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6 DIE ENTTÄUSCHUNG Rehovot, 8. 5. 80

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PLATON SCHÄTZT das kontemplative Leben höher als das aktive, weil er der Meinung ist, daß in der Kontemplation der Ideen die Weisheit liegt und nicht in ihrer Anwendung. Wer versucht, Ideen in der Natur anzuwenden (z. B. ein Dreieck in den Sand zu zeichnen), wird feststellen, daß die angewandten Ideen entstellt wurden (die Winkelsumme nicht mehr genau 180 Grad ausmacht). Das gezeichnete Dreieck, dieses Kunstwerk, das das Resultat menschlicher Arbeit ist, die darauf hinzielt, die Natur zu verändern, wird weder Weisheit noch Glück bringen, sondern nur falsche Meinungen, »doxai«. Das aufgezeichnete Dreieck wird zweifellos den Sand ändern, ihn »informieren«.

Diese platonische Lehre hat in der Philosophiestunde nichts Melancholisches an sich, man darf nur nicht vergessen, daß jede Theorie in der Praxis entstellt wird. Wenn wir uns diese platonische Idee in Israel ins Gedächtnis rufen, dann verzweifeln wir an der Unmöglichkeit, Ideen in der Praxis durchzuführen. Wir verzweifeln auch an der Opferwilligkeit, mit der Juden Ideen verwirklichen möchten. Das Dreieck, das Juden aus der ganzen Welt, mit großem Leiden und Heroismus, mit großer Hoffnung, in den Sand von Palästina gezeichnet haben, hat zweifellos grundsätzlich den Boden verändert. Seine Winkelsumme hat aber keine 180 Grad, und dieses wirkliche Malheur wird von nah und fern beobachtet. Was man in Israel bemerkt, wenn man die platonische Idee im Kopf hat, ist der Schiffbruch des mit großem Aufwand angewandten Idealismus und die Kleinlichkeit der theoretischen, nicht engagierten Kritik. Ich kann mir kein trostloseres Schauspiel vorstellen.

Dieses Schauspiel ist relativ neu. Die Mehrzahl der Erbauer des Staates Israel glaubten, bis zum Sechstagekrieg im Jahr 1967, wenigstens in groben Zügen das Modell einer gerechten, humanen Gesellschaft realisieren zu können. Aus der Entfernung applaudierte dazu die Mehrzahl des interessierten Publikums. Später haben verschiedene Faktoren die Szene geändert. Mit der Besetzung der eroberten Gebiete wurde den Erbauern des neuen Staates die Gebrechlichkeit des moralischen Fundaments ihres Unternehmens bewußt. Als erpresserische Waffe hat das Öl das Publikum davon zurückgehalten, weiterhin zu applaudieren. Das schlechte Gewissen, das das Publikum den Juden gegenüber hatte, hat in den Ausschreitungen des jüdischen Staates das Ventil für die gerechte Empörung gefunden. Diejenigen, die das Land aufbauen wollten, haben begonnen, zu sich selbst das Vertrauen und zugleich die moralische Unterstützung des Publikums zu verlieren. Es führte nicht zum Defätismus: Ich glaube, daß die Israelis weiter bereit sind, ihr Leben zu opfern, ganz selbstverständlich, ohne eine große Geste von Patriotismus. Meiner Meinung nach handelt es sich um kein Opfer zugunsten irgendeines Ideals, sondern um Selbstverteidigung. Ein Opfer von enttäuschten Menschen.

Die trostlose Szene des Todes von Idealen ist relativ neu. Sollte die platonische Ansicht richtig sein, dann liegt die Niederlage der zionistischen Idee in ihrer Anwendung, Palästina am Ende des letzten Jahrhunderts zu kolonisieren. Folgt man Plato, müßten bereits jene, die aus den eisigen russischen und polnischen Dörfern in die heiße Wüste eines verlorenen Winkels des ottomanischen Imperiums auswanderten, nachdem sie in den Talmudschulen oder durch die verbotene marxistische Literatur Gerechtigkeit und Nächstenliebe gelernt hatten, ihre Ideen »verraten« haben. Tatsächlich fehlt es nicht an jenen, die so denken. Die orthodoxen Ultra-Fundamentalisten, die in Mea Shearim*, wie Mujiks im 18. Jahrhundert angezogen, auf am Sabbat fahrende Autos Steine werfen, verneinen den jüdischen Staat, weil sie, ähnlich wie Plato, behaupten, daß das Judentum kontempliert werden muß und nicht angewandt werden darf. Die orthodoxen Marxisten, ebensolche Ultra-Fundamentalisten, wie es die Fanatiker in Mea Shearim sind, welche aber nicht in Jerusalem leben, sondern im Parlament und auf Universitäten der kapitalistischen und sozialistischen Staaten, behaupten gleichfalls, daß ohne vorhergehenden Klassenkampf der Sozialismus nicht zu verwirklichen ist.

Die fundamentalistischen Einwände, von rechts oder von links, gegen den Zionismus erfassen indessen nicht das platonische Problem. Das Problem ist dialektisch, schließt die Beziehung zwischen Idee und Wirklichkeit ein. Die Tragödie des Zionismus, wie sie sich heute zeigt, liegt im Keim im Widerspruch zwischen der Idee, die angewandt wurde, und der Wirklichkeit, die verändert wird. Es gab zu Anfang wenigstens zwei einander widerprechende, aber ineinandergreifende Ideen: die religiöse und die marxistische. Es gab zwei soziale Wirklichkeiten, die hätten geändert werden sollen: diejenige der in der Welt verstreuten Juden und diejenige der von den Türken unterworfenen Araber, die auf dem Land lebten. Als ob ein Zeichner zur gleichen Zeit ein Dreieck und einen Kreis in Sand und in Stein zeichnen wollte. Als ob der Zionismus ein übertriebenes Beispiel für die Theorie und gegen die Praxis wäre.

Eben weil er auf etwas Unmögliches mit der allergrößten Hingabe zielt, ist der Zionismus tragisch. Bevor ich mit meinen eigenen Augen das Experiment gesehen habe, konnte ich nie verstehen, warum sich die Menschheit vor einem so großartigen Schauspiel nicht mit Bewunderung verbeugt. Von Kosakenhorden verfolgt, von fortgeschrittener nazistischer Technologie erstickt, von islamischen Fanatikern hingemordet, versammeln sich die Reste der dekadenten, erschöpften Gemeinschaft, nicht um Zuflucht zu suchen und in Frieden zu sterben, sondern um ein Modell für eine zukünftige Gesellschaft aufzubauen. Nicht für sich selbst, sondern für die anderen werden sie zu Pionieren – vor dem feindlichen Blick der etablierten weltlichen und religiösen Mächte. Es ist tatsächlich unglaublich, daß sie es fast schaffen. Warum also hält die ganze Menschheit, die diesem spannenden Drama zusieht, nicht den Atem an? Warum erniedrigt sie sich durch kleinliche, größtenteils impertinente Kommentare? Jetzt, wo ich anwesend bin, verstehe ich ihre Einstellung. Die Tragödie ist ein widerwärtiges Schauspiel, das illustriert, daß jedes Engagement für Ideen unvernünftig und vergeblich ist. Würden wir Prometheus am Kaukasus zusehen, würden wir seine Leber sehen und sie kritisieren. Das gestohlene Feuer hätten wir, wie im Fall von Israel, längst vergessen.

* geschlossenes orthodoxes Stadtviertel von Jerusalem

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