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4 ROMY FINK
ОглавлениеDAS SOGENANNTE »KENNENLERNEN« von Menschen ist bekanntlich ein Prozeß, den man besser als »Lernen des Nicht-kennen-könnens« bezeichnen sollte. Je tiefer ich in einen Menschen eindringe, desto mehr öffnen sich für mich die geheimnisvollen Abgründe, deren Oberfläche er darstellt. Allerdings verfehlt diese Schilderung vollständig das Wesentliche dieses Prozesses. Es ist ja nicht so, daß ich den anderen wie ein Problem »lösen« wollte, sondern weit eher so, daß er sich mir öffnet, weil ich mich ihm öffne. Das abgründig Geheimnisvolle des anderen ist die Folge jenes gegenseitigen Sogs, der eben »Dialog« genannt wird. Darum hat das Mysterium des anderen nichts mit der Problematik des Menschen zu schaffen. Der Mensch ist ein kolossal kompliziertes System für den Anthropologen, und darum problematisch. Aber dem Freund ist der Freund kein Problem, sondern ein unergründliches Geheimnis.
Diese allgemeine Bemerkung steht allerdings in einem seltsamen Widerspruch zu der Erfahrung, daß es Menschen gibt, die ein Geheimnis in sich bergen – sozusagen ein Geheimnis zweiten Grades. Dies ist vielleicht so zu verstehen: Der gähnende Abgrund, der sich dem Freund im Freund öffnet, ist das Geheimnisvolle. Aber manchmal stößt man in diesem Abgrund auf einen Widerstand, der nicht erlaubt, weiter in ihn zu tauchen. Und dieser Widerstand ist das Geheimnis im Geheimnis. Bleibt man bei diesem Bild, dann lassen sich zwei Arten von »Geheimnissen« unterscheiden. Bei der ersten Art ist der Widerstand ein Block, der ein Fortschreiten in den Abgrund des anderen verbietet. In diesem Fall ist der andere geheimnisvoll, weil etwas in ihm (und ihm) verborgen ist, das entweder nicht ans Licht kann oder nicht ans Licht darf. Im zweiten Fall ist der Widerstand ein Nebel, der immer dichter wird, je tiefer man in den Abgrund des anderen eindringt. Es handelt sich also nicht eigentlich um einen Widerstand, sondern um eine Verdunkelung. Das Geheimnisvolle an einem solchen Menschen ist nicht, wie im ersten Fall, daß er etwas zu verbergen hat, sondern, im Gegenteil, daß er nichts zu verbergen hat und dabei doch immer undurchsichtiger wird, je mehr er sich öffnet. Man sieht sozusagen nie seine Tiefen, sondern immer besser die Unmöglichkeit, seine Tiefen zu sehen. Im ersten Fall läßt sich das Geheimnis lüften, zum Beispiel durch gegenseitiges hemmungsloses Vertrauen. (Oberflächlich ist ja das die Methode der Analyse.) Im zweiten Fall läßt sich das Geheimnis nie lüften, denn es ist das Wesen des anderen. Das ist der Fall der tatsächlich geheimnisvollen Menschen. Sie sind als Thema für Psychoanalysen und Kriminalromane nicht zu gebrauchen: es gibt für sie keine Schlüssel. Sie sind kein Rätsel: sie sind ein Geheimnis.
Aber auch das eben Gesagte ist eine Verallgemeinerung und trifft nicht den konkreten anderen. Wer nämlich die beiden oberen Absätze gelesen hat, könnte glauben, daß eine Aura des Mysteriums um die Gegenwart Romy Finks gelagert gewesen wäre, dieses meines geheimnisvollen Freundes. Nichts ist weiter von der Wahrheit entfernt. Er war ein typischer erfolgreicher Bürger und stand mit beiden Füßen fest auf jenem Boden, den die Bürger für die Wirklichkeit halten. Ich bin sogar verleitet zu sagen, daß er unter allen meinen Freunden der prosaischste war, in dem Sinn, daß er am wenigsten vom Zweifel an dieser Realität angefressen war. Vielleicht kann ich dem Leser das Geheimnisvolle an ihm am besten durch Aufzählen von Fakten übermitteln. Eine solche Methode entspricht auch Romys Mentalität am besten.
Er erschien in den fünfziger Jahren als englischer Jude in São Paulo, zu einer Zeit also, da englische Juden eigentlich nicht kamen. Er kam, so sagte man, als Rechtsberater eines Liverpooler Textilkonzerns. (Es stellte sich später heraus, daß diese Information richtig war und daß er ein bedeutender Londoner Advokat war.) Statt aber diese Arbeit zu machen, lebte Romy äußerst bescheiden und ernährte sich durch Englischstunden. Dabei stellt sich zur Überraschung seiner Schüler heraus, daß er ein hervorragender Shakespeare-Spezialist war. Er hatte an einer Interpretation des Macbeth gearbeitet, und auch seine Arbeit über Hamlet hatte in England einige Aufmerksamkeit gefunden. Dies führte dazu, daß er begann, Vorträge über Shakespeare zu halten und darüber Artikel in der Presse zu schreiben. Dabei kam zum Vorschein, daß er enge Beziehungen zum Theater hatte. Langsam, sozusagen Schritt für Schritt, kam heraus, daß er nicht nur an Theatern, sondern besonders in Balletts gearbeitet hatte. Er war einer der Direktoren des Balletts von Monte Carlo gewesen und hatte ziemlich eng mit Dhagileff zusammengearbeitet. Er hatte eine Theorie des Balletts geschrieben. In diesem Zusammenhang, und sozusagen gegen seinen Willen, wurde bekannt, daß er auch auf die Londoner Oper einen Einfluß ausgeübt hatte und »The Queen’s Musician« war. Tatsächlich war er, wie sich zeigte, ein tiefer Kenner insbesondere Verdis.
Dies war aber nur eine der Linien, die sukzessive aus seiner Gegenwart in São Paulo strahlten. Durch seltsame Umstände kam heraus, daß er ein Kenner orientalischer Kunst war, daß er Studien über persische Kunst getrieben und daß er ein allgemein anerkanntes Buch über chinesische Keramik geschrieben hatte. Diese Seite seiner Tätigkeit kam dann, vielleicht zu seiner eigenen Überraschung, am meisten zur Geltung. Er begann als Kunstkritiker tätig zu werden und sich für brasilianische Malerei zu interessieren. Daraus entstand eine kleine Bildergalerie, die in wenigen Jahren zur bei weitem größten und entscheidendsten Bildergalerie Brasiliens wurde. Als er 1972 starb, hatte er eine Schlüsselstellung auf dem brasilianischen Kunstmarkt inne, baute Künstler auf und vernichtete sie nach seinen eigenen Kriterien und war dabei zu einem sehr reichen Menschen geworden.
Kurz nach seiner Ankunft in Brasilien wurde, wieder gegen seinen Willen, bekannt, daß er ein streng orthoxer Jude war und aus einer alten deutschen Rabbinerfamilie stammte. (Daher sein Vorname »Romy«.) Langsam wurde auch bekannt, daß er ein bedeutender Talmudist war. Es bildeten sich um ihn Kreise, die mit ihm den Talmud lasen. Leider habe ich diesen Lektüren nie beigewohnt, weil mir die dazu nötige Vorkenntnis fehlte. Doch habe ich in meinen Gesprächen mit ihm oft Probleme des Talmuds anschneiden dürfen. Im Zusammenhang damit kam heraus, daß er in der jüdischen Mystik, besonders dem Sohar, bewandert war, es aber systematisch ablehnte, darüber zu sprechen. Mir gegenüber jedoch gestand er mit lächelndem Widerwillen, an esoterischen Kreisen teilgenommen und dabei Erlebnisse gehabt zu haben, die auf sein Leben entscheidenden Einfluß gehabt hätten. Sie hatten anscheinend damit zu tun, daß er England verlassen hatte. Wie, das blieb ein Geheimnis.
Unabhängig davon kam heraus, daß Romy im Krieg eine Rolle gespielt haben mußte, die irgendwie mit Diamanten zu tun hatte. Diamantenschleiferei war der Beruf seiner Familie gewesen, und Romy muß diese Kenntnis wohl im Krieg für England ausgenützt haben. Dieser ganze Komplex jedoch blieb immer nur angedeutet. Hinzu kommt, daß er Kontakt mit Menschen hatte, die weder zu ihm selbst noch zueinander paßten: zum Beispiel mit international bekannten Sängern und Schauspielern, die ihn aufsuchten, wenn sie in São Paulo Gastspiele gaben; mit einem chinesischen Maler der konfuzianischen Schule, der nach Campinas geflüchtet war; mit unbekannten amerikanischen Rabbinern, mit internationalen Advokaten, mit einem amerikanischen Psychologen, mit obskuren bulgarischen Aristokraten usw. Wo immer man in seine Welt faßte, zerrann sie zwischen den Fingern. Dabei war er in die großbürgerliche brasilianische Gesellschaft eingebettet, die ja seine Kundschaft in den Galerien war und mit deren Hilfe er Kunstausstellungen in ganz Brasilien organisierte. Eigentlich aber fühlte er sich nur auf unserer Terrasse und mit unseren Freunden zu Hause.
Bei der Aufzählung dieser (und anderer) Tatsachen ist für das Verständnis von Romys Persönlichkeit eigentlich nur folgendes wichtig: Die verborgenen Zusammenhänge, die langsam ans Licht rückten, waren gegen seinen eigenen Willen bekannt geworden, obwohl doch scheinbar nicht das geringste Motiv bestand, sie verschweigen zu wollen. Allerdings ist auch verwirrend, wie diese Tätigkeiten sich chronologisch in ein Leben von sechzig Jahren einordnen konnten; und warum Romy São Paulo gewählt hatte, um dort seine letzten Aktivitäten zu entfalten. Das ist, oberflächlich gesehen, was ich mit Romys »Geheimnis« meinte.
Tiefer gesehen aber lag das Geheimnis Romys für mich auf einer ganz anderen Ebene, nämlich auf der des religiösen Lebens. Romy war ein orthodoxer, talmudischer Jude. Selbstredend hatte ich auch schon vorher solche Menschen kennengelernt: zum Beispiel Rabbiner, einen russischen Geschäftsmann und einige vom westlichen Standpunkt »primitive« Handwerker des jüdischen Viertels Bom Retiro. Aber es war immer ein äußeres Erlebnis geblieben. Die jüdische Religiosität war für mich immer in ihrem Wesen unreligiös, denn sie war nicht »theologisch«. »Assimilierter Jude« zu sein, heißt eben im Grunde, christlich religiös, also im Problem des Glaubens zu leben. Wenn man als assimilierter Jude vom Glauben abfällt, dann ist es ein Abfall vom christlichen Glauben. Es ist seltsam zuzugeben, aber es ist so: Die jüdische Religiosität war mir fremder als die indische und weit fremder als die Religiosität der brasilianischen »Macumba«. An dieser meiner »Assimilation« hat mein Kontakt mit Romy gerüttelt.
Aus dem unüberblickbaren Reichtum der Lehren, die mir Romy bot, will ich nur zwei Punkte herausheben, da sie auf mein künftiges Leben besonderen Einfluß hatten: das Ritual und die Ehrfurcht vor dem Nächsten. Allerdings werden diese beiden Aspekte des jüdischen Lebens nur in ihrem Kontext, dem konkreten Dasein Romys, verständlich. Aber ich hoffe doch, daß ein Schimmer davon auch in der notwendig verkürzten Sicht, wie ich sie hier biete, bis zum Leser dringt und ihm Romy übermittelt.
Die Zusammenkünfte auf unserer Terrasse fanden Samstagnachmittag statt und zogen sich bis tief in die Nacht auf Sonntag hin. Es waren dabei einige von denen anwesend, über die ich hier* schon sprach, einige, über die noch zu sprechen sein wird, einige, die unerwähnt bleiben müssen, und dazu kamen Menschen von auswärts und eine Reihe junger Leute (meine Schüler). Romy kam oft als erster, und zwar kam er zu Fuß von seiner etwa fünf Kilometer entfernten Wohnung. Nach beendetem Samstag kam seine Frau mit dem Wagen, um ihn abzuholen. Das Essen, das gereicht wurde, berührte er nicht, es war nicht koscher. Das aber war nicht das echt Rituelle an diesem Vorgang, sondern die Zusammenkünfte bei uns waren selbst ein Sabbatritual für Romy. Auf diese Weise heiligte Romy den Tag. Um es christlich zu sagen (denn anders kann ich es nicht): sie waren seine Art, sich dem Transzendenten zu öffnen.
Ich habe darüber oft mit ihm gesprochen, um zu versuchen, dies zu verstehen, daß am Samstag nicht zu fahren und koscher zu essen nichts als Vorbedingungen sind, die Samstagsdialoge auf der Terrasse als Ritual, als Heiligung führen zu können. Die Gespräche waren lehrreich. Aber ihn zu beobachten, war eine bessere Methode, in den Geist des Judentums einzudringen: zu erleben, daß die zahllosen Gebote und Verbote nicht eine Begrenzung sind, sondern eine existentielle Befreiung zum sinnvollen, weil geheiligten Leben. Es strahlte eine Fröhlichkeit aus ihm, die gleichzeitig formal, übertrieben scheinende Höflichkeit und echte Herzlichkeit war. Es ist diese Mischung des Formalen und des existentiell Echten, die das Wesen des Rituals ausmacht.
Das also ist der Sabbat: den Sinn des Lebens über sich und in sich konkret zu fühlen, und zwar im Zusammenleben mit anderen und in der Öffnung dem ganz Anderen gegenüber. Die Gemeinschaft ist bei der Sabbatfeier nicht Selbstzweck (die Freunde versammeln sich nicht auf der Terrasse, um einander zu sehen), sondern sie ist ein Feiern des Heiligen (sie kommen zusammen, um »Themen« zu besprechen). Aber eben weil sie feierlich ist, ist sie echte Gemeinschaft (eben weil sie Themen besprechen, sind die Zusammengekommenen, trotz der heftigsten Widersprüche, wirklich Freunde). Das bedeutet, daß »Politik«, ganz im Gegensatz zur griechischen Auffassung, für das Judentum nicht die Suche nach der idealen Gesellschaft ist, sondern die Suche nach Gott durch die Gesellschaft. (Und das wieder ist ein Aspekt des Messias, der durch den Sabbat hindurchscheint.)
Kurz, der Sinn des Lebens wird im feierlichen Zusammenleben ersichtlich, aber dieses feierliche Zusammenleben selbst ist von Regeln geordnet, die an sich vollkommen sinnlos erscheinen. Das ist das Wesen der jüdischen Riten. Wo nämlich eine Gesellschaft nicht von scheinbar sinnlosen Regeln geordnet ist, wo diese Regeln »vernünftig«, »effizient« oder »zweckhaft« sind, dort ist die Gesellschaft nicht feierlich, und das Leben in ihr ist sinnlos. Dies war für mich an Romy die wichtigste Entdeckung: daß die Riten an sich sinnlos sein müssen, um zu einer Feierlichkeit zu führen, in der sich der Sinn des Lebens ereignet. So sind die jüdischen Riten das direkte Gegenteil der heidnischen: da sie sinnlos sind, sind sie antimagisch. Und jeder Versuch, diese Riten »erklären« zu wollen (etwa sie »ethisch« machen zu wollen), ist heidnisch. Samstags nicht Auto zu fahren, ist sinnlos, und zu sagen, daß es gut für die Verdauung ist, ist heidnisch. Aber weil es sinnlos ist, heiligt es den Sabbat und öffnet mich der feierlichen Zusammenkunft auf der Terrasse. Zweifellos, nicht Auto zu fahren, ist ein »Opfer«. Aber nicht ein düsteres, heidnisches Opfer, bei dem etwas aufgegeben wird (Iphigenie), um etwas anderes zu erlangen (den Sieg über Troja), sondern es ist ein heiteres Opfer zum Ruhm des ganz Anderen. Auf diese Weise ist es mir gelungen, Abraham und Isaak jüdisch und nicht mit den Augen Kierkegaards zu sehen. Und so ist es mir auch gelungen, den Nicht-Zionismus Romys zu verstehen: eine nichtrituelle Gesellschaft wie Israel ist sinnlos, eben weil sie nach sinnvollen Regeln geordnet ist, und dabei nützt es gar nichts, daß Israel den Riten an gewissen Stellen »Platz macht«. Entweder nämlich ist das ganze Leben rituell (also durch Sinn geheiligt), oder es ist profan, und dann ist es geradezu Hohn, Ritual in ein solches Leben zu injizieren. Romy lebte ein feierliches Leben: er war Jude.
Dies wurde mir dank Romy klar, und nicht dank der anderen orthodoxen Juden, die ich kannte, weil Romy mein Freund war. Romy konnte mein Freund nur sein, weil er, wie ich, ganz in westlichen Werten lebte. Es war westliche Kunst, westliche Philosophie, westliche Wissenschaft, über die wir gemeinsam nachdachten und in der wir gemeinsam zu handeln versuchten. Romy war Engländer, und ich war, in diesem Sinn, »Deutscher«, und beide waren wir für Brasilien engagiert, obwohl jeder auf seine Weise. Die übrigen orthodoxen Juden, die ich kannte, standen am Rand meiner Welt, sie waren für mich exotisch, weil sie nicht in vollem Sinn Okzidentale waren. Auch das ist ein Aspekt des Geheimnisses an Romy: daß er ganz Jude und dabei ganz okzidental war. Gerade darin aber lag für mich die unlösbare Frage: Dank Romy konnte ich zwar das Judentum zum ersten Mal verstehen und erleben, aber ich konnte es nicht für mich akzeptieren. Ich konnte nämlich nicht umhin, das Ritual ständig zu interpretieren, zum Beispiel als »geste gratuit«, als absurde Handlung, weil ich nie aus dem philosophischen Denken herausspringen konnte, und das Judentum ist antiphilosophisch. Ich war nicht fähig, mein griechisches Erbe zu amputieren. So konnte ich das Judentum zwar bewundern und ihm mit einer Art Heimweh nachtrauern, aber einen Sinn für mein Leben konnte und kann es mir trotz Romy nicht geben. Ich habe Romy zwar verstanden (und vielleicht beneidet), aber ich habe mich nicht in ihm erkannt und konnte ihm nicht folgen.
Der zweite Aspekt des Judentums, den Romy mir vorlebte, war die Ehrfurcht vor dem anderen. Zu Anfang meiner Freundschaft zu ihm erschien mir sein Benehmen befremdlich, denn er war für meine Begriffe viel zu höflich, geradezu überschwenglich in seinem übertriebenem Lob für alle anderen. Das stieß mich ab, denn ich konnte nicht glauben, daß es ehrlich gemeint war. Später begann ich diese Einstellung zu begreifen, und noch später, während einer Talmud-Diskussion mit Romy, fand ich die Zusammenhänge. Es gibt für das Judentum, so legte er den Talmud aus, nur eine einzige nie wiedergutzumachende Sünde: die Beleidigung des anderen. Alle anderen Sünden lassen sich kompensieren, diese aber nie, denn sie trifft das irrekuperable Wesen des anderen. Und der andere ist die einzige Art, wie ich Gott konkret erlebe. Gott ist im anderen. Wenn ich den anderen beleidige, habe ich Gott beleidigt. Und wenn ich den anderen ehre, so ist das Gottesdienst, und zwar der einzige Gottesdienst, der nicht in Heidentum mündet. Ob ich an Gott glaube oder nicht, ist vollkommen gleichgültig, und wie ich an ihn glaube, ist womöglich noch gleichgültiger: Ich diene ihm, wenn ich den anderen ehre. »Liebe Deinen Gott über alle Dinge«, dieses oberste Gebot des Judentums ist synonym mit »Liebe deinen Nächsten«.
Das alles war für mich überzeugend, solange es theoretisch gesagt blieb. Aber es begann mich abzustoßen, sobald es in die Praxis übertragen wurde. Denn was bedeutet »beleidigen«, wenn nicht »herabsetzen vor den anderen«? Es handelt sich dabei immer um die Maske (die »persona«) des anderen. Es sieht im anderen nur die Person, nicht, was hinter ihr vielschichtig sich aufbaut. Also ist die jüdische Praxis eine Gesellschaftspraxis, und das Judentum ist ja nichts als Praxis. Dieses Soziale aber kam mir unreligiös vor. Das Christentum erlebt Gott vor allem in der Einsamkeit, als das große Du, vor dem ich allein bin. Das ist mein Gotteserlebnis. Für das Judentum ist Gott im anderen. Das war nicht mein Gotteserlebnis. Ich weiß zwar, daß ich dadurch im jüdischen Sinn von Gott abgefallen bin, und ich habe ein Gewissen, welches dies deutlich ausspricht. Dies Gewissen sagt mir, daß alles außer Engagement am anderen (dem politischen Engagement im jüdischen Sinn) reine Hypokrisie ist. Und doch kann ich das einsame Erlebnis als wahres religiöses Erlebnis nicht leugnen. Ich bin im Wesen nicht jüdisch.
Bei alldem ist mir klar, wie eng das Judentum und das Christentum verbunden sind und wie sie ineinander-fließen. Ich weiß, daß es auch im Judentum eine innige Frömmigkeit gibt und daß auch dem Christentum das politische Engagement als Gottesdienst nicht fremd ist. Aber es besteht ein Unterschied im Akzent, und dieser Unterschied ist entscheidend. Dies hat mir Romy talmudistisch erklärt, und er hat es mir vorgelebt, doch ich konnte die jüdische Variante des Judenchristentums nicht akzeptieren. Dies ist vielleicht der tiefste Grund, warum ich mein Engagement an Brasilien unterbrechen mußte: weil es für mich, trotz aller Gewissensbisse, nicht der richtige Gottesdienst war. Ich mußte in die Einsamkeit, um mich zu finden. Nietzsche gegen Buber.
Romy ist bei einem Besuch seines Vaters in New York plötzlich gestorben. Das war ein ganz anderer Tod als die drei anderen, die ich beschrieben habe. Bei Romy war der Tod ein selbstverständlicher Teil des Lebens. Sein Leben war immer vollendet, denn er führte ein feierliches, ein heiteres Leben. Der Tod hatte bei ihm keinen Stachel. Er gehörte zum Leben. Rilke sagt: »Gib jedem seinen eigenen Tod«, und Romy wurde der eigene Tod gegeben. So wie er starb, so sollte man sterben. Aber um das zu können, muß man so wie er leben können.
* Das Porträt Romy Finks ist ein Kapitel von Vilém Flussers Autobiographie »Bodenlos«, Bensheim 1992.