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Seit ich mich erinnern kann

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Seit ich mich erinnern kann, waren wir auf Reisen. Mein Vater arbeitete für eine internationale Organisation, in deren Auftrag er Regierungen in der ganzen Welt bei komplexen Problemlösungen unterstützte. Seine Aufträge dauerten immer nur wenige Monate und dann zogen wir in das nächste Land, um das nächste komplexe Problem zu lösen. Meine Mutter war Dolmetscherin und half meinen Vater in organisatorischen Dingen, die ihm seine Arbeit wesentlich erleichterten, denn er konnte zwar die kompliziertesten Dinge schnell erfassen und eine Lösung finden, aber sobald es ins Detail ging, war er ziemlich hilflos.

Es gibt nur wenige Geschichten, die ich über die Vergangenheit meiner Eltern weiß, denn ich hatte ja nie gefragt. Aber irgendwann einmal, als ich selbst auf der Suche nach einem Partner war, erzählte mir meine Mutter, wie sie meinem Vater begegnet war. Er hatte sie einfach über den Haufen gerannt, als er völlig in Gedanken versunken auf dem Weg in die nächste Vorlesung war. Der Becher Kaffee in ihrer Hand brachte ihn zum Stoppen, denn er ergoss sich auf seine „wertvollen“ Unterlagen, was jenen übereifrigen Studenten dazu brachte, innezuhalten und dem Verursacher dieser ungeheuren Tat einen wütenden Blick zuzuwerfen. Doch als er in die Augen meiner Mutter sah, da veränderte sich augenblicklich sein ganzes Verhalten. Zuerst war er verdutzt, dann wurde er rot und dann entschuldigte er sich übereifrig für sein Verhalten, was, wie meine Mutter wusste, noch nie vorgekommen war, denn jener Student, der schon etwas älter war, weil er schon mehrere Studiengänge absolviert hatte, war bekannt dafür, dass ihn nichts und niemand außerhalb der Vorlesungen interessierte und jeden, der seinen Weg kreuzte, nur mit Verachtung betrachtete. Er entschuldigte sich immer wieder und fragte sogar, wie er das wiedergutmachen könne. Meine Mutter musste lachen über so viel Ungeschick. Eigentlich wollte sie ihn ebenso mit Verachtung strafen, aber sie erkannte das Außergewöhnliche dieses Augenblicks und verlangte als Wiedergutmachung eine Einladung ins Café, was er auch prompt akzeptierte. Wie es so seine Art war, musste er erst lange über einen geeigneten Zeitpunkt nachdenken, denn seine Vorlesung würde gleich beginnen und eigentlich wusste er im Grunde nicht wann, denn eigentlich hatte er nie Zeit. Meine Mutter wollte sofort ins Café gehen. Sie wollte wissen, wie ernst es ihm war, sie wollte wissen, ob er bereit war, für sie alles stehen und liegen zu lassen. Wieder stockte er. Er schloss die Augen, so als ob er alle Komponenten dieser verzwickten Situation einzeln bewerten und gegeneinander abwägen wollte. Dann öffnete er seine Augen, sah sie an und sein Blick wurde weich und alles andere schien seine Wichtigkeit verloren zu haben. Ohne ein weiteres Wort nahm er sie bei der Hand und ging mit ihr in das schönste Café der Stadt. Meine Mutter sagte, dass in jenem Café ein Dialog zwischen ihnen begann, der ihr ganzes Leben andauerte.

Dieser Blick, der weich wurde, wenn er meine Mutter ansah, den habe ich immer wieder beobachtet. Und ich habe nie gesehen, dass mein Vater je eine andere Frau so angesehen hatte. Er interessierte sich im Grunde nicht für Menschen. Er unterhielt sich nur, wenn es für ihn interessant war und dann war es egal, ob es ein Mann oder eine Frau war. Meine Mutter hatte keinen Grund zur Eifersucht, aber ich wusste, dass sie immer etwas unruhig wurde, wenn eine Frau ein langes Gespräch mit meinem Vater führte. Vielleicht hatte sie ein wenig Sorge, dass aus einem guten Gespräch mehr werden könnte, denn er war einzig und allein über den Intellekt zu begeistern. Aber das war selten, denn mein Vater hatte über zwanzig Jahre studiert, verschiedene Fachrichtungen, mehrere Abschlüsse und Habilitationen. Sein Traum war es, ein Universalgelehrter zu werden.

Als meine Eltern sich trafen, da hatte er erst die Hälfte seiner Studien absolviert. Von da an blieben sie immer zusammen. Meine Mutter studierte Sprachen und ging mit ihm an jede Universität, die er für wichtig erachtete. Nach ihrem Abschluss arbeitete sie als Dolmetscherin, während er weiterhin studierte. Die Zeiten, in denen sie getrennt waren, empfanden beide als verlorene Zeit.

Irgendwann war es auch für meinen Vater an der Zeit, sich einen Lehrstuhl oder irgendeine Anstellung zu suchen. Doch je umfassender er gebildet war, umso schwieriger wurde es, etwas Passendes zu finden. Obwohl die Angebote vielfältig waren, konnte er sich nicht für eines entscheiden, denn er wollte sich nicht nur auf ein Fachgebiet spezialisieren. Es gab sogar Überlegungen, einen speziellen Lehrstuhl für ihn einzurichten, aber auch das sagte ihm nicht zu. Er taugte nicht zum Lehren, er wollte lernen. Meine Mutter meinte, dass er nun genug Theorie hätte und er auch im beruflichen Leben noch genug lernen könnte, wenn er sich denn endlich den Herausforderungen der Welt stellen würde. Dieser Gedanke faszinierte meinen Vater. „Die Herausforderungen der Welt!“ Und wieder dachte er lange darüber nach, welche Herausforderungen denn für ihn geeignet wären. Da nahm meine Mutter ihn an der Hand und mit auf ihre Reisen, in denen sie für internationale Regierungen dolmetschte. Zunächst hörte er nur zu, um welche Probleme es denn überhaupt ging, doch es dauerte nicht lange, da fing sein gelangweilter Intellekt an, nach Lösungen zu suchen. Zuerst nur zur Übung, doch diese Ansätze waren so brillant, dass meine Mutter auf einem Stehempfang am Rande einer dieser endlosen Konferenzen den Beteiligten davon erzählte. Doch zu ihrer Enttäuschung traf sie nur auf Ablehnung. Irgendwann wurde ihr klar, warum. Die Vorschläge waren zu außergewöhnlich, um auf einem Stehempfang und aus dem Mund einer einfachen Dolmetscherin kommend, überhaupt akzeptiert zu werden. Man wollte diese Worte nicht von ihr hören. Man wollte Smalltalk. Meine Mutter begriff allmählich, dass die Präsentation, der äußere Rahmen, der wirtschaftliche und gesellschaftliche Hintergrund eine fast noch größere Rolle spielten, als der Lösungsansatz selbst, und: Was nichts kostet, ist nichts wert! Es bedurfte einer international anerkannten Organisation, um meinem Vater den Rahmen zu geben, den er für die Umsetzung seiner Fähigkeiten brauchte. Aber alle Firmen und Organisationen winkten ab. Mein Vater hatte kein Spezialgebiet und er weigerte sich beharrlich, sich mit nur einem Gebiet zu begnügen. In einer Welt, die von Spezialisten beherrscht wird, wird ein breit gefächertes Allgemeinwissen verachtet, so als ob man nur an der Oberfläche gekratzt hätte. Sie hätten reich werden können, aber mein Vater zog es vor, ein weiteres Studium aufzunehmen. Eines Tages wurde meine Mutter auf einer Konferenz in der Schweiz von einem geheimnisvollen Mann angesprochen. Er hatte von den Bemühungen meiner Eltern erfahren und sagte, dass seine Organisation, die im Geheimen arbeite und nicht in der Öffentlichkeit erscheine, einen Mann wie meinen Vater suche. Denn es ist von großer Wichtigkeit, dass ihre Aktivitäten möglichst unauffällig abliefen. Meine Eltern waren überhaupt nicht begeistert. Sie fürchteten schon, irgendeinem Geheimdienst in die Falle zu gehen. Es stellte sich heraus, dass die Organisation ein Zusammenschluss von mächtigen Menschen aus der ganzen Welt war, die ungeachtet ihrer religiösen oder ethnischen Unterschiede, einen Beitrag zur Verbesserung der Welt leisten wollten. Der entscheidende Vorteil ist ihre Unabhängigkeit von der Politik. Die Mitglieder sind rein privat und daher von keiner Regierung abhängig. Durch ihre finanziellen Möglichkeiten und den damit verbundenen Beziehungen zu den Mächtigen der Welt, ist es ihnen möglich, Hilfe direkt dort hinzubringen, wo sie ihrer Meinung nach erforderlich ist. Diese Männer und Frauen unterstützen auch die bekannten Hilfsorganisationen mit viel Geld, aber sie haben erkannt, dass die Größe einer Organisation auch oft ein großes Hindernis ist und die damit verbundene Bürokratie Unsummen verschlingt.

Mein Vater sollte nun wie eine Art Unternehmensberater, aber sehr diskret, ganz konkrete Probleme in den Ländern analysieren und deren Lösung ausarbeiten. Das war genau das, was meinem Vater zusagte. Meine Mutter sollte als seine Dolmetscherin mitarbeiten, so dass sie immer gemeinsam arbeiten konnten. Und zu diesem Zeitpunkt kam ich, Stella, in ihr Leben. Meine Mutter hatte die Hoffnung auf ein Kind schon aufgegeben und nun, da sie ein unstetes Leben beginnen würden, da wurden sie zu einer Familie. Ungünstiger hätte der Zeitpunkt nicht sein können und auch die Organisation war nicht begeistert, denn meine Eltern sollten ja beide tätig werden. Auch mein Vater war sehr skeptisch. Zu zweit waren sie ein eingespieltes Team, aber zu dritt? Und dann konnte er sich überhaupt nicht vorstellen, was er denn mit so einem kleinen Wesen anfangen sollte. Alle diese Bedenken konnten die Freude meiner Mutter nicht vertreiben. Sie betrachtete mich als ein Geschenk des Lebens. Dieses Glück übertrug sich wohl auf meinen Vater, denn es dauerte nicht lange, da hatte er sich in mich verliebt, wie damals in meine Mutter und ich wurde Teil ihres Dialogs.

So lange ich mich erinnern kann, waren wir auf Reisen. Irgendwo auf der Welt. Ich weiß, ich habe die Pyramiden gesehen, sah aus einem Hotelfenster den Zuckerhut, bin auf der Großen Mauer in China gelaufen, habe das Taj Mahal betrachtet. Ich weiß, ich habe alle sieben Weltwunder gesehen, aber ich kann mich nicht daran erinnern. Wenn ich zurückschaue, dann sehe ich nur meine Eltern, dann sehe ich nur uns drei. Sonst nichts. Diese Einheit inmitten einer fremden Welt war das Wichtigste für mich. Meine Eltern waren mein Zuhause und ich hatte immer Angst vor dem Augenblick, da ich mein Zuhause verlassen musste. Wir waren eigentlich immer zusammen. Als ich noch klein war, da nahm meine Mutter mich überall mit hin, später auch mein Vater. Sie ließen mich nie alleine. Eine Schule habe ich nie besucht. Es war organisatorisch nicht möglich, da wir ja als Touristen reisten und meine Eltern hielten das auch nicht für wichtig, denn sie waren der Meinung, dass sie mir alles Relevante selbst beibringen könnten. Je älter ich wurde, umso größer wurde auch mein Anteil an unserer Aufgabe. Schon früh zeigte sich, dass ich Sprachen ebenso schnell lernen konnte, wie meine Mutter. Meist klappte die Kommunikation auf Englisch, Spanisch, Französisch oder Portugiesisch. Diese Sprachen beherrschte meine Mutter perfekt. Es kam aber auch oft vor, dass unsere Auftraggeber sich untereinander in ihrer eigenen Sprache unterhielten, um ungestört Informationen auszutauschen, die wir nicht verstehen sollten. Ich hatte als Kind die Fähigkeit, ohne dass ich diese Sprachen kannte, aus Schlüsselwörtern sehr schnell zu erkennen, ob unsere Partner ein wirkliches Interesse an unserer Arbeit hatten oder nicht. Das war sehr wichtig für das weitere Vorgehen. Deshalb nahm auch mein Vater mich gerne zu ersten Sondierungsgesprächen mit. Ich musste dann entweder unter dem Tisch mit irgendwelchen Spielsachen spielen oder sollte still am Tisch sitzen und malen. Tatsächlich aber hörte ich sehr genau auf den Klang der Sprache und berichtete ihm hinterher von meinen Beobachtungen. Manchmal reisten wir dann bald wieder ab, weil kein wirkliches Interesse an einer Lösung vorhanden war. Leider verlor ich diese Gabe wieder. Je älter ich wurde und je mehr ich lernte auf meinen Verstand zu achten, umso mehr verlor ich meine Intuition. Dafür wurde ich zu einer wichtigen Ratgeberin meines Vaters. Er teilte all sein Wissen mit mir und liebte es, in einer Art Wettstreit um die beste Lösung zu ringen. Dafür zog sich jeder für eine Weile zurück, dachte über die Gegebenheiten nach und suchte nach einer optimalen Lösung. Natürlich hatte er den Vorteil einer ungeheuren Erfahrung. Aber er schätze an mir meine oft unkonventionellen Lösungsvorschläge, die sich nicht immer umsetzen ließen, die aber seine rein logische Vorgehensweise oft über den Haufen schmiss. Er brauchte mich nicht für seine Arbeit, aber er liebte die Gedankenspiele, die wir bis ins Absurde treiben konnten. Meine Mutter amüsierte sich immer köstlich, wenn er für einen Augenblick nicht weiterwusste. Ich lernte ungeheuer schnell und genauso schnell ließ ich auch meinen Gedanken freien Lauf. Aber mein Vater war im Grunde nicht zu schlagen, dafür hatte er einfach zu viel Erfahrung.

So hätte es ewig weitergehen können und von mir aus hätte sich auch nichts ändern müssen, aber meine Eltern waren irgendwann der Ansicht, dass ich ein Studium aufnehmen sollte.

Adriana

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