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Maturafeier
ОглавлениеNach den Winterferien kam ich anders in die Schule zurück. Diese gefühlte Trennung von meinen Eltern hatte mich zwar innerlich einsamer gemacht, doch zugleich war es auch eine Art Befreiung gewesen. Ich war nun offener für das Leben außerhalb meiner Familie. Wenn man allein ist, dann braucht man andere Menschen, um dieses Alleinsein zu verdrängen. Solange ich mit meinen Eltern auf der Insel der Glückseligkeit meiner Kindheit gewesen war, solange hatte ich niemand anderen gebraucht und folglich auch alle anderen abgelehnt. Nun war ich allein, nun brauchte ich jemand anderen, nun war ich bereit, mich wirklich auf jemand anderen einzulassen. Und dieser Jemand war Milena. Sie hatte mir ihre Freundschaft von Anfang an bedingungslos angeboten. Und ich hatte sie genommen, ohne ihr dafür die meine zu geben. Ich hatte sie ja nicht gewollt! Ich war ja quasi gezwungen worden, sie anzunehmen! Von außen betrachtet, veränderte sich nichts. Es war nur eine Nuance, die vielleicht nicht einmal Milena bewusst wahrnahm. Ich hörte ihr anders zu und ich fing an, Fragen zu stellen. Fragen, die ich vorher nicht gestellt hätte, weil es mich nicht interessiert hatte. Nun wollte ich mehr über sie, ihre Familie, ihren Glauben wissen. Ich wollte sie verstehen, was mir aber nicht wirklich gelungen ist, weil auch sie sehr verschlossen war. Unsere Freundschaft erreichte dennoch eine Tiefe, wie ich sie später nur noch einmal in meinem Leben erfahren sollte, wir schufen ein Fundament, das fester war, als ich mir damals vorstellen konnte.
Nun war ich auch bereit, mich auf meine Mitschüler einzulassen. Auch hier öffnete ich mich und hörte zu, versuchte zu verstehen. Allmählich verloren sie ihre Abneigung gegen mich, aber ich wurde trotzdem nie ein Teil ihrer Gemeinschaft, vielleicht, weil ich erst sehr spät zu ihnen kam, weil nur wenig Zeit zur Verfügung stand, wir nur wenige gemeinsame Erlebnisse hatten. Vielleicht aber auch, weil man den ersten Eindruck nie mehr loswird, weil die anderen nicht wirklich bereit sind, ihr Urteil über dich zu ändern. Und so blieb es für mich schwierig, dieses eine Jahr in jener Schule, das doch ganz entscheidend auf mein weiteres Leben wirkte.
Milena war so ganz anders als ich. Sie konnte scheinbar mit allem und jedem klarkommen. Obwohl sie im Grunde genauso ernsthaft, ja fast altklug war wie ich, hatte sie doch eine Leichtigkeit, die mir damals noch fremd war. Wenn irgendwelche Feste oder Veranstaltungen innerhalb der Schule oder des Internats waren, ging sie selbstverständlich hin, um sich zu amüsieren, zu tanzen, zu lachen, einfach dabei zu sein. Sie flirtete mit den jungen Männern, als ob es das einfachste auf der Welt wäre und war doch absolut keusch, wenn einer der Kandidaten mehr als einen Kuss von ihr wollte. Ich dagegen saß meist nur herum und beobachtete, wie man sich in diesem Alter in Bezug auf das andere Geschlecht verhält. Niemand hat je mit mir getanzt, niemand hat je in irgendeiner Form Kontakt zu mir aufgenommen. Diese Veranstaltungen verließ ich immer früh, zog mich in mein Zimmer zurück und vergrub mich in meine Bücher, was für den schulischen Erfolg von Vorteil war.
Als das Schuljahr sich endlich dem lang ersehnten Ende zuneigte, da war ich ruhig und gefasst. Ich war gut vorbereitet und ein solches Desaster wie im Vorjahr war nicht zu erwarten. Milena bestand mit Auszeichnung und hatte damit ihr Ziel, ein weiteres Stipendium, erreicht. Meine Noten waren gut genug, um an einer Universität aufgenommen zu werden.
Ich weiß nicht, wer von uns beiden glücklicher war. Von ihr hatte man ja im Grunde nichts Anderes erwartet und vielleicht war es bei ihr eher eine Erleichterung, die Erwartungen (auch ihre eigenen) erfüllt zu haben, denn eine wirkliche Freude. Aber ich glaube, ihre Freude richtete sich mehr auf das, was vor ihr lag. Sie konnte nun den Weg beschreiten, den sie sich immer gewünscht hatte. Ihr stand die Welt offen! Sie konnte alles erreichen, was sie wollte. Was musste das für ein erhebendes Gefühl sein!
Mir standen nun auch viele Wege offen, aber ich wusste damit zunächst nichts anzufangen. Es war immer klar gewesen, dass ich die Arbeit meiner Eltern weiterführen wollte und dafür würde ich ein eben so umfassendes Studium, wie das meines Vaters benötigen. Meine Eltern, die sehr stolz auf mich waren, überlegten und diskutierten daher ausführlich darüber, womit ich denn nun beginnen sollte. Mein Vater schlug das Ingenieurswesen vor, meine Mutter meinte, dass die Betriebswirtschaft auch gut als Einstieg wäre. Mich interessierte beides irgendwie und irgendwie auch nicht. So genau wollte ich diese Dinge alle nicht wissen. Jetzt, da ich gelernt hatte, wie man in einer Schule lernt, wie ausführlich alles behandelt wurde, was man alles wissen sollte, was mich aber gar nicht interessierte, da bekam ich eine Ahnung davon, dass mir das Studium wohl auch keine so große Freude bereiten würde, wie einst meinem Vater. Ich versuchte es ein letztes Mal und schlug vor, dass ich doch als seine Assistentin auch ohne Studium weiter arbeiten könne. Denn im Grunde beherrschte ich die Arbeit, die mir Spaß machte. Das war aber in den Augen meiner Eltern ganz unmöglich. Sie hatten Recht. Ich brauchte eine fundierte Ausbildung, denn das Ende ihrer Tätigkeit war schon absehbar und was würde dann aus mir werden? Da ich nun überhaupt nicht wusste, was ich gerne studieren würde, einigten wir uns auf eine Universität in der Schweiz, in der viele verschiedene Studiengänge angeboten wurden, so dass ich in alles mal reinschnuppern konnte. Gleichzeitig wollten meine Eltern ihre Arbeit etwas einschränken, damit sie öfter in meiner Nähe sein konnten. Sie suchten ein Haus, das zu ihrem Alterswohnsitz werden sollte und von dem aus sie nur noch zu wirklich interessanten Aufträgen aufbrechen wollten.
Zur bestandenen Matura gehört auch eine große Abschlussfeier. Ich hatte keine große Lust darauf, aber sowohl Milena als auch meine Eltern, die zwar eingeladen waren, aber nicht kommen konnten, bestanden darauf, dass ich hingehe. Es war anfangs sehr feierlich, mit einer wirklich guten Rede von Dr. Hofmann, in der er diesen Jahrgang ausführlich und treffend charakterisierte. Jeder bekam sein Zeugnis persönlich überreicht und die außergewöhnlichen Leistungen wurden besonders gewürdigt. Ich sehe noch die Tränen in den Augen von Milenas´ Eltern, als ihre Tochter als Jahrgangsbeste ausgezeichnet wurde. An jenem Abend lernte ich ihre Familie kennen und sie gaben mir gleich das Gefühl, dass ich jederzeit willkommen sei.
Nach dem offiziellen Teil wurde es lauter und fröhlicher. Alle waren ausgelassen und glücklich über die bestandenen Prüfungen, über das Ende der Schulzeit, über die Möglichkeiten, die nun vor ihnen lagen. An diesem Abend war der Saal voll von Lebensträumen, die sich nicht erfüllen würden, die zu träumen aber einen Rauschzustand erzeugten, der leicht und beschwingt macht. Ich saß da und beobachtete meine Mitschüler in ihrer Ekstase, die ich als kindisch verachtete. Mir grauste vor meiner Zukunft. Mir wurde nur allzu klar, dass ich keinen Lebenstraum mehr hatte, dass ich eine traumhafte Vergangenheit hatte, die aber für die Zukunft nicht taugte. Ihr traumhaftes Leben sollte nun beginnen, meines war schon längst zu Ende. Was sollte jetzt noch kommen?
Versunken in meinem Selbstmitleid beobachtete ich einen jungen Mann, der mich beobachtete. Es war mir aufgefallen, dass er sich nach mir erkundigt hatte und trotzdem seinen Blick immer wieder in meine Richtung ging. Was sollte das? Sicher hatte man ihm meinen schlechten Ruf berichtet und trotzdem beobachtete er mich weiter? Suchte er nach einem Fehlverhalten von mir? Diese Blicke machten mich unsicher. Noch nie hatte mich jemand so intensiv beobachtet und dabei keine Mine verzogen. Er lächelte nicht, er machte keine Anstalten, mich anzusprechen. Er beobachtete nur. Immer wieder unterhielt er sich mit einem hübschen Mädchen aus der Parallelklasse und tanzte auch mit ihr. Sie himmelte ihn an, war ganz eindeutig verliebt in ihn. Doch auch ihr gegenüber war er reserviert. Er war freundlich und lächelte auch, aber er erwiderte nicht ihr Verliebtsein. Dann beobachtete er wieder mich. Ich versuchte zu analysieren: Was konnte ihn an mir interessieren? Das Mädchen neben ihm war hübscher als ich. Was er über mich gehört hatte, konnte ihn eigentlich nur abschrecken. Wenn er nicht positiv an mir interessiert war, dann negativ. Was konnte das bedeuten? Er wollte sich über mich lustig machen. Er wollte wissen, wie jemand ist, der anders ist als die anderen und suchte nach der Bestätigung dessen, was er von den anderen gehört hatte. Das machte mir Angst. Der Abend war schon langweilig genug, er sollte nicht auch noch schrecklich werden. Daher verabschiedete ich mich von Milena und ihren Eltern und ging auf mein Zimmer. Dort angekommen wurde mir meine traurige Zukunft erst richtig bewusst. Ich war so ganz anders als die anderen, allein schon wegen meines bisherigen Lebens, dass ich wohl nie „dazu“ gehören würde. Egal wo ich sein würde. An diesem Abend fühlte ich wieder diese tiefe Einsamkeit.
Als ich gerade zu Bett gehen wollte, kam Milena durch die Verbindungstür aus ihrem Zimmer und sagte: „Vor deiner Tür steht ein netter junger Mann, der gerne mit dir reden würde.“
„Was will er? Sich über mich lustig machen?“ fragte ich aufgebracht. Es war mir sofort klar, wer dieser nette junge Mann war.
„Er ist wirklich nett. Gib ihm eine Chance, Stella. Ich habe gesehen wie ihr euch beobachtet habt, beide mit Pokerface. Eine Weile nachdem du gegangen warst, kam er an unseren Tisch und erkundigte sich, wo du denn hingegangen bist. Er war ganz traurig, als ich ihm sagte, dass du das Fest schon verlassen hast. Wir haben uns eine ganze Weile unterhalten und dann habe ich beschlossen, ihn hier herauf zu bringen. Ich werde jetzt wieder gehen und ihm sagen, dass er an deine Tür klopfen darf. Nutz die Gelegenheit auf ein gutes Gespräch, sie kommt so schnell nicht wieder.“ Mit einem Lächeln verließ sie mein Zimmer wieder durch unsere Verbindungstür. Wenige Augenblicke später klopfte es laut und deutlich an meine Tür.
„Ich komme gleich“, hörte ich mich rufen, als ob es das selbstverständlichste auf der Welt wäre, dabei war ich plötzlich völlig durcheinander und aufgeregt und furchtbar ängstlich vor dem, was da vor meiner Tür stand. Da stand tatsächlich ein junger Mann, der sich für mich interessierte! Und offensichtlich positiv interessierte. Mein Herz klopfte wie wild und ich wusste nicht mehr, wo mein Verstand war. Ohne einen klaren Gedanken fassen zu können, machte ich die Tür auf und strahlte ihn an.
„Mein Name ist Francesco Della Corte und ich würde dich gerne kennen lernen“, sagte auch er etwas unsicher. „Es tut mir leid, wenn du meine Blicke als unangenehm empfunden hast. Ich habe die ganze Zeit auf eine Gelegenheit gewartet, mit dir ins Gespräch zu kommen, aber irgendwie kam die nicht und dann warst du auch schon verschwunden.“
„Ich habe nicht damit gerechnet, dass du mich kennen lernen möchtest.“
„Warum nicht?“ fragte er ehrlich überrascht.
„Ich habe gesehen, dass du dich nach mir erkundigt hast und da war mir klar, dass nichts positives dabei heraus kommen würde.“
„Alles was ich erfahren habe ist, dass du erst seit einem Jahr hier bist und vorher noch keine Schule besucht hast und dass es dir sehr schwer gefallen ist, dich hier einzufinden.“
„Nichts weiter?“ fragte nun ich ehrlich überrascht.
„Nichts weiter.“ Nach einer kurzen Pause wollte er wissen: „Was für negative Dinge hätte ich denn über dich erfahren können?“
„Na ja, ich…“ Doch dann beschloss ich, meine negativen Gedanken für mich zu behalten und mich auf diese positive Wendung des Abends zu konzentrieren. „Erzähl mir von dir. Warum bist du heute Abend hier?“
Er erzählte mir, dass er eigentlich gar nicht hatte kommen wollen. Die Schwester seines Freundes, die ihn eingeladen hatte, hegte offensichtlich tiefere Gefühle, die er nicht erwidern konnte. Und um ihr keine falschen Hoffnungen zu machen, hatte er zunächst abgesagt, dann aber doch die Gelegenheit genutzt, noch einmal eine Auslandsreise zu machen, bevor er für eine längere Zeit sein Land nicht mehr verlassen durfte.
„Warum nicht?“ wollte ich wissen.
„Weil ich mich zum Militärdienst verpflichtet habe.“
„Und deshalb darfst du dein Land nicht verlassen?“
„Nun ja, es ist eine besondere Aufgabe, die ich dort übernehmen werde, und dazu gehört eben, dass ich in dieser Zeit nicht ins Ausland reisen darf, es sei denn dienstlich.“
Da er offensichtlich nicht weiter über dieses Thema sprechen wollte, suchte ich verzweifelt nach einem anderen. Vor lauter Aufregung und wohl auch, weil ich es nicht mehr gewohnt war, mich einfach so zu unterhalten, fiel mir nichts ein. Es entstand eine Pause, die wir beide als unangenehm empfanden. Noch immer standen wir auf dem Flur vor meinem Zimmer.
„Willst du zurück zur Feier?“ fragte er mich schließlich.
„Nein“, kam es zu schnell aus meinem Mund. Nur nicht zu den anderen, zu diesem kollektiven Rausch. Ziemlich hilflos sah ich ihn an. Er war erfahrener als ich und nutzte meine Reaktion um mit mir alleine zu bleiben. Er schlug einen Spaziergang in die Stadt vor, was mir gut gefiel. Im Gehen musste ich ihn nicht anschauen, was es mir leichter machte, einfach zu reden. Er wollte meine Geschichte hören, wollte wissen, warum ich nie eine Schule besucht hatte. Ich erzählte zuerst nur zögernd, doch als ich merkte, dass es ihn wirklich interessierte, da sprudelte alles aus mir heraus. Schließlich erzählte ich ihm auch noch von meinen Beobachtungen, die ich an diesem Abend gemacht hatte, über das sonderbare Verhalten meiner Mitschüler und wie kindisch ich das alles fand.
Er lachte. „Natürlich hast du Recht, keine – oder – fast keine dieser Träume, die man an diesem Abend hat, werden wahr, oder sie entwickeln sich ganz anders. Aber es ist trotzdem schön, sie zu haben. Ich habe auch diesen Rausch an meinem Abschlussfest gehabt und er war wunderschön. Heute, nachdem ich schon einige Semester meines Studiums hinter mir habe, da sieht die Welt ganz anders aus. Jetzt gebe ich dir Recht, jetzt wirkt das auch auf mich kindisch. Aber entgeht dir nicht etwas, wenn du alles so rational betrachtest?“
„Was soll mir denn entgehen? Eine trügerische Wahrnehmung der Realität? Was bringt es mir, wenn ich die Welt an einem Abend berauschend schön finde und schon am nächsten Morgen alles wieder ganz anders aussieht?“ Meine Antwort war bissiger gewesen, als ich es beabsichtigt hatte. Ich fühlte mich ausgelacht durch sein Lachen und seine durchaus berechtigte Frage. Entging mir nicht etwas? Es erinnerte mich schmerzhaft an mein Unvermögen, so zu sein, wie die anderen.
Wir waren längst in der Stadt angekommen und standen auf dem Marktplatz vor einem Brunnen. Hier erst wurde mir die Außenwelt wieder bewusst. Hier war plötzlich auch wieder dieses tiefe Gefühl der Einsamkeit, dass ich den ganzen Weg über verloren hatte. Er sah mich überrascht an. Meine scharfe Reaktion hatte ihn verwirrt. Doch er war erfahren genug, das Thema zu wechseln. Er fing einfach an von sich zu erzählen. Er war Italiener. Sein Vater war Anwalt. Seine Mutter war Deutsche, daher war er zweisprachig aufgewachsen. Er hatte noch einen Bruder und eine Schwester. Sein Wunsch war es immer gewesen, in die Kanzlei seines Vaters einzusteigen. Doch nun, da sein Jurastudium an dem Punkt war, da er sich entscheiden musste, in welche Richtung er gehen wollte, da war er sich nicht mehr sicher gewesen, ob er wirklich Anwalt werden wolle. Und um Abstand zu allem zu bekommen, da hatte er sich zum Militärdienst gemeldet. Sein Vater hatte ihm geraten, sich zu verpflichten, um eine wirklich interessante Position zu bekommen. Es wäre auch gut in Hinsicht auf eine eventuelle Karriere als Diplomat, was Francesco in seinen beruflichen Plänen mit in Betracht zog.
„Die Welt kennen lernen, so wie du es hast, das würde mir gefallen“, schwärmte er mir vor. „Doch zuvor muss ich erst einmal in Italien bleiben, deshalb bin ich heute Abend hier. Und ich bin froh, dass ich gekommen bin.“
„Ich auch“, sagte ich leicht errötend, was er aber bei der Dunkelheit nicht erkennen konnte.
Er lächelte mich an, auf eine so zärtliche Art und Weise, dass mein Herz wieder wie verrückt zu klopfen begann und mein Verstand Purzelbäume schlug. Ich bekam wieder keinen klaren Gedanken zustande. Wenn ich nicht so unerfahren gewesen wäre, dann hätte ich ihn jetzt geküsst und ihm gezeigt, wie ich für ihn empfinde. Doch damals wusste ich von diesen Dingen noch nichts. So heftige Gefühle hatte ich noch nie erlebt und sie machten mir Angst, Angst vor mir selbst, Angst, vor dem, was da noch kommen könnte. Also ging ich weiter, aus Angst, er könnte mich küssen. Nur schnell wieder auf ein sicheres Terrain, schnell wieder zurück in die Unterhaltung.
„Die Welt ist gar nicht so aufregend, wie du dir vorstellst. Es sind auch nur irgendwelche Orte irgendwo.“ Was Intelligenteres fiel mir in diesem Moment nicht ein.
„Dann erzähl mir von irgendeinem Ort“, forderte er mich auf.
Das war das richtige Stichwort für mich und so kam ich zurück in den Schutz der Worte, die mir wieder leicht von den Lippen flossen. Es wurde eine wunderbare Unterhaltung, denn er hatte viel gelesen über die sieben Weltwunder und war amüsiert über meine Sichtweise der Dinge. Es war so leicht, ihm zu erzählen. Er konnte meinen Gedankensprüngen ohne weiteres folgen und auch, wenn ich anfing zu philosophieren, dann ging er mit und bot mir Paroli. Er ließ sich von meinen Versuchen, ihn auf ein Gebiet zu locken, von dem er nichts verstand, nicht beeindrucken. Im Gegenteil, er holte mich dann sehr schnell wieder zurück. Und dann musste ich lachen. So liefen wir die ganze Nacht durch die Stadt und erst als die Sonne schon aufgehen wollte, überkam uns eine leichte Müdigkeit.
Auf dem Weg zurück zum Internat schwiegen wir beide. Wir mussten wieder auftauchen aus der Welt unserer Gedanken, die eine Nacht lang im Gleichklang verweilt hatten und zurückkehren in die Realität. Jeder musste zurück in sein eigenes Leben. Francesco musste zurück nach Italien und seine eingegangenen Verpflichtungen aufnehmen und ich durfte zurück zu meinen Eltern, für eine kurze Weile, um dann wieder alleine den nächsten Schritt in meinem Leben zu gehen. In diesem Moment streifte mich eine Ahnung davon, dass es auch noch andere Inseln der Glückseligkeit geben könnte und sei es nur für eine Nacht.
Es war Zeit, sich zu verabschieden. Wenn er mich an die Hand genommen hätte und mit mir weiter durch die Stadt gelaufen wäre, ich hätte mich nicht gesträubt. Doch die aufgehende Sonne, das helle Licht veränderte alles. Die Dunkelheit war wie ein Kokon gewesen, der uns vor der Außenwelt geschützt hatte, in der Helligkeit konnten wir das Vorhandensein der übrigen Welt nicht mehr verleugnen.
„Ich danke dir für diesen außergewöhnlichen Abend, Stella. Ich habe mich noch nie so gut mit jemandem unterhalten wie mit dir. Du bist wirklich ganz anders als die anderen.“
„Ja, das bin ich, aber bisher habe ich immer gedacht, dass es besser ist, es zu verbergen.“
„Nein, bleib so wie du bist. Du bist außergewöhnlich und ich wünschte, wir könnten unsere Unterhaltung bald wieder aufnehmen. Aber ich sehe dazu so schnell keine Möglichkeit“, sagte er traurig.
Als ich ihn ansah, da klopfte mein Herz wieder so laut, dass mein Verstand keinen vernünftigen Gedanken mehr fassen konnte. Ich stand nur da, wollte ewig bleiben und wollte doch so schnell wir möglich dieser Situation entfliehen, denn wieder war die Möglichkeit eines Kusses gegeben, was mir immer noch Angst machte.
„Ich könnte dir schreiben“, sagte ich schnell, um wieder in die Welt der Worte zu kommen, „dann können wir unsere Konversation schriftlich fortsetzen.“
„Es ist nicht dasselbe. Eine Unterhaltung lebt auch von der Nähe des Gesprächspartners, von seiner Stimme, von der Betonung der Worte und vor allem von der direkten Antwort. Ein Briefwechsel hat eine ganz andere Qualität. Ich würde zwar die Unterhaltung vorziehen, aber es bleibt uns wohl vorerst nichts Anderes übrig, als die Hilfe von Stift, Papier und der Post in Anspruch zu nehmen.“
´…von der Nähe des Gesprächspartners...´ wie wahr. Und genau diese Nähe wurde mir nun fast unerträglich. Es war so viel Gefühl in diesem Augenblick, so viel Verlangen, das unerfüllt bleiben musste, auf beiden Seiten, dass es wie eine Bürde auf uns beiden lastete, die wir nicht tragen konnten. Auch Francesco, der damals schon die eine oder andere Erfahrung mit dem anderen Geschlecht gesammelt hatte, war dieser Situation nicht gewachsen. Auch er konnte nicht, wie er eigentlich wollte. Er konnte mich nicht in seine Arme nehmen, konnte mich nicht küssen, wie es sein Wunsch war und wie es der Situation angemessen gewesen wäre. Die Emotionen zwischen uns waren zu groß, zu intensiv, um sie aushalten zu können. Er schaffte es gerade noch, mir seine Visitenkarte zu geben, bevor er Hals über Kopf das Weite suchte.
Seine Visitenkarte hütete ich wie einen Schatz. Sie war der Beweis dafür, dass es diesen Abend wirklich gegeben hatte. Von diesem Abend habe ich noch sehr lange gezehrt. Immer wenn mich wieder diese tiefe Einsamkeit umschlingen wollte, dann zog ich mich in die Erinnerung an diesen Abend zurück, dann holte ich die Bilder seiner Gesichtszüge vor mein inneres Auge und stellte mir vor, wie er mich anlächelte und wie er mir sagte, dass ich außergewöhnlich sei und dass er sich gerne wieder mit mir unterhalten würde.
Es dauerte eine ganze Weile, bis ich den Mut aufbrachte, ihm zu schreiben. Anfangs waren meine Briefe nur kurz, denn es war schwer, nach einem solchen Abend auf eine andere Ebene zu kommen, aber es gelang. Seine Antworten ließen nie lange auf sich warten und schließlich wurden die Briefe ein wichtiger Teil meines Lebens. Sie wurden zu einer Traumwelt, die mich vor der Realität beschützte.
Irgendwann musste ich diese Traumwelt aufgeben, weil sie mich hinderte, die Realität zu erkennen und darin zu leben.