Читать книгу Christine Bernard. Das Mädchen aus einer anderen Welt - Vieten Michael E. - Страница 8

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Schrumpfköpfe

„Vielen Dank, dass Sie uns geholfen haben, Frau Sturm. Wenn wir hier fertig sind, sage ich Ihnen Bescheid.“

Frau Sturm verstand und zog sich in ihre Wohnung zurück. Natürlich würde sie das weitere Geschehen durch den Türspion beobachten.

Christine und Rita schauten sich in den Räumen um. Doch es gab auf den ersten Blick nichts zu entdecken, was zu den Ermittlungen hätte beitragen können.

Horst Ahlers lebte offenbar bescheiden. Einfache Möbel, keine teure Unterhaltungselektronik, an den Wänden Bilder aus dem Möbelhaus, günstig, mit klassischen Motiven. Schloss Neuschwanstein, der röhrende Hirsch.

Rita blieb vor einem Holzregal stehen und schaute sich ein ledriges Ding mit Haaren daran an.

„Was ist das hier? Sieht aus wie ein Kopf.“

Christine trat näher.

„Ein Schrumpfkopf. Die Indianer aus Südamerika stellen sie her. Als Trophäe.“

„Das Ding ist echt? Ein echter Kopf?“

„Ja. Die Herstellung und der Handel damit sind in vielen Bundesländern verboten.“

Rita sah sich das gruselige Gebilde genauer an.

„Der Mund ist zugenäht. Und die Augen auch. Wie kriegen sie den Kopf so klein?“

„Sie schneiden die Kopfschwarte auf und entfernen den Schädel und alle Weichteile. Dann kochen sie den Rest aus und füllen heiße Steine oder Sand hinein. Ich weiß es nicht mehr so genau. Rolf Bender hat es mir mal erzählt. Frag ihn, wenn du mehr darüber wissen willst.“

„Ne, danke. Zu was Menschen alles fähig sind …“

„Das stelle ich auch immer wieder erschüttert fest.“

Schnaufend betrat jemand die Wohnung und schleppte einen Alukoffer in den Flur.

Christine begrüßte ihn erstaunt.

„Günther? Was machst du denn hier?“

„Ich war zufällig in der Nähe. Für einen Schnelltest braucht dann keiner hier rauszufahren.“

Der Polizeihauptmeister reichte Rita die Hand und stellte sich vor.

„Hagemann. Spurensicherung.“ Dann schaute er sich um. „Wo?“

Christine zeigte auf die Stelle im Flur. Günther Hagemann kniete sich hin und öffnete seinen Koffer.

„Man riecht es schon. Hier hat jemand ordentlich geputzt. Na, mal sehen.“

Rita sah dem Leiter der Spurensicherung beim Mischen zweier Substanzen zu. Dann füllte er die Flüssigkeit in eine Sprühflasche und benetzte damit den Boden vor sich.

„Wie funktioniert das?“

„Vereinfacht erklärt, reagiert das Gemisch aus Luminol in Natronlauge und einer verdünnten Wasserstoffperoxid-Lösung auf das Hämoglobin in Blut. Schließt bitte mal die Türen.“

In dem abgedunkelten Flur in Horst Ahlers’ Wohnung fluoreszierten plötzlich Schlieren in bläulichem Licht.

„Treffer“, kommentierte er das Geschehen. „Eindeutig Blut und das nicht wenig. Jetzt müssen die Kollegen doch ausrücken.“

Ächzend erhob er sich und zog sein Mobiltelefon hervor.

Kommissarin Bernard telefonierte ebenfalls. Das Gespräch am Apparat von Torsten Kluge nahm Hauptkommissar Rottmann an. Geduldig hörte er zu.

„Wie seid ihr denn in die Wohnung gekommen? Tür eingetreten?“, frotzelte er.

Christine schmunzelte. Jörg hätte sich wahrscheinlich auf diese Weise Zutritt verschafft.

„Etwas eleganter. Die Nachbarin besitzt einen Schlüssel. Wir suchen jetzt in der Wohnung nach Hinweisen darauf, was passiert ist und wo Herr Ahlers sich aufhalten könnte. Vielleicht lebt er ja noch.“

Rita hatte aufmerksam zugehört und wartete das Ende des Telefongesprächs ab.

„Du glaubst, Lina hat ihren Vater gar nicht umgebracht, sondern nur verletzt?“

„Wenn Frau Sturms Zeitangabe stimmt, war jemand in der Wohnung, nachdem Lina von den Kollegen aufgegriffen wurde. Möglicherweise Horst Ahlers. Vielleicht hat ihm jemand geholfen. Vielleicht ist er hier gestorben. Auf jeden Fall wurde er fortgebracht und jemand hat versucht, Spuren zu beseitigen.“

„Ich würde mich für Lina freuen, wenn es so wäre. Dann entginge sie einer Anklage wegen Mordes. Körperverletzung mit Todesfolge könnte auf eine Bewährungsstrafe hinauslaufen.“

Christine verzog zweifelnd ihr Gesicht.

„Selten. Nur in minderschweren Fällen.“

Sie ließ ihr Handy in die Jackentasche gleiten.

„Dann lass uns mal schauen, ob wir Hinweise finden, die meine Theorie stützen.“

Sie suchten den ganzen Nachmittag lang. Sichteten persönliche Unterlagen, schauten sich gefundene Fotos an und wühlten in Horst Ahlers’ Keller in Kartons. Sie kannten jetzt seinen Kontostand, wussten, wer sein Arbeitgeber war, wo er versichert war und wie er als Jugendlicher ausgesehen hatte. Einen Hinweis auf den momentanen Aufenthaltsort oder den Verbringungsort seiner Leiche fanden sie allerdings nicht.

Aber sie fanden Dokumente, die den Tod seiner Frau vor zwei Jahren bescheinigten.

Sie verließen den Keller und stiegen die Stufen im Treppenhaus hinauf.

Christine drückte den Klingelknopf neben Frau Sturms Wohnungstür und wartete, bis sie öffnete.

„Sie sagten doch, Lina lebe bei ihrer Mutter. Aber Beate Ahlers ist bereits vor zwei Jahren gestorben.“

„Ach, das wusste ich gar nicht. Der Horst hat mir davon nichts erzählt. Seltsam. Und Basti?“

„Wer ist Basti?“

„Sebastian Ahlers. Linas älterer Bruder. Den habe ich auch schon lange nicht mehr gesehen.“

„Wir werden mit ihm Kontakt aufnehmen.“

Sie verabschiedeten sich von den Kollegen der Spurensicherung und verließen das Haus.

Rita zog die Autotür auf und ließ sich in den Sitz fallen.

„Unglaublich, was für eine Dynamik ein Fall entwickeln kann.“

„Ja, so ist es meistens. Trotzdem muss man den Überblick behalten und darf weder etwas übersehen, noch sich zu früh auf eine Version festlegen.“

Rita schnallte sich an und warf Christine einen kurzen Blick zu. Dabei grinste sie verschmitzt.

„Kripo ist halt nix für Schrumpfköpfe.“

Kommissarin Bernard lachte laut, nickte zustimmend und startete den Motor.

Der rote Backsteinbau der Kriminaldirektion Trier glühte in der Nachmittagshitze. Gleißend spiegelte sich die tief stehende Sonne im Glas der Fenster. Die Klimaanlage des Renaults hatte die beiden Frauen für die Dauer der Fahrt die Jahreszeit vergessen lassen. Nach dem Öffnen der Türen erinnerte sie die zäh wallende Hitze wieder daran. Der kurze Weg über den Parkplatz zum Haupteingang ließ bereits ihre Kleidung am Körper kleben. Beinahe trotzig nahmen sie dennoch die Treppe. Ihre Wangen glühten, als sie das Büro betraten.

Torsten Kluge schüttelte seinen Kopf.

„Es gibt Wetterlagen, bei denen darf man gerne mal den Aufzug benutzen.“

Die beiden Frauen grinsten.

„Bin gleich wieder da“, verkündete Rita und war schon aus dem Büro raus, bevor Christine sich auf ihrem Bürostuhl niederließ.

„Und, was habt ihr?“, brummte Hauptkommissar Kluge, während er gleichzeitig etwas von seinem Bildschirm ablas.

Kommissarin Bernard berichtete von den Ermittlungen in Horst Ahlers’ Wohnung. Torsten Kluge hörte aufmerksam zu.

„Okay. Dann die Adresse von Sebastian Ahlers ermitteln und ihn befragen. Karin war heute Nachmittag bei Lina Ahlers im Untersuchungsgefängnis. Die verweigert die Aussage. Sie will mit dir sprechen.“

„Lina hat Angst, dass Karin sie in die Psychiatrie einweist.“

„Ich möchte aber, dass Karin bei dem Gespräch dabei ist.“

Kommissarin Bernard nickte. Rita betrat das Büro mit zwei gekühlten Flaschen Mineralwasser in den Händen. Eine stellte sie vor Christine auf dem Schreibtisch ab.

„Oh, ja. Gute Idee. Vielen Dank.“

Die beiden tranken durstig. Zufrieden bemerkte Torsten Kluge die offensichtliche Harmonie zwischen seiner Ermittlerin und der Praktikantin.

„Und, wie war Ihr erster Arbeitstag bisher?“

Rita nahm die Flasche vom Mund.

„Warm, aber interessant.“

Sie zog sich einen Stuhl an Christines Schreibtisch heran und setzte sich neben sie. Dann zeigte ihr die Kommissarin am Bildschirm, wie die Adresse einer Person aus dem Melderegister ermittelt wird.

Sebastian Ahlers war in Trier gemeldet. Südstadt. Nicht weit entfernt von der Wohnung seines Vaters.

Christine schaute auf die kleine Uhr rechts unten auf ihrem Desktop.

„Da fahren wir noch hin. Vielleicht treffen wir ihn an.“

Der Berufsverkehr zwang sie auf Schritttempo herunter. Die Stadt machte Feierabend. Kommissarin Bernards Mobiltelefon klingelte. Sie nahm das Gespräch über die Freisprechanlage an.

„Hallo, Melissa.“

„Lust auf einen Mädelsabend?“

„Ich bin total platt. Habe die letzten beiden Nächte kaum ein Auge zugemacht. Eigentlich müsste ich mal ausschlafen.“

„Lässt Torben dich nicht? Ich rede mit ihm.“

Rita grinste, setze ihre Sonnenbrille auf und schaute aus dem Seitenfenster.

Melissa ließ nicht locker.

„Mir ist langweilig. Ich biete einen spanischen Abend mit kühler Sangria und Paella.“

Jetzt war es Christine, die grinsen musste. Sie liebte Paella.

„Okay. Aber erst muss ich meine neue Kollegin in die Dienststelle zurückfahren.“

„Mitbringen!“, schallte es aus dem Lautsprecher.

Mit einem Seitenblick versicherte sich Kommissarin Bernard Ritas Zustimmung. Die nickte.

„Wir fahren noch zu einer Befragung. Dann kommen wir. Bis später.“

Die ruhige Straße lag im milden Abendlicht. Mehrfamilienhäuser. Spielende Kinder. Wer zu Hause war, hatte Fenster und Türen weit geöffnet. Einmal durchlüften. Es duftete nach gekochtem Essen.

Ein Mann mit freiem Oberkörper stützte sich mit den Unterarmen auf das Sims eines geöffneten Fensters und rauchte. Gelangweilt beobachtete er die beiden Frauen, die auf das Gebäude zuliefen.

Christine klingelte bei „Ahlers“. Niemand öffnete. Sie klingelte noch einmal, trat zwei Schritte zurück und schaute hinauf zu dem Mann am Fenster.

„Guten Abend. Wissen Sie, wann wir Sebastian Ahlers antreffen können?“

Der Mann stieß den Rauch seines letzten Zuges aus und schnippte die Kippe davon.

„Morgen früh. Basti hat Spätschicht.“

Christine bedankte sich. Sie kehrten zum Auto zurück. Die brennende Zigarette qualmte weiter auf dem trockenen Rasen des Vorgartens.

Auch Melissa nutzte die sinkende Temperatur am Abend und hatte Fenster und Türen geöffnet. Der elektrische Türöffner gewährte schnarrend Einlass in den kühlen Hausflur.

Sie begrüßte ihre Gäste in eine luftige Tunika gehüllt. Ihre langen blonden Haare waren noch nass vom Duschen. Sie umarmte Christine und dann Rita und bat beide in die Küche. Der Tisch war bereits für drei gedeckt. Die Sangria war kalt und erfrischend. Ausgehungert fielen Kommissarin Bernard und Rita über die köstliche Paella her.

Sie plauderten über Belanglosigkeiten und wechselten bald in das Wohnzimmer.

Rita gab sich unkompliziert. Ein Beobachter hätte glauben können, die drei Frauen wären seit Jahren befreundet.

Christine fielen einmal kurz die Augen zu, Ritas helles Lachen weckte sie wieder auf.

„Du bist also mit Jörg Rottmann zusammen?“, hörte sie Rita fragen.

Melissa nickte und lächelte vielsagend.

„Ich stehe halt auf große, starke Männer. Und du? Wer liegt neben dir in der Kiste?“

Rita zögerte kurz und wirkte verlegen.

„Im Moment niemand.“

„Ich muss ins Bett“, meldete sich Christine und richtete sich auf dem Sofa auf.

Melissa deutete mit einer einladenden Handbewegung auf ihr Schlafzimmer.

„Ich meine mein eigenes.“

„Nur ein Gläschen noch“, reklamierte Melissa. „Ist gerade so schön mit euch.“

Rita hatte sich bereits erhoben und setzte sich wieder hin, nachdem Christine sich auf dem Sofa erschöpft zurückfallen lassen hatte.

„Na, gut. Ein Glas noch.“

Draußen wurde es dunkel. Melissa zündete Kerzen an und ließ leise Musik laufen. Die Geräusche der Stadt drangen gedämpft zu ihnen vor. Christine fielen die Augen erneut zu. Irgendjemand zog ihr die Schuhe aus. Bereitwillig folgte sie der geflüsterten Anweisung, sich auf dem Sofa auszustrecken. Sie murmelte etwas Unverständliches und lauschte im Halbschlaf noch einige Minuten der Unterhaltung zwischen Rita und Melissa. Dann trug die Erschöpfung sie davon.

Sie hatte so tief geschlafen, man hätte es auch Ohnmacht nennen können. Sie spürte den Stoff einer Bettdecke an ihren Beinen und Armen. Es duftete nach einem fremden Weichspüler. Dann blinzelte sie gegen das Tageslicht und blickte in die braunen Augen von Rita. Sie lag neben ihr und schaute sie an.

Augenblicklich versuchte Christine, sich daran zu erinnern, was geschehen war.

Rita sah ihr diese Bemühungen offenbar an.

„Du bist bei Melissa. Sie hat darauf bestanden, dass wir über Nacht bleiben und jetzt ist sie schon in der Küche und kümmert sich um das Frühstück.“

Langsam sickerte die Erinnerung in Kommissarin Bernards Gedächtnis. Sangria, Paella, bleierne Müdigkeit. Der Rest fehlte.

Sie hob die Bettdecke an und schaute an sich hinunter. Sie trug ihren Slip und ein übergroßes T-Shirt von Melissa. Sie spürte ihren BH auf der Haut.

„Wer hat mich ausgezogen?“

„Du dich selbst. Aber wohl im Halbschlaf. Richtig wach bist du nicht mehr geworden.“

Christine richtete sich auf.

„Mein Gott. Ich kann mich nicht daran erinnern, jemals so müde gewesen zu sein. Wie viel Uhr ist es?“

Die Zeit reichte für eine Katzenwäsche, einige Sprühstöße aus Melissas Deo-Zerstäuber und ein kurzes Frühstück.

Melissa zeigte sich in bester Laune. Sie alberte mit Rita.

„Ab jetzt treffen wir uns mindestens einmal im Monat für einen Mädels-Abend.“

Christine kontrollierte ihr Smartphone auf Nachrichten. Torben hatte ihr um 22:27 Uhr eine gute Nacht gewünscht. Sie schrieb ihm einen Morgengruß und teilte Hauptkommissar Kluge mit, dass sie ein weiteres Mal versuchen würde, Sebastian Ahlers anzutreffen.

„Wir müssen los“, verkündete sie anschließend.

Christine Bernard. Das Mädchen aus einer anderen Welt

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