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Studium

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Zum Studienbeginn war ich nicht allein. Meine Eltern hatten sich extra Zeit genommen, um mir die Orientierung zu erleichtern. Besonders mein Vater studierte das Vorlesungsangebot ausführlich und machte Vorschläge, was ich wann und wo alles hören könnte. Seine Augen leuchteten und für ein paar Tage überlegte er ernsthaft, seine Arbeit aufzugeben und sich ebenfalls hier einzuschreiben. Ich hätte ihn in diesen Plänen ermutigen sollen, dann hätte ich ihn glücklich gemacht und mir viel Arbeit erspart.

Meine Mutter überarbeitete seinen Stundenplan, in dem sie zwei Drittel herausstrich und mit mir gemeinsam überlegte, was wirklich interessant und wichtig für den Anfang sei. Dank ihrer Gabe, das Wesentliche zu erkennen, wurde es ein wirklich gutes erstes Semester.

Solange meine Eltern bei mir waren, war es leicht für mich, jeden Tag in diese wieder für mich fremde Welt zu gehen. Sie waren ja in meiner Nähe, ich war nicht allein. Erst als sie wieder auf Reisen gingen und ich ganz allein unter so vielen mir unbekannten Menschen war und auch zu Hause niemand vertrautes mehr war, da wurde es schwer, sehr schwer. Die Briefe von Milena und Francesco waren der einzige Halt in dieser Zeit. Meine Mutter hatte mich ermutigt, dieses Mal selbst auf meine Kommilitonen zuzugehen und Freundschaften zu schließen, was ich auch durchaus vorhatte, aber an einer Universität ist es leichter, unerkannt und allein zu bleiben als Freunde zu finden. Alle schienen schon Freunde und Bekannte zu haben, alle waren so mit ihren Studien beschäftigt, keiner schien auf mich gewartet zu haben. Es gab auch keinen Schulleiter, der sich um mich kümmern würde. Oh, wie sehr fehlte mir Milena. Sie hätte bestimmt leicht Freunde gefunden und mich einfach mitgenommen. Mit dieser Situation war ich völlig überfordert. Ich tat, was mir leichter fiel, ich versuchte zuerst mit den Vorlesungen klar zu kommen und pflegte meine Brieffreundschaften ausgiebig. So viele Briefe wie in dieser Zeit habe ich später nie wieder geschrieben. Und jeder Tag, an dem kein Brief in meinem Briefkasten lag, war ein verlorener Tag.

Irgendwann trat aus dieser unbekannten Masse eine junge Frau auf mich zu und fing eine Unterhaltung über die eben gehörte Vorlesung an. Ich weiß nicht mehr, über was wir damals gesprochen haben, ich weiß nur noch, dass ich sehr beeindruckt war, von der Art und Weise, wie sie sprach, wie sie sich ausdrücken konnte und mit welcher Selbstverständlichkeit sie alles, was der Professor eben noch als der Weisheit letzter Schluss gepriesen hatte, in Frage stellte. Sie sprach das aus, was auch schon während der Vorlesung meine Gedanken beschäftigt hatte, was ich aber beiseite geschoben hatte, weil ich mich auf die Aufnahme und spätere Wiedergabe des Vorlesungsinhaltes konzentrieren wollte. Jetzt stand da eine junge Frau vor mir, die meine Gedanken aussprach und ich war nicht in der Lage so zu antworten, wie ich es gerne getan hätte. Darauf war ich einfach nicht vorbereitet gewesen, damit hatte ich nicht mehr gerechnet. Unsere erste Unterhaltung war entsprechend einseitig. Als sie merkte, dass von mir nicht mehr als ein paar einsilbige Zustimmungen kamen, beendete sie unsere Unterhaltung so schnell, wie sie sie begonnen hatte und verschwand wieder in der Masse von jungen Leuten auf dem Campus.

Von diesem Augenblick an beschäftigte diese junge Frau meine Gedanken. Und die nächsten Tage suchte ich vergeblich nach ihr. Erst eine Woche später in der gleichen Vorlesung sah ich sie wieder. Sie war inmitten einer Gruppe von Studenten, die heftig über irgendetwas diskutierten und bemerkte mich nicht. Nach Ende der Vorlesung ging ich zu ihr hin, tat so, als ob sie nur auf meine Ausführungen zu diesem Thema gewartet hätte und gab meine kritischen Gedanken zum Besten. Diesmal war sie überrascht, ihre Augen blitzten freudig auf und schon führte sie mit mir eine der interessantesten Diskussionen über dieses Thema. Ich weiß nicht mehr, wie lange wir miteinander sprachen. Wir blieben nicht bei diesem einen Thema. Unsere Gedanken machten wahre Sprünge und streiften schon bei diesem zweiten Gespräch fast alle Bereiche, die man sich vorstellen kann. Irgendwann sah sie auf ihre Uhr, strahlte mich an und sagte:

„Das müssen wir unbedingt fortsetzen. Gib mir deine Telefonnummer, ich rufe dich an.“

Sie zückte ihr Notizbuch, schrieb meine Nummer hinein und verschwand wieder so schnell, dass ich noch nicht einmal nach ihrem Namen fragen konnte. Mein Herz hüpfte vor Freude, meine Gedanken überschlugen sich weiter, als ob dieses Gespräch nie Enden wollte. Erst Stunden danach wurde ich wieder ruhiger. Mit einem Lächeln ging ich nun jeden Tag zur Uni, immer in der Hoffnung, sie wieder zu treffen und wieder einen so wunderbaren Gedankenaustausch zu erleben. Nach drei Tagen wurde mir klar, dass ich sie wohl erst wieder nach genau einer Woche sehen würde, in dieser einen Vorlesung, die eigentlich gar nicht wirklich interessant war, die nun nur wegen ihr zum Höhepunkt meiner Woche wurde.

Sie kam gleich auf mich zu, umarmte mich, gab mir rechts und links einen angedeuteten Kuss auf die Wangen, so, als ob wir uns schon seit ewigen Zeiten kennen würden. Es war so selbstverständlich. Es war so leicht, so richtig. Es war tatsächlich so, als ob wir uns schon immer gekannt hätten. Wir unterhielten uns, als ob wir unsere Unterhaltung nie unterbrochen hätten. Während der Vorlesung saßen wir nebeneinander und flüsterten uns unsere Kommentare zu. Bei jeder Übereinstimmung mussten wir kichern wie die Teenager. Das fiel auf, auch dem Professor, der um unsere Aufmerksamkeit bat. Nach der Vorlesung verfielen wir wieder in diesen Rausch der Wörter, der Argumente, der gedanklichen Höhenflüge. Wieder war sie es, die Abbrechen musste, wieder versprach sie, mich anzurufen. Diesmal konnte ich noch nach ihrem Namen fragen.

„Greta“, rief sie, als sie schon in der Masse der Studenten verschwand. „Greta Gustafsson.“

Noch am selben Nachmittag rief sie tatsächlich an. Sie kam zu mir. Wir unterhielten uns sehr, sehr lange. Es gab so viel, was wir uns zu sagen hatten. Sie wollte alles von mir wissen und sie erzählte von sich. Sie war die jüngste Schwester von 5 Brüdern. Ihr Vater war schwedischer Diplomat gewesen, nun im Ruhestand. Ihre Mutter war ebenfalls im diplomatischen Dienst gewesen, hatte aber aufgrund der großen Kinderschar ihren Beruf aufgegeben.

„Weißt du, mein Vater sagt immer mit einem Lächeln, dass meine Mutter erst Ruhe gegeben habe, nach dem sie eine Tochter geboren hatte. Erst nach meiner Geburt war nicht mehr mit weiteren Kindern zu rechen. Dafür sei er mir ewig dankbar. Natürlich liebe er alle seine Kinder, aber irgendwann verliere man halt den Überblick und ein halbes Dutzend könne er gerade noch auseinander halten.“ Greta lächelte verschmitzt. „So ist er, mein Papa, er tut immer so, als ob die Kinder allein die Angelegenheit meiner Mutter wären, aber manchmal glaube ich, er kennt jeden einzelnen von uns besser als meine Mutter uns kennt. Er hat uns allen geholfen, unseren Weg zu finden. Er hat jeden unterstützt, wo es ging und meine Brüder kommen noch immer zu ihm, wenn sie Rat brauchen. Ich natürlich auch. Aber ich brauche ihn nicht so oft. Ich weiß selbst, was gut für mich ist.“

Daran zweifelte ich nicht. Greta wusste, was sie wollte. Sie wollte Journalistin werden. Deshalb studierte sie auch an dieser Universität, weil sie hier in sehr viele Bereiche hineinhören konnte, weil sie hier einen Abschluss machen konnte, und gleichzeitig noch in anderen Studiengängen Vorlesungen hören konnte, die sie zwar interessierten, in denen sie aber keine Prüfung ablegen wollte.

„So genau interessiert mich das alles nicht. Es reicht mir, es einmal gehört zu haben, zu wissen, wo ich notfalls nachschlagen kann. Mir ist es wichtig, ein möglichst breites Spektrum kennen zu lernen, damit ich später in jedem Bereich journalistisch tätig werden kann. Natürlich brauche ich ein Diplom. Ohne Titel ist man nichts in dieser Welt, aber er muss ohne großen Aufwand erreichbar sein.“

Diese Art zu denken gefiel mir und ich wünschte (und wünsche es manchmal noch heute), ich hätte so klare Vorstellungen von der Welt und wie ich sie mir einrichten könnte.

Wir hatten viel gemeinsam. Auch sie hatte ihre Kindheit in verschiedenen Ländern verbracht, allerdings an internationalen Schulen. Auch sie liebte es, mit ihrem Vater zu diskutieren, allerdings hatte sie durch ihre Brüder noch mehr Auswahl an Gesprächspartnern gehabt. Auch sie war die Lieblingstochter ihrer Mutter, allerdings nicht ihr Lieblingskind, da war ich nun im Vorteil, so ganz ohne Geschwister.

Am nächsten Tag kam sie wieder. Auch am Übernächsten. Wir redeten und redeten und nie wurde es langweilig. Von mir aus hätte es ewig so weiter gehen können. Plötzlich wurde Greta ruhig. Sie sah mich lange schweigend an. Sie musterte mich von oben bis unten. Das machte mich nervös. Meine Unsicherheit, die ich für ein paar Tage vergessen hatte, kam wieder.

„Was ist?“

Sie schüttelte mit dem Kopf und hob ihre Schultern. „Ich weiß es nicht. Es ist besser, wenn ich jetzt gehe.“

So ließ sie mich zurück. Eine schlaflose Nacht war die Folge. Ich wälzte mich in meinem Bett und suchte verzweifelt nach einem Fehler, den ich gemacht hatte, nach einem falschen Wort, das diese plötzliche Veränderung in ihrem Verhalten verursacht haben könnte. Ich hatte Angst, sie zu verlieren. Angst, wieder alleine zu sein. Angst, alles nur geträumt zu haben. Angst, mich in ihr getäuscht zu haben. Angst…

Irgendwann schlief ich dann doch wohl ein, um kurz darauf von einem Sturmläuten an meiner Wohnungstür geweckt zu werden. Greta kam herein. Auch sie ängstlich in ihrem Blick.

„Ich muss dich etwas fragen. Etwas, das alles verändern könnte.“

„Frag“, sagte ich, glücklich, sie hier zu haben.

Nach einigem Zögern sagte sie unsicher: “Was empfindest du für mich?“

Darauf wusste ich so schnell keine Antwort. Was sollte ich denn empfinden? Was erwartete sie von mir?

„Ich weiß es nicht.“

„Hast du so etwas schon einmal erlebt?“

„Was meinst du?“ Ich verstand sie wirklich nicht.

„Also gut, dann anders herum.“ Sie holte tief Luft und begann zu sprechen. „Gestern ist mir plötzlich klar geworden, dass ich mich zu dir hingezogen fühle, wie ich es noch nie bei einer anderen Frau erlebt habe. Es ist, als ob ich in dich verliebt bin. Das hat mich verwirrt. Deshalb musste ich gestern gehen. Ich wollte mir erst über meine Gefühle im Klaren werden. Die ganze Nacht habe ich versucht zu ergründen, was mit mir passiert ist.“

Wieder sah sie mich ängstlich an. „Ich bin tatsächlich in dich verliebt!“

Meine Gedanken und Gefühle gerieten durcheinander. Ich wusste nicht mehr, was ich denken und fühlen sollte. Verliebt! War ich verliebt? Was war dann mit Francesco? Ich dachte ich wäre in ihn verliebt. Hatte ich mich geirrt? Ich fühlte mich auch zu ihr hingezogen. Die Nacht zuvor hatte ich gelitten wie eine unglücklich Verliebte, aber ich hatte es nicht so empfunden. Greta war erfahrener als ich. Sie würde schon wissen, was da mit uns passierte.

„Was ist mir dir?“ fragte sie immer noch so unsicher wie zuvor.

„Ich weiß nicht…“ Mehr konnte ich nicht sagen.

„Gut, dann gehe ich noch einen Schritt weiter. Ich habe mich noch nie in eine Frau verliebt und das hatte ich auch nie vor, dafür liebe ich die Männer zu sehr. Und nun du mit deinen wunderbaren Gedankensprüngen, mit deiner Offenheit, deinem ansteckenden Lachen. In dich habe ich mich verliebt, daran besteht kein Zweifel. Irgendwann in der Nacht habe ich aber den Unterschied entdeckt. Wenn ich mich sonst in einen Mann verliebe (darin bin ich erfahren), dann fühle ich mich auch körperlich zu ihm hingezogen. Und das fehlt dieses Mal völlig. Ich bin zwar in dich verliebt, aber ich will nicht mir dir ins Bett.“ Sie atmete aus. „So, jetzt ist es raus. Und jetzt frage ich dich noch einmal: Was ist mit dir? Was empfindest du für mich? Wenn deine Gefühle weitergehen als meine, dann haben wir ein Problem.“

Ich versuchte meine Gefühle zu ordnen, wenn man so etwas überhaupt kann. Dann versuchte ich, meine Gedanken soweit zu strukturieren, dass wenigstens ein ordentlicher Satz meinen Mund verlassen konnte. Das dauerte aber eine Weile. Irgendwann arbeitete mein Verstand wieder logisch und ich konnte ihr antworten.

„Also, ich fühle mich auch von dir angezogen. Ich habe so etwas auch noch nicht erlebt. Nicht in dieser Intensität. Aber ich wäre nicht darauf gekommen, dass es Liebe sein könnte. Wenn es stimmt, was du sagst, dass es Liebe ist zwischen uns beiden, dann ist es eine platonische Liebe. - Ich will auch nicht mit dir ins Bett.“

Greta fing an zu lachen. Dann umarmte sie mich und hielt mich lange, lange fest. Ich versuchte zu spüren, ob ich vorhin die Wahrheit gesagt hatte oder ob meine Gefühle vielleicht doch in eine andere Richtung gingen. Und ich glaube, Greta tat das gleiche. Es blieb dabei. Es war eine rein platonische Liebe. Da wollte kein Kuss die Lippen finden und auch sonst tat sich nichts in meinem Körper. Da war nur eine unendliche Erleichterung und Freude über unsere wieder gewonnene Freundschaft, die nun das Fundament der Liebe hatte. Wir konnten unsere Diskussionen fortführen.

Adriana

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