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EINE FRAGE VON MODELLEN

IM HAUS MEINES COUSINS David Flusser, Historiker des Frühchristentums an der hebräischen Universität in Jerusalem, folgte dem Shawuot* eine Diskussion über die Dynamik des Judentums. Der Last des Chamsin** folgte das bleiche, transparente Licht, in das Jerusalem getaucht war und das vom griechischen Wort »Hierophanie« (das Durchschimmern des Heiligen) erfaßt wird. Wir hatten uns im Garten versammelt, um die letzten Strahlen zu genießen. Unter uns gab es Akademiker, Theologen und Politiker. Meine Frau und ich waren die einzigen Vertreter der Diaspora. Bei dieser Gelegenheit hat sich David Flusser, auf beinahe rituelle Weise, auf die Lehren des Ioshua ben Iossef Rabenu (Jesus, Sohn des Joseph, unseren Meister) berufen.

Das existentielle Klima ist in Jerusalem (in ganz Israel) dramatisch religiös: in einem ganz spefizischen, mit dem Handeln verbundenen Sinn religiös. Ganz schematisch kann gesagt werden, daß es drei religiöse Haltungen im Juden-Christentum gibt; die der Tat, des »Werkes« (das Judentum), die der Tat und des Glaubens, »opera et fides« (der Katholizismus) und die des Glaubens, »sola fide« (der Protestantismus). Das Klima in Jerusalem, in ganz Israel, ist, so gesehen, jüdisch religiös. Es ist eine Gesellschaft, die dem Akt des »Opferns« gewidmet ist, und sogar diejenigen, die ihren religiösen Glauben (den jüdischen oder marxistischen) verloren haben, sind zu Opfern bereit: sie würden ihr eigenes Leben und das ihrer Kinder zugunsten von Israel, das in letzter Analyse die Bejahung Gottes ist, aufopfern. Es gibt diejenigen, die an diese Aufgabe glauben, andere bezweifeln sie, und es gibt die, die die Hoffnung verloren haben; praktisch alle sind aber zum Opfer bereit: sie leben religiös. Wenn wir »Drama« mit »Handeln« übersetzen, dann ist das Klima dramatisch. Die Israelis sind »Aktoren« im Sinn von »dramatis personae«. Bei der Schilderung der Diskussion, die ich wiedergeben will, muß man sich dieses Klima vorstellen.

Die Diskussion drehte sich um Agonie, den offenen Todeskampf. Es gab Protagonisten, die für das sich selbst bejahende Judentum kämpften. Und es gab Antagonisten, die sich für ein weltoffenes Judentum einsetzten. Mein Standpunkt war der eines Antagonisten. Ich habe ein pulsierendes Judentum vorgeschlagen, habe unser Herz als Modell genommen: die Phasen der Systole, in denen sich das Judentum auf sich selbst zurückzieht, und die Phasen der Diastole, in denen sich das Judentum über die Menschheit ergießt. Als Beispiel für die Systole habe ich den Auszug aus Ägypten, die Makabäer und die Zionisten gewählt. Ich habe zugegeben, daß die Diastole nur möglich ist als Folge einer vorangehenden Systole, die ihrerseits auf eine Diastole hinzielt. Ich habe auf die bekannte hegelsche These vom unglücklichen Bewußtsein verwiesen: »Wenn wir die Welt gewinnen, verlieren wir uns, und wenn wir uns finden, verlieren wir die Welt.« Die anwesenden Protagonisten haben meine Position vehement bekämpft, die im israelischen Kontext tatsächlich den Beigeschmack von Verrat hat. David Flusser hat bei dieser Gelegenheit, auf seine Weise, an die Figur von Christus erinnert.

Der verlorene Bericht

Wer die von David Flusser geschriebene Biographie von Jesus gelesen hat, wird die Bedeutung des vorangegangenen Satzes verstehen: Jesus als zentrale Figur in der Geschichte des Judentums und »ipso facto« in der Geschichte der ganzen Menschheit, da die jüdische Tradition der ganzen Menschheit das historische Bewußtsein vermacht hat. Jesus ist nach Moses die zweite Revolution im geschichtlichen Bewußtsein, weil er die Bedeutung der menschlichen Existenz in jüdischen und zugleich universellen Begriffen ausdrückt. Gewiß kann Jesus nur von demjenigen verstanden werden und nur der kann ihm folgen, der die konkrete historische Situation richtig erfaßt hat: z.B. den talmudischen Kontext, innerhalb dessen er handelt, und den Kontext, in welchem der jüdische Krieg gegen die Römer vorbereitet wird. Trotzdem geht seine Botschaft über die Geschichte hinaus: er weist auf die existentielle Bedeutung hin, die die Umstände übersteigt.

Wollen wir ihm folgen und ihn nachahmen, ist es demnach notwendig, reicht aber noch nicht aus, über die christliche Tradition auf die historische Figur von Jesus zurückzugehen. Schleier um Schleier verdeckt die christliche Tradition eher die Figur von Jesus, als daß sie sie enthüllt: Die mittelalterliche Philosophie verdeckt die Kirchenväter, diese verdecken den Hl. Paulus, letzterer verdeckt die verschiedenen Evangelien, diese verdecken das »originale« Evangelium und dieses wiederum verdeckt den Meister. Die Schuld an den einander überlagernden Verdeckungen trägt zum Teil die Vergessenheit, wie sie einer lang zurückliegenden Vergangenheit eigentümlich ist, und zum anderen Teil die bewußte Unterdrückung der jüdischen Dimension von Jesus durch die christlichen Autoren, die daran interessiert sind, sich vom Judentum, das die Römische Kirche verneint, zu distanzieren. Diese antisemitische, infolgedessen selbstmörderische Tendenz des christlichen Denkens gibt es sogar in den Evangelien selbst, die ihr Augenmerk eher auf die Griechen und Römer richten als auf die Juden. Deshalb ist auch der Protestantismus unbefriedigend, der mit der Rückkehr zu den Quellen nach der Figur von Jesus sucht, aber über die Evangelien nicht hinausgeht. Daher die Nachforschungen von David Flusser, die darauf abzielen, das Evangelium des Hl. Markus kritisch zu lesen, um den originalen, verlorenen Bericht wiederherzustellen.

Derjenige, der Jesus nachfolgen will (imitatio Christi), muß selbstverständlich wissen, wer Jesus war. Der römische Zenturion, der beim Anblick von Jesus, ohne von dessen Lehre etwas zu kennen, ausrief, »dieser Mensch ist Gott«, kann nicht als Nachfolger Christi angesehen werden. Auch historische Kenntnis, in dem Maße, wie sie verfügbar ist, reicht nicht aus. Es ist nötig, die ganze Bürde des Judentums, die auf Jesus lastet und die er auf eine neue Art formuliert, zu begreifen: um Jesus folgen zu können, muß man Jude sein. Das ist für die Nicht-Juden das Paradox und der Skandal des Christentums: Wer Christ sein will, muß zuerst Jude werden. Obwohl diese Tatsache von der christlichen Tradition verhüllt ist, schimmert sie doch durch.

Jesus ist ein systolischer und zugleich diastolischer Jude (um es mit den von mir vorgeschlagenen Worten zu sagen). Systolisch, weil er die ganze jüdische Botschaft auf sich nimmt und weil er »nur für die Juden gekommen ist«. Und zugleich diastolisch, weil er sich in seiner Botschaft an die ganze Menschheit wendet und auf sie Einfluß nimmt. In der Tat ist Jesus, in seinen Worten wie in seinen Taten, ein vollständiges Modell des Judentums, für die Juden und ebenso für die ganze übrige Menschheit. Wer ihn im Leben nachahmen will, muß danach trachten, radikal und vollständig jüdisch zu leben. Man kann behaupten, daß Modelle einer anderen ontologischen Ebene als der konkreten menschlichen Wirklichkeit angehören. Das Modell der Nachfolge von Jesus hingegen transzendiert die konkrete menschliche Ebene.

Unerträgliche Modelle

Obwohl dies meine eigene Interpretation der Figur von Jesus ist, und nicht die von David Flusser, glaube ich, daß sie organisch seiner Berufung auf Jesus während der Diskussion, die ich beschrieben habe, folgt. Die Kenntnis dieses so reichen, schwierigen und heute so wichtigen epistemologischen und politischen Modells, die Berufung auf Ioshua ben Iossef Rabenu, konnte das Gespräch, das folgte, nicht unberührt lassen. Es wurde schon nahegelegt, daß »Jude sein« im Grunde bedeutet, Modelle vorzuschlagen: die jüdische Familie als Modell für Familie, der jüdische Staat als Modell für Staat, der Kibbuz als Modell für Gemeinschaft, um »systolische, der Marxismus als Modell für Revolution, Schönbergs System als Modell musikalischer Komposition, Husserls Phänomenologie als Modell wissenschaftlicher Forschung, um dyastolische Belege für die These anzuführen. Ich habe vorgeschlagen, als Ursache für den Antisemitismus anzusehen, daß die Modelle, seien sie gut oder schlecht, umfassend oder beschränkt, konsistent oder inkonsistent, grundsätzlich unerträglich sind, weil sie sich der konkreten Wirklichkeit imperativisch aufdrängen. Für diejenigen, die mit beiden Füßen auf dem Boden der Tatsachen stehen, seien die Juden, die nach Modellen (Mizwot*) leben, unerträglich.

Das Gespräch führte zum Zionismus und zum jüdischen Staat. So gesehen ist der Zionismus ambivalent: einerseits versucht er die Juden von dem Modell, eine Mission zu haben, zu befreien, indem er sie zu einem Volk macht wie jedes andere auch, und andererseits schlägt er das Modell des vorbildlichen jüdischen Lebens vor. Sogar die glühenden Verteidiger des Überlebens des Staates Israel »unter allen Umständen« haben zugegeben, daß irgendein levantinischer Staat, wie Syrien zum Beispiel, kein der Nachahmung würdiges Ziel ist. Meiner Ansicht nach ist das die Erklärung der Tatsache, daß das israelische Drama eine Tragödie im wahren Sinn des Wortes ist: Sollte ihm Erfolg beschieden sein, ist es erst recht zur Niederlage verurteilt. Israel ist ein heroischer Akt gegen das »Schicksal«, denn jeder jüdische Staat, in einen historischen und geographischen Kontext integriert, muß notwendigerweise ein Staat unter allen anderen werden und wird ipso facto kein Modellstaat sein.

Die Anwesenden waren mit mir nicht einverstanden, doch schienen mir ihre Argumente nicht treffend. Aus Angst, sie zu verfälschen, werde ich sie nicht wiedergeben. Die Position meines Cousins, David Flusser, war nuancierter als meine eigene und die der anderen Teilnehmer. Ihm liegt daran, Jesus zu folgen und zu versuchen, ein erfülltes jüdisches Leben hic et nunc zu führen, ein Leben, das mit seinen Riten und seinem dramatischen Klima gleichzeitig im Judentum und im aktuellen Strom der Philosophie, der Wissenschaft und Kunst integriert ist. Sollte es der jüdischen Gesellschaft gelingen, ein solches, fast unmögliches Leben zu erreichen, wäre das Problem der Zukunft des Staates in der Praxis gelöst. Die modellhafte Praxis (die »Frucht« von Jesus) ist allen Theorien, die unsere griechische Erbschaft sind, überlegen. Die Zukunft des jüdischen Staates mit allen seinen unlösbaren Problemen wie dem Zusammenleben mit den Arabern, einer Wirtschaft, die immer mit Kriegen rechnen muß und der Lage im Kreuzpunkt zwischen den Großmächten wird in dem Maße einer Lösung nähergeführt, wie es den Juden in Israel und anderswo gelingt, in der Praxis jüdisch zu leben.

Der Standpunkt von David Flusser (sollte es mir gelungen sein, ihn treu wiederzugeben) ist streng religiös. Es ist der Standpunkt des Juden-Christentums. Er selbst definiert ihn, in seiner gewohnten Ironie, als »vor-emanzipatorischen Zionismus«. Wie auch immer: Israel im jetzigen Kontext besucht und David Flusser als Führer und Gesprächspartner gehabt zu haben, war eine Art Gnade. Man wird aufgefordert, sein eigenes Leben neu zu bedenken und neu zu werten: das Judentum unter neuen Koordinaten zu suchen.

* Fest der Erstlingsfrüchte, 50 Tage nach Pessach

** ein Wüstenwind

* Plural von Mizwa (hebr. »Gebot«): ursprüngliche Bezeichnung für die Gesamtheit der religiösen Ge- und Verbote des Judentums.

Jude sein

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