

„Was war das denn?“, raunte Rita sichtlich berührt und schaute den beiden nach.

„Das war ein Opfer sexueller Gewalt mit einer posttraumatischen Belastungsstörung. Vermute ich mal.“

Sie wandten sich ab und liefen auf die Schleuse am anderen Ende des Flurs zu. Christine suchte Augenkontakt mit dem Beamten an der Pforte. Das Schloss der Schleusentür summte und schnarrte wieder. Sie bekam ihre Dienstwaffe zurück und quittierte den Empfang.

Hell lackierte Fahrzeuge sollen sich angeblich unter Sonneneinstrahlung weniger stark aufheizen als dunkle. Für den weißen Mégane galt das offenbar nicht. 48 Grad Celsius Innentemperatur zeigte das Bordthermometer an. Mit einem Tastendruck auf der Fernbedienung ließ Kommissarin Bernard alle Fensterscheiben herunterfahren und öffnete die Türen weit, bevor sie einstiegen. Dennoch drückte sich nach kurzer Zeit der Schweiß durch ihre Poren. Christines Haut im Gesicht und an den Armen glänzte seidig-matt. Sie warf einen schnellen Blick zu Rita. Ihr standen Schweißperlen auf der Stirn.

„Ja. Mir ist auch sehr warm“, alberte sie. Sie lachten beide.

Der Fahrtwind sorgte für Abkühlung. Christine schaltete die Klimaanlage ein und ließ die Fenster hochfahren. Dann ließ sie sich von ihrem Smartphone mit der Polizeipsychologin verbinden.

„Vollmer“, klang es fröhlich aus der Freisprechanlage.

„Hallo, Karin. Ich komme gerade von der Vernehmung von Lina Ahlers. Ich glaube, da brauchen wir deine Hilfe.“

„Habe ich mir schon gedacht. Torsten hat mich heute Morgen bereits informiert. Er wollte aber das Ergebnis deiner Befragung abwarten.“

„Da kam nicht viel bei raus. Lina Ahlers ist zwar volljährig, macht auf mich aber eher den Eindruck einer 14- bis 16-Jährigen. Außerdem wirkt sie verängstigt und verwirrt und leidet offenbar unter Realitätsverlust. Ob sie unter diesen Umständen vernehmungsfähig ist, musst du entscheiden.“

Rita hörte aufmerksam zu und wartete das Ende des Telefongesprächs ab.

„Wieso muss gegen Lina Ahlers überhaupt ermittelt werden? Sie ist Opfer und es gibt keine Leiche.“

„Weil sie behauptet, jemanden getötet zu haben. Das ist ein Offizialdelikt und dem muss die Staatsanwaltschaft nachgehen. Auch wenn niemand klagt und es keine Leiche oder Zeugen gibt. Außerdem ist Lina unverletzt, obwohl sie blutüberströmt aufgegriffen wurde. Von wem stammt also das viele Blut auf ihrer Kleidung? Ist jemand verletzt worden? Wurde er hilflos zurückgelassen und liegt jetzt irgendwo?“

„Dazu passt ihre Aussage mit dem Eiskratzer. Vielleicht hat sie damit die Halsschlagader ihres Peinigers getroffen. Oder sie hat jemand anderen getötet und will sich mit ihrer Alien-Geschichte herausreden. Vielleicht ist sie viel abgebrühter, als sie vorgibt.“

„Tja, vielleicht. Fahrlässige Tötung, Körperverletzung mit Todesfolge, Mord oder es steckt etwas ganz anderes dahinter. Wir sind dafür da, das aufzuklären. Willkommen bei der Kriminalpolizei.“

Rita nickte und grinste.

„Was glaubst du?“

„Männer morden, um zu besitzen und zu herrschen. Frauen morden, um sich zu befreien und nicht beherrscht zu werden. Wenn wir die Aliens Linas Belastungsstörung zuschreiben, passt ihre Aussage durchaus zu meiner Berufserfahrung.“

Christine ließ sich erneut verbinden.

„Prinz.“

„Guten Morgen, Frauke. Weißt du schon etwas über die ärztliche Untersuchung von Lina Ahlers heute Nacht im Krankenhaus?“

„Ja“, klang es gedehnt aus dem Lautsprecher. „Da kam was.“

Die Polizeiärztin reagierte nicht mehr.

„Frauke?“

„Ich suche. Ah, da ist es. Mmh, mmh, mmh“, brummte sie, während sie anscheinend den Bericht ihres Kollegen aus dem Krankenhaus las. „Also, Lina Ahlers wurde offenbar nicht vergewaltigt. Jedenfalls nicht im üblichen Sinne.“

„Was heißt das?“

Frauke Prinz murmelte wieder unverständlich und konzentrierte sich vermutlich erneut auf die Zeilen, die sie las.

„Rötung an den Schleimhäuten, keine Fissuren, keine fremden Körpersekrete, aber Spuren von Gleitmittel. Rötung der Haut an Hand- und Fußgelenken, keine Abschürfungen.“

Wieder entstand eine Pause.

„Frauke?“

„Ja, ich bin noch da. Also, für mich sieht das nach Fesselspielchen oder Festhalten beim Geschlechtsverkehr aus. Möglicherweise einvernehmlich. Wahrscheinlich mit Kondom.“

„Was ist mit Drogen?“

„Kein Befund. Aber das heißt nichts. Benzodiazepine und Neuroleptika, also GHB, Liquid Ecstasy und das ganze Zeug, das als Partydroge beliebt ist, wird vom Körper schnell abgebaut und ist später nicht mehr nachweisbar.“

„Lina Ahlers behauptet, sie wäre lediglich untersucht worden und hätte dabei geschlafen.“

„Möglich. Je nach Dosierung tritt eine Sedierung ein. Das Opfer glaubt zu schlafen und kann sich später an gar nichts oder nur schemenhaft erinnern. Die korrekte Dosierung ist allerdings nicht trivial. Zu berücksichtigen sind Körpergewicht, Konstitution und konsumierter Alkohol. Sonst drohen Atemstillstand und letztendlich Tod. Medizinische Grundkenntnisse sollte der Verabreichende schon haben.“

„Also ein Arzt.“

„Nicht unbedingt. Apotheker, medizinisches Personal, Pharma-Studenten, Altenpfleger und so weiter kämen auch infrage.“

„Ich danke dir.“

„Gerne.“

Vor dem Gebäude der Kriminaldirektion trafen sie auf Luc Nilles. Er stand auf dem Parkplatz im Schatten einer Linde und rauchte. Interessiert musterte er Rita.

Christine stellte ihren Kollegen vor.

„Hauptkommissar Luc Nilles vom Kommissariat 4. Betrug.“

„Eine neue Kollegin?“

Rita antwortete für sich selbst.

„Noch nicht. Praktikum und dann mal sehen.“

„Freut mich. Wir können ja mal ein Glas Wein zusammen trinken. Vielleicht überzeuge ich dich ja.“

Rita zeigte an der Einladung wenig Interesse.

„Ja. Vielleicht.“

Luc nickte und zog an der Zigarette.

Christine und Rita verabschiedeten sich.

„Luc hast du offenbar ebenso beeindruckt wie Jörg.“

„Nicht mein Typ. Zu alt, zu grau, zu lässig.“

Kommissarin Bernard schmunzelte.

„Dann kann Jörg ja beruhigt sein. Die beiden können nämlich nicht so gut miteinander.“

„Die können beide beruhigt sein“, lachte Rita und lief voraus ins Treppenhaus.

Auf dem Flur begegnete ihnen Torsten Kluge.

„Bin gerade auf dem Weg in die Kantine. Wollt ihr auch etwas?“

Christine schaute Rita an. Die schüttelte ihren Kopf.

Der Hauptkommissar kehrte in sein Büro zurück und setzte sich an den Schreibtisch. Sie folgten ihm.

„Das Ergebnis der DNA-Analyse des Blutes im Fall Ahlers steht fest. Das Opfer steht in einem verwandtschaftlichen Verhältnis ersten Grades zu Lina Ahlers.“

„Was? Also hat Lina Ahlers ihren Vater getötet?“

„Nach derzeitigem Ermittlungsstand ist das sehr wahrscheinlich.“

Hauptkommissar Kluge überreichte seiner Kollegin den Laborbericht und sprach weiter.

„Der Digitalisierung sei Dank, haben wir einen Treffer in unserer Datenbank. Horst Ahlers, geboren 1961 in Trier. 1998 erkennungsdienstlich behandelt nach einer Anzeige wegen sexueller Nötigung. Das Verfahren wurde eingestellt, nachdem die Anzeige zurückgezogen wurde. Adresse …“

Torsten Kluges Blick wanderte über ein Schriftstück.

„… ja, steht drauf. Fahrt ihr da bitte mal vorbei? Wenn ihr Herrn Ahlers antrefft, befragen. Wenn nicht, Nachbarn befragen. Aufenthaltsort ermitteln. Das Übliche eben.“

Er reichte ihr den Computerausdruck.

„Wollt ihr wirklich nichts aus der Kantine?“

Christine und Rita schüttelten ihre Köpfe und lehnten das Angebot erneut ab. Gemeinsam verließen sie das Büro.

„Gummibrötchen“, kicherte Kommissarin Bernard, während sie die Stufen im Treppenhaus hinunterliefen. „Wenig verlockend“, äffte sie Rita nach. „Das hast du also gleich am ersten Tag ermittelt.“

„Ist mir so rausgerutscht“, entschuldigte sich Rita. „Hauptkommissar Rottmann hat mich heute Morgen vor den Automaten-Brötchen gewarnt.“

„Vormittags sind sie ganz okay. Aber Torstens Gesichtsausdruck, köstlich.“

„Sollte ich mich bei ihm entschuldigen?“

„Aber nein. Torsten kann mit deiner direkten Art umgehen. Er schätzt es gerade heraus.“

Sie verließen das Gebäude und stiegen in Christines Wagen.

„Wo müssen wir denn hin?“

Kommissarin Bernard startete den Motor und schaute kurz auf den Computerausdruck.

„Medardstraße.“

„Eine Freundin von mir hat einen Öko-Imbiss. Liegt auf dem Weg. Garantiert keine Gummibrötchen“, lachte Rita und legte den Sicherheitsgurt an.

Solveigs Bistro war gut besucht. Sie mussten warten.

Rita bestellte zwei Salattaschen und zwei Flaschen Eistee. Die Inhaberin fragte, wie viel Soße in den Salat solle, und suchte Blickkontakt.

„So viel, dass wir nicht das ganze Auto damit einsauen“, antwortete Rita und wich ihren Blicken aus. Den Eindruck hatte Kommissarin Bernard jedenfalls. Sie bezahlte für beide.

Während sie den Imbiss verließen, drehte sie sich noch einmal um. Solveig schaute ihnen nach.

„Kennst du diese Frau näher?“

„Könnte man sagen. Warum?“

Sie fragte nicht weiter nach. Es ging sie nichts an.

Sie setzen sich in das Auto und begannen zu essen.

Die Salattaschen schmeckten köstlich und Christine beschloss, sich künftig dort öfter etwas zu kaufen.

Rita bedankte sich für die Einladung, ließ ihre Fensterscheibe herunterfahren und nuckelte durch den Strohhalm ihren Eistee.

„Ich habe heute Morgen in der Kantine mitbekommen, dass du richtig tough bist und schon so manche gefährliche Situation überstanden hast.“

Christine kaute und schluckte.

„Das meiste davon ist übertrieben und der Rest waren ganz dumme Entscheidungen, die mich mein Leben hätten kosten können. Es ist eben noch kein Meister vom Himmel gefallen und Lehrgeld müssen wir alle zahlen. Mach es jedenfalls nicht nach. Ein schönes Leben noch vor sich zu haben und aufgrund einer Fehlentscheidung zu sterben trennt ein Wimpernschlag.“

„Hattest du Angst?“

„Jedes Mal. Die Gewaltspirale bewegt sich immer weiter nach oben. Gleichzeitig nimmt der gegenseitige Respekt in unserer Gesellschaft ab. Die Arbeitsverdichtung nimmt weiter zu. Alle sind nur noch genervt und gestresst. Wieso sind die Deutschen Reiseweltmeister? Die brauchen Urlaub von ihrem Leben. Das ertragen die sonst kaum mehr. Hinzu kommen Migrationsdruck, Globalisierung, Wohnungsnot und demografische Herausforderungen. Dieses Land hat sich sehr verändert. Die Politik liefert keine Antworten. Es wird nur verwaltet, statt zu gestalten.“

„Und wie schaffst du es dann, in diesem Umfeld deinen Job zu machen?“

„Dazu werden wir ausgebildet. Die Angst kann man einem Menschen nicht abtrainieren. Aber sie zu beherrschen und damit umzugehen schon.“

Rita nickte und schaute aus dem Fenster.

„Hast du schon mal einen Kollegen verloren?“

Christine tupfte sich mit einer Serviette Salatsoße aus den Mundwinkeln.

„Nein. Aber meine Planstelle wurde frei, weil mein Vorgänger im Dienst getötet wurde. Jörg wurde bei den Ermittlungen damals lebensgefährlich verletzt und wäre beinahe gestorben.“

„Heftig. Wurde der Täter gefasst?“

Christine schaute aus dem Fenster und erinnerte sich an den ersten Einsatz in der Kriminaldirektion Trier. Eine Bankfiliale erschien vor ihrem geistigen Auge, eine junge blonde Frau, die letzten Minuten ihres kurzen Lebens und ein sehr wütender Mann. Sie dachte an die Geiseln, Blut, Schweiß und Tränen und an das Ende einer traurigen Geschichte.

„Gefasst?“, sinnierte sie. „Wie man es nimmt. Es waren zwei. Anselm Jünger und Anna Nowak. Vor ein paar Jahren in der Koblenzer Innenstadt. Jünger wurde vom SEK während eines missglückten Versuchs, die Bank zu stürmen, angeschossen. Er starb vor meinen Augen in den Armen seiner Freundin. Anna schoss sich danach selbst in den Kopf.“

„Krass“, flüsterte Rita. Und dann fügte sie hinzu: „Moment mal, davon habe ich schon mal gehört.“

Sie richtete sich in ihrem Sitz auf. Aufgeregt sprach sie weiter.

„In der Landespolizeischule gehörte ein solcher Fall zu den Schulungsinhalten. Eine junge Kriminalbeamtin befand sich unter den Geiseln in der Bank und hat alle gerettet.“

Rita fehlten für einen Moment die Worte.

„Sag jetzt nicht, dass du das warst.“

Christine schwieg.

„Mega krass! Dieses Gangsterpärchen wurde mit Bonnie und Clyde verglichen.“

„Sie hatten Angst. So wie die Geiseln und ich. Wir alle hatten Angst.“

Kommissarin Bernard lächelte verlegen, dann startete sie den Motor.

Das Reihenhaus stand in einer ruhigen Straße. Erbaut in den 50er Jahren mit Balkons, die Muttis Wäscheständer und Vatis Bierkiste Platz boten. Mehr Raum wurde nicht benötigt. Wer den Krieg überlebt hatte, war froh darüber, lebte anspruchslos und genoss den bescheidenen Wohlstand. Christine parkte direkt vor dem Eingang. Nach wenigen Schritten über die Gehwegplatten, verlegt zwischen zwei gemähten Rasenstücken, standen sie vor der Haustür. Kommissarin Bernard klingelte. Niemand öffnete. Sie klingelte überall im Haus. In der ersten Etage erschien der grau-gelockte Kopf einer Nachbarin über dem Balkongeländer.

Christine hielt ihr den Dienstausweis entgegen.

„Guten Tag. Wir sind von der Polizei. Bitte öffnen Sie die Tür. Wir möchten zu Herrn Ahlers.“

„Der Horst ist nicht da.“

„Davon würden wir uns gerne selbst überzeugen.“

Frau Nachbarin ergab sich. Der Türöffner summte. Rita drückte die Haustür auf.

Horst Ahlers’ Wohnung lag ebenfalls im ersten Stock. Die Tür war verschlossen. Christine klingelte noch einmal.

Die Nachbarin erschien im Türrahmen gegenüber.

„Ist was passiert?“

Kommissarin Bernard zeigte erneut ihren Dienstausweis und warf einen schnellen Blick auf das Klingelschild.

„Das wissen wir noch nicht. Frau Sturm?“

„Ja.“

„Wann haben Sie Horst Ahlers das letzte Mal gesehen?“

„Gestern Morgen.“

„Und seine Tochter?“

„Ewig nicht. Die lebt doch bei ihrer Mutter.“

„Haben Sie einen Schlüssel zu Herrn Ahlers’ Wohnung?“

„Ja. Aber dürfen Sie da überhaupt rein?“

„Wir haben Grund zu der Annahme, dass Herr Ahlers einem Verbrechen zum Opfer gefallen ist.“

Frau Sturm zögerte, dann fügte sie sich und übergab schließlich den Schlüssel. Rita schloss auf.

Christine lockerte ihre Dienstwaffe, legte ihre Hand auf den Griff und betrat den Flur.

„Du wartest hier“, befahl sie. „Herr Ahlers? Kriminalpolizei. Sind Sie hier?“

Sie warf einen kurzen Blick in die Räume links und rechts des Flurs. Küche, Bad, Schlafzimmer. Als letztes, auf der linken Seite, das Wohnzimmer. Niemand war anwesend.

„Was riecht hier so?“, hörte sie Ritas Stimme aus dem Treppenhaus.

„Putzmittel, vermute ich mal.“

Sie nahm ihre Hand von der Waffe und folgte dem Geruch. Vor dem Wohnzimmer roch es nach Bodenreiniger. An dieser Stelle des Flurs hatte anscheinend ein Teppich gelegen. Nun war er fort. Wo er gelegen hatte, war der Bodenbelag heller und weniger verkratzt.

„Irgendwas stimmt hier nicht. Frau Sturm, lag hier ein Teppich?“

„Ich glaube schon. Ist bereits etwas her, dass ich in Horsts Wohnung war.“

„Ist Ihnen seit gestern irgendetwas aufgefallen oder seltsam vorgekommen?“

„Nein. Aber heute Nacht bin ich aufgewacht. Jemand war im Treppenhaus.“

In Anbetracht der Tatsache, dass in diesem Haus sechs Parteien lebten, sollte das nichts Ungewöhnliches sein. Nach dem bisherigen Ermittlungsstand könnte es dennoch von Bedeutung sein.

„Um welche Uhrzeit war das?“

„So gegen zwei.“

Christine angelte ihr Mobiltelefon hervor, ließ sich mit Hauptkommissar Kluge verbinden und schilderte die Lage. Dann beendete sie das Gespräch.

„Torsten schickt uns jemanden von der Spurensicherung für einen schnellen Luminoltest.“

Christine Bernard. Das Mädchen aus einer anderen Welt

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