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Internat

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Die gemeinsame Zeit war fast vorbei. Auch meine Eltern zögerten den geplanten Studienanfang immer wieder hinaus. Dafür war ich ihnen dankbar, denn es war für mich unvorstellbar, alleine irgendwo auf der Welt leben zu müssen. Wir wählten die Schweiz aus, das Land, in dem wir immer unsere Urlaube verbrachten und wo meine Eltern zwischen ihren Aufträgen Station machten, so dass wir uns häufig sehen konnten. Zunächst sollte ich die Matura ablegen um die Zulassung zur Universität zu erwerben. Wir meldeten mich zur Prüfung an einer internationalen Schule an, besorgten uns die Prüfungsaufgaben der Vorjahre und ich bereitete mich vor. Die Sprachen stellten kein Problem dar, Geschichte musste ich mir noch aneignen, die naturwissenschaftlichen Fächer überraschten mich. Die gestellten Fragen erschienen mir so einfach. Das sollte die Voraussetzung für ein Studium sein? Da hatte ich mich schon mit ganz anderen Fragestellungen auseinandergesetzt! Kinderkram! Mit Freude ging ich an die Aufgaben heran. Die erste Überraschung erlebte ich, als wir die Lösungen verglichen. Ich hatte zwar oft das richtige Ergebnis, aber meist keinen Lösungsweg oder einen völlig anderen. Und manche Fragen hatte ich schlichtweg nicht verstanden! Was wollten eigentlich die von mir? Was sollte das Ganze? Ich konnte keinen Sinn erkennen. Mir fehlte der Bezug zu den Problemen in der realen Welt. Ich hatte nicht gelernt, dass Mathematik auch einen Selbstzweck hat. Ich hatte es immer nur als Hilfsmittel für eine größere Aufgabe gekannt.

Noch heute staune ich über meine Naivität, mit der ich in die Prüfungen ging. Wenn ich auch den Lösungsweg nicht genau zeigen konnte, so zählte doch allein die Lösung, dachte ich. Und ich war mir sicher, dass sie mein großes Wissen honorieren würden. Sie prüften mich sogar noch mündlich. Ich war zufrieden mit mir. Nur der Schuldirektor Dr. Hofmann sah das ganz anders. Er lud mich und meine Eltern zu einem persönlichen Gespräch, in dem er erläuterte, dass ich durch alle Prüfungen gefallen sei.

„Aber das ist doch ganz unmöglich!“ protestierte ich. Meine Eltern sahen sich vielsagend an, als ob sie damit schon gerechnet hätten. In mir stieg eine unerklärliche Angst empor, die mich das Schlimmste befürchten ließ.

„Es ist nicht so, dass Ihre Tochter nicht das Zeug zur Matura hätte, es ist nur alles so unstrukturiert. Die Lösungen waren teilweise ganz erstaunlich, gingen aber an der eigentlichen Fragestellung vorbei und schossen weit über das Ziel hinaus. Welche Schulen hat sie denn besucht?“

„Keine“ kam es wie aus einem Munde meiner Eltern.

„Das erklärt alles“, meinte Dr. Hofmann.

„Meine Lösungen sind richtig, Sie verstehen sie nur nicht!“ protestierte ich wieder.

„Das ist richtig, junge Frau, Niemand versteht. Das ist der springende Punkt. Sie müssen lernen, sich so auszudrücken, dass jeder sie versteht, das gilt in den Sprachen, ebenso wie in den naturwissenschaftlichen Disziplinen. Ich habe mir Ihre Arbeiten lange und ausführlich angesehen und ich werde sie aufheben, denn sie sind ganz außergewöhnlich. Aber ich habe Stunden gebraucht, um sie zu verstehen. Deshalb weiß ich auch, dass es nicht an Ihrem Wissen mangelt, sondern an Ihrer Methodik. Ihnen fehlen elementare Formen der Darstellung. Sie machen Gedankensprünge, die nobelpreisverdächtig sind, aber die einfachsten Regeln der Mathematik sind Ihnen fremd. Dies gilt für alle Fächer. Die Inhalte Ihrer Aufsätze, in welcher Sprache auch immer, waren äußerst interessant, aber sie habe keine der gültigen Regeln der Vorgehensweise, der Form oder Darstellung beachtet.“

„Das ist doch unwichtig. Entscheidend ist doch das Ergebnis“, versuchte ich es erneut.

„Leider nicht. Es mag einer der größten Fehler in unserem Schulsystem sein, aber es bedarf dieser Regeln und Formen, um eine Bewertung und auch Vergleichbarkeit zu ermöglichen. Wie sollten wir die Leistungen der Schüler gerecht bewerten, wenn jeder macht, was er will?“

„Diesen Vorwurf müssen Sie uns machen“, mischte meine Mutter sich ein. „Wir haben sie lernen lassen, wie sie wollte, ohne auf irgendeinen Lehrplan Rücksicht zu nehmen. Sie hat alles so schnell gelernt, dass die Schulbücher, die wir benutzen wollten, völlig ungeeignet waren. Wir wollten, dass sich ihr Verstand frei entwickelt, ohne das Korsett der wissenschaftlichen Betrachtungs- und Vorgehensweise.“

„Das ist Ihnen gelungen“, bestätigte Dr. Hofmann, ohne es irgendwie zu bewerten. „Daher sehe ich keinen Grund, weshalb sie nicht auch diese elementaren Regeln der Schule schnell erlernen wird. Die Frage ist nur, wo sie sie erlernen soll.“

„Kannst du sie mir nicht beibringen, Mama?“

„Nein, mein Kind, ich fürchte das kann eine Schule besser als ich.“

Das war der Satz, der mich aus unserer kleinen Gemeinschaft ausstieß. Er bedeutete das Ende meiner Kindheit. Die gemeinsame Zeit mit meinen Eltern war wie eine Insel der Glückseligkeit inmitten einer mir fremden Welt. Wie sehr ich auf einer Insel gelebt hatte, wie wenig ich von der Welt und den Menschen wusste, zeigte sich schon bald sehr schmerzhaft.

Man beschloss, dass ich für ein Jahr im dazugehörigen Internat wohnen würde, um das letzte Schuljahr vor der Matura gemeinsam mit anderen Schülern zu verbringen. Dr. Hofmann würde für mich einen Ergänzungsplan ausarbeiten, um meine eventuell vorhandenen Defizite in den einzelnen Fächern auszugleichen.

Der Sommer gehörte noch uns. Einen letzten gemeinsamen Auftrag durfte ich noch mit ihnen ausführen. Es war für uns alle eine traurige Zeit, denn es war uns bewusst, dass es nie mehr so sein würde, wie bisher. Es ist ein völlig normaler Vorgang, dass das Kind irgendwann das Haus verlässt, um eigene Wege zu gehen. In aller Regel leiden die Eltern mehr als das Kind. Für mich war es eine Urangst, die da in mir pochte, so, als ob ich den Boden unter den Füßen verlieren würde, wenn ich mich von meinen Eltern trennte. Und die Aussicht, ein Jahr lang in einem Internat wohnen zu müssen, kam mir vor, als ob ich ins Gefängnis gehen sollte. Warum konnte ich nicht einfach so weitermachen wie bisher? Es lief doch alles wunderbar. Nein, ich sollte erwachsen werden und wollte doch gar nicht. Warum konnte ich nicht immer Kind bleiben? Auf diese Frage fand auch mein Vater keine befriedigende Antwort. Ich glaube, auch er hätte am liebsten die Zeit angehalten.

Doch die Zeit ist unerbittlich. Sie schritt voran und brachte den Tag, an dem mich meine Eltern allein in einem fremden Zimmer in eben jenem Internat, das für mich eine Schule des Lebens werden würde, zurückließen. Meine Angst war so groß, dass ich innerlich zitterte. Die Tränen kamen erst sehr viel später. Meine Angst hielt mich gefangen in diesem Zimmer, ich wagte nicht, mich zu bewegen, bis plötzlich eine Seitentür aufging und eine junge Frau herein kam. Sie lächelte mich an und stellte sich als Milena vor. Sie hatte das Zimmer neben mir. Das besondere an unseren Zimmern war, dass sie eine direkte Verbindungstür hatten. Ich war nicht allein! Dr. Hofmann hatte Milena von mir erzählt und sie gefragt, ob sie bereit wäre, sich meiner anzunehmen. Sie willigte ein und das war ein Segen für mich! Sie war der Engel, der mich durch dieses erste Jahr auf dem Weg zum Erwachsenwerden begleitete. Und die Tür blieb das ganze Jahr hindurch offen.

Hatte ich in der ersten Zeit noch geglaubt, dass ich im Grunde schon viel zu gebildet für diese Schule war, so lernte ich doch schnell, dass es noch mehr umfassend gebildete Schüler außer mir gab. Und Milena war mit Abstand die Begabteste von uns allen. Sie hatte ein Stipendium für Hochbegabte erhalten und sah darin die Chance für ihr Leben. Ihre Eltern waren sehr stolz auf sie, denn sie hätten ihr nicht dieses teure Internat ermöglichen können, das uns allen die Türen für die Universitäten auf der ganzen Welt öffnen konnte. Vorausgesetzt, wir waren gut genug. Milena würde es schaffen, daran bestand kein Zweifel. Sie tat ihr Bestes, damit ich es auch schaffen konnte. Sie nahm mich überall mit hin, zeigte mir alles, erklärte mir alles, machte mit mir Hausaufgaben und lernte mit mir für die Klausuren. Und sie war unendlich geduldig mit mir, denn ich war es nicht gewohnt, so passiv zu lernen. Was mich nicht interessierte, war unwichtig, wozu also lernen? Das meiste interessierte mich nicht. Milena dagegen war völlig offen für alles. Sie beherrschte das System des Lernstoffes aufnehmen, speichern und zu gegebener Zeit in entsprechender Form wieder von sich zu geben, perfekt. Es war egal, welches Fach, sie beherrschte sie alle. Ich verschwendete meine Energie im Auflehnen gegen das System, das sich aber nicht ändern ließ. Milena hatte es einfach akzeptiert, perfektioniert und benutzte diese Gabe, um Ihr nächstes Ziel, ein Stipendium für Harvard, zu erreichen.

Obwohl wir so unterschiedlich waren, entwickelte sich zwischen uns doch eine tiefe Freundschaft. Mit der Zeit erkannte ich, dass auch Milena in gewisser Weise eine Außenseiterin war. Sie war tief gläubig und Mitglied einer evangelischen Sekte. Diese Gemeinschaft gab ihr einerseits Halt, andererseits galten aber auch feste Regeln, die sie nicht brechen durfte. So war ihr immer klar, dass sie nur einen Mann heiraten durfte, der ihrem Glauben angehörte. Auch in der Schweiz gab es eine Gemeinde ihrer Sekte und dort ging sie regelmäßig hin, um zu singen und zu beten und um sich Kraft und Zuversicht zu holen. Ihr fester Glaube war ein ganz wesentlicher Teil ihrer inneren Stärke und Ausgeglichenheit. Milena versuchte, mir etwas davon zu vermitteln, aber so wenig, wie ich die Lehrer und den Lehrplan einfach kommentarlos hinnehmen konnte, so wenig konnte ich Gott und die Bibel, ohne zu hinterfragen, hinnehmen. Das war eine der Eigenschaften, die ich an ihr besonders schätzte: Sie versuchte nicht, mich zu überzeugen. Sie ging ihren eigenen Weg ohne den Weg der anderen in Frage zu stellen. Sie mochte mich, mit all meinen Fehlern. Und ich lernte durch sie, was wahre Freundschaft sein kann.

Das Thema Liebe war damals für mich noch kein Thema und für Milena auch nicht, jedenfalls nicht in der Schule. So wurden wir beide von den anderen Mädchen immer ein wenig belächelt. Das war vielleicht auch ein Grund, warum Milena vor mir keine wirkliche Freundin gehabt hat. Sie hat bei den üblichen Ränkespielen nicht mitgemacht, nicht mitmachen können. Dadurch stand auch sie immer ein wenig außerhalb der Klasse. Trotzdem war sie sehr beliebt, man suchte und schätzte ihre fachliche Kompetenz in allen Fächern. Ich kann mich nicht erinnern, dass ihr je Neid oder Missgunst entgegengebracht wurde. Ich war leider nicht so beliebt, aber daran war ich selbst schuld. Gleich zu Anfang hatte ich geglaubt, mit meinem umfassenden Allgemeinwissen angeben zu müssen. Im Grunde war das Unsicherheit, da ich ja noch nie mit Gleichaltrigen zusammen war. Ich wusste schlichtweg nicht, wie man sich in meinem Alter verhält und tat daher einfach erwachsen, versuchte mit meinen Mitschülern so zu diskutieren, wie ich es mit meinen Eltern gewohnt war. Das wirkte natürlich sehr arrogant und schon nach einer Woche war ich endgültig unten durch. Die Freundschaft mit Milena war ein gewisser Schutz vor dem Spott der anderen, aber ich behielt meine Außenseiterposition bis zum Schluss. Mit der Zeit lernte ich, dass es besser ist, erst einmal die Klappe zu halten, alles zu beobachten und das Verhalten der anderen zu studieren, bevor man sich an einem Gespräch beteiligt.

Meine Tage waren ausgefüllt mit Unterricht und Nachhilfe. Dr. Hofmann übernahm die Nachmittagsstunden, in denen alle meine Wissenslücken zuerst analysiert und dann ergänzt wurden. Je mehr ich lernte, umso mehr wurde mir klar, wie wenig ich im Grunde wusste. Mein ganzes Selbstvertrauen schlich sich davon. Ich verlor tatsächlich den Boden unter den Füßen. Ohne meine Eltern war ich ein Nichts. Ich fühlte mich verlassen und einsam. Anfangs hatten wir noch täglich telefoniert, d.h. ich habe täglich geweint. Meine Mutter litt ebenso wie ich unter diesen Tränen. Schon nach kurzer Zeit schlug sie vor, nur noch einmal pro Woche zu telefonieren. Damals glaubte ich, sie würde mich nicht mehr lieben, doch heute weiß ich, dass es das einzig Richtige war. Ich war alt genug, um mit dieser Situation fertig zu werden. Milena war ein gutes Vorbild und Dr. Hofmann, der immer so sachlich und distanziert war, schaffte es auf diese Weise, meinen Verstand zu motivieren. Anfangs schrieb ich nur schlechte Noten. Es lag an meiner Ungeübtheit und an einer bis dahin nicht gekannten Unsicherheit. Ich war mir während der Prüfungen einfach nicht mehr sicher, ob das, was ich auf diese Frage antworten würde auch das Richtige ist. Vielleicht ist alles doch ganz anders?

Es sah so aus, als ob ein Jahr doch nicht ausreichen würde, alles das nachzuholen, was mir an schulischer Erfahrung fehlte. Man sollte die Regeln der Schule möglichst früh lernen, dann kann man sich auf die Inhalte konzentrieren. Ich war im Grunde schon zu alt, um mich einfach unterzuordnen. Dafür war auch mein Verstand zu kritisch und hinterfragte alles und jedes. Vielleicht ist es aber auch mein Wesen, mein Charakter, der sich gerne weigert, wenn ihm keine Wahl gelassen wird.

„Sie wollen also noch ein weiteres Jahr bei uns bleiben?“ fragte mich Dr. Hofmann nach etwa zwei Monaten.

„Wie kommen Sie darauf?“ fragte ich ganz erschrocken.

„Na, mit den Noten werden Sie die Matura nur mit knapper Not schaffen“, stellte er schlicht fest.

„Das reicht“, erwiderte ich kühn. Es war mir egal wie, Hauptsache war, ich schaffte es irgendwie.

„Sie wollen doch studieren?“

„Ja, und?“ Die Angst begann.

„Dazu brauchen Sie aber gute Noten, sonst wird Sie keine Universität zum Studium zulassen.“

„Wie gut?“ Die Angst beherrschte mich.

„Sehr gut.“

Ich glaube, diese Erkenntnis war der absolute Tiefpunkt in jenem Jahr. In diesem Augenblick wollte ich alles hinschmeißen und einfach wegrennen. Das würde ich nie schaffen. Auch noch sehr gute Noten schreiben! Bis dahin hatte ich tatsächlich gedacht, die sehr guten Noten, die Milena anstrebte, seien nur für ein Stipendium wichtig. (Meine Naivität hatte ihren absoluten Höhepunkt erreicht.) Die Aussicht, noch ein weiteres Jahr hier bleiben zu müssen, noch einmal denselben Unterrichtsstoff durch zu kauen, nur um bessere Noten zu erreichen, ließ all meine Hoffnungen verpuffen. Es war, als ob ich Verlängerung der Haft wegen schlechter Führung bekommen hätte.

Dr. Hofmann wusste genau, was er tat. Er hatte den Punkt erreicht, an dem ich bereit war, meinen Widerstand aufzugeben.

„Sie können es schaffen, Stella“, lockte er meine Aufmerksamkeit auf sich.

„Ich habe keine Träume mehr, Dr. Hofmann“, bemitleidete ich mich selbst.

„Geben Sie es auf, in allem und jedem einen Sinn oder Zweck zu suchen. Sie machen es sich selbst viel zu schwer. Akzeptieren Sie einfach, dass die meisten Dinge, mit denen wir es im Leben zu tun haben, einfach getan werden müssen. Akzeptieren Sie, dass das meiste, was Sie hier lernen müssen, nicht unbedingt wichtig für Ihr späteres Leben ist. Nehmen Sie es als Übung für den Verstand und ersparen Sie Ihren Emotionen diese Kämpfe, es kommen noch andere Situationen, in denen Gefühl von größter Wichtigkeit ist. Sie und ich können dieses System nicht ändern. Ich kann ihnen nur helfen damit zu Recht zu kommen.“

Er sah mich eine ganze Weile an. Ich saß nur da und war völlig erschöpft. Was er sagte hörte sich gut an, ich wusste nur nicht, wie ich das umsetzen sollte. Und ob ich das überhaupt wollte. Es gab ja auch die Möglichkeit, alles hinzuschmeißen!

„Mit Ihrem Potential ist es ein Leichtes, dieses System ad absurdum zu führen. Lernen Sie es zu beherrschen, dann dient es Ihnen als Mittel zum Zweck.“

Damit hatte er meine Eitelkeit wieder zum Leben erweckt. Mein Verstand hatte die Aufgabe, die er brauchte, um genug Aufmerksamkeit für das Lernen bereit zu stellen. Von nun an ging ich völlig anders an die Aufgaben heran. Mit Hilfe von alten Prüfungsaufgaben erarbeitete ich mir den Schulstoff, der mir fehlte. Ich fragte nicht mehr, interessiert mich das? Ich versuchte nur noch zu analysieren, welche Fragen sich aus dem vorgegebenen Stoff ergeben könnten. Jedes Fach hatte seine eigene Systematik und jeder Lehrer wiederum seine eigene Herangehensweise. Je mehr ich dieses System begriff, umso mehr bewunderte ich Milena, deren eigentliche Begabung in eben jener Analyse des Systems lag. Sie hatte nicht nur die Gabe, alles sehr leicht zu lernen, sondern eben auch intuitiv zu erfassen, auf was es in den Prüfungen ankam. Und: sie war innerlich gefestigt. Meine Unsicherheit blieb. Und damit auch eine relative Fehlerquote, die es nicht erlaubte, sehr gute Noten zu schreiben. Es blieb bei einem Gut.

Über Dr. Hofmann kann ich leider nicht viel mehr berichten. Er war mir ein väterlicher Lehrer, der mich sehr gemocht haben muss, denn er hat wirklich viel Zeit in jenem Jahr mit mir verbracht, was - wie ich später erst begriffen habe.- nicht üblich war. Damals nahm ich es einfach so als selbstverständlich hin, ohne den Menschen hinter dem Lehrer zu sehen. Dazu war ich viel zu sehr mit mir selbst beschäftigt. Erst Jahre später habe ich mich bei ihm dafür bedankt, was ihn sehr freute. Da erzählte er mir auch, dass es ihn sehr gefreut hatte, dass Milena und ich, obwohl wir so unterschiedlich waren, in Freundschaft verbunden waren, denn irgendwie waren wir in jenem Jahrgang seine Lieblingsschülerinnen. Er hatte immer ein Herz für Außenseiter.

In den Weihnachtsferien durfte ich endlich wieder zu meinen Eltern, doch die Insel der Glückseligkeit hatte sich verändert. Zum ersten Mal in meinem Leben hatten wir eine Zeitlang getrennt gelebt, getrennte Erlebnisse gehabt, getrennte Erfahrungen gemacht. Ich konnte nicht mehr mitreden, wenn sie von ihren Aufträgen erzählten, denn ich war ja nicht dabei gewesen. Und ich musste ihnen von meinen Erlebnissen ausführlich erzählen, denn sie waren ja auch nicht dabei gewesen. Zuerst war es fremd für mich, so ausführlich zu erzählen. Früher hatten wenige Worte genügt, damit sie im Bilde waren, jetzt musste ich mich wirklich anstrengen, damit sie mir folgen konnten. Und wenn sie berichteten, dann fühlte ich mich ausgestoßen. Ihre Zweisamkeit bestand noch immer, aber ich gehörte nicht mehr dazu, jedenfalls nicht mehr so wie früher. Der Dialog zwischen ihnen war geblieben, doch mit mir hatte er sich verändert. Dieses Weihnachten fühlte ich eine Einsamkeit, die ich nie mehr ganz verlieren würde. Es ist diese Einsamkeit, die einem bewusst macht, dass man ein Individuum ist, ein einzelner Mensch, getrennt von den anderen, auch wenn man nahe beieinander ist, so ist man doch allein, einzeln, getrennt. Man lebt ein eigenes Leben, niemand kann wirklich fühlen, was in einem vorgeht. Und am Ende des Lebens geht man alleine den letzten Schritt. Niemand, der einen begleiten wird. Als Kind glaubt man noch, dass man eine Einheit bildet mit der Mutter und dass auch die Eltern eine Einheit sind. Ich war sehr lange Kind, ich wollte es bleiben.

Als die Erkenntnis der Einsamkeit kam, da fürchtete ich mich vor dem Leben, so allein. Ich glaubte, ich hätte alles verloren, würde nie mehr diese Sicherheit haben, die mich immer umfangen hatte. Diese Sicherheit, die trügerisch gewesen war, die es nie wirklich gegeben hatte, diese Sicherheit verlor ich tatsächlich. Doch mit der Zeit erlernte ich eine andere Art von Sicherheit. Ich lernte mir selbst zu vertrauen, ich lernte, dass die Erfahrungen meines bisherigen Lebens ein ungeheurer Schatz waren.

Mir fehlten zwar die Erfahrungen, die andere in meinem Alter längst gemacht hatten, aber dafür halfen mir die Erfahrungen, die die anderen noch nicht hatten, leichter das Fehlende zu erkennen und bewusster anzunehmen. Ich lernte später und dadurch anders. Nicht unbedingt leichter, aber eben anders. Es rettete mich nicht vor manchen Irrungen und Wirrungen, aber ich war immer in der Lage, mich selbst zu beobachten und zu analysieren. Mein Verstand hat mich aus manch misslicher Lage immer wieder gerettet.

Adriana

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