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3 VATER

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DAS VIERTEL BOM RETIRO (gute Zuflucht) der Stadt São Paulo war noch vor wenigen Jahren ein Gewirr von Judengassen. Das geschäftige Gedränge war bunt, portugiesische und jiddische Rufe verbanden die Gehsteige, Kaftan-bekleidete und Schläfenlocken-tragende Verkäufer priesen Bluejeans an, halbnackte Frauen vor vergitterten Fenstern priesen sich selbst an, und Volkswagen versuchten hupend, sich einen Weg zu bahnen. Damals ging ich des öfteren hin, angeblich nicht, um die halbnackten Frauen und die ausgestellten Kleidungsstücke zu besichtigen (die allerdings beide von minderwertiger Qualität waren), sondern um eine Art von ethnischem Puzzle zu spielen. Ich suchte mir einen beliebigen Menschen aus der Menge aus, versuchte seine Herkunft zu erraten, befragte ihn dann danach und gab mir selbst Punkte. Es war mir ein Leichtes, zwischen den sephardischen und aschkenasischen Juden zu unterscheiden, schwieriger war es, unter den sephardischen etwa ungarische von türkischen und unter den aschkenasischen etwa russische und deutsche zu unterscheiden, und das Spiel wurde spannend, wenn es galt, etwa zwischen einem Konstantinopler und einem Smirnaer, oder zwischen einem Frankfurter und einem Mannheimer unterscheiden zu wollen. Doch einmal erlebte ich eine Überraschung:

Ein alter Herr, mit Vollbart, aber ohne Schläfenlokken, mit einem Gebetsmantel ähnlichen Gewand, aber ohne Kapperl, und in Sandalen, ging langsam über die Gasse, und ich war unfähig, ihn unter die Hauptkategorien »Aschkenas-Sepharad« einzuordnen. Ich sprach ihn also an (portugiesisch und in gebrochenem Jiddisch), aber er verstand mich nicht und antwortete höflich in einer mir fremden Sprache. Ich bin zwar in semitischen Sprachen sehr wenig bewandert, habe aber ein gutes Sprachgefühl, und die Sprache des alten Herrn klang in meinem Ohr wie ein sehr altertümliches Hebräisch – als ob der Herr lateinisch statt portugiesisch gesprochen hätte. Ich unterdrückte jedoch sofort das leichte Gruseln: Wahrscheinlich war der alte Herr ein jemenitischer Jude, sprach einen mit Hebräisch durchsetzten südarabischen Dialekt und war erst jüngst nach Brasilien gekommen. Er war sichtlich im neuen Land desorientiert, und ich mußte ihm beistehen. Um dies tun zu können, mußte ich aber seine Sprache verstehen. Ich hielt daher ein Taxi an, bat den alten Herrn einzusteigen (er tat es mit höflicher Verbeugung), und sagte dem Lenker, er möge uns zur Stadtbibliothek bringen. Sicher sind dort jemenitische Wörterbücher zu finden.

Sie sind tatsächlich dort, und (wie uneingestandener-weise erwartet) entsprechen sie nicht der Sprache des alten Herrn. Ich bitte daher die Bibliothekarin, nach einem chaldäischen Wörterbuch zu suchen. Während sie damit beschäftigt ist, sitze ich dem lächelnden alten Herrn im großen, verlassenen Lesesaal gegenüber und versuche fieberhaft, die armseligen mir verfügbaren Daten betreffs »Chaldäa« aus dem Gedächtnis zusammenzukratzen. Ich finde dort zwei Brocken: »Ur in Chaldäa« (Abrahams Heimat) und »Chaldäer« als klassische Bezeichnung für Magier und Astrologen. Dabei hat »Ur« für mich einen deutschen Beigeschmack, wiewohl ich mir der falschen Etymologie bewußt bin, und bei »Chaldäer« muß ich auch an die Sprache einer orientalischen Kirche denken. Diese beiden Brocken scheinen keinen Zusammenhang zu haben. Ich muß weiter im Gedächtnis suchen, mich an meine Schulzeit erinnern.

Ein Volk im Zweistromland (Kaldi, Kasdîm, Kar-Dunjasch), älter als das babylonische, zweifellos semitisch, aber mit den nicht-semitischen Sumerern in Wechselbeziehung. Einige babylonische Könige (Nabupolassar und seine Nachfolger) sind Chaldäer gewesen. Die babylonische Priesterkaste war vorwiegend chaldäisch. Abraham, soweit er historisch überhaupt faßbar ist, entstammt einer chaldäischen Mittelperiode (etwa Mitte des zweiten Jahrtausends v. Chr.). Die klassische Bedeutung von »Chaldäer« ist auf Daniel (etwa fünftes Jahrhundert v. Chr.) zurückzuführen. Noch später wurde die chaldäische Sprache mit der babylonischen und sogar der aramäischen verwechselt. Und jetzt kommt die Bibliothekarin strahlend zurück: Sie hat ein chaldäisch-englisches Wörterbuch gefunden. Ich flüstere ihr zu, damit der alte Herr es nicht hört (lächerlich, er versteht kein Wort portugiesisch), sie möchte mir alles unter dem Stichwort »Abraham« Verfügbare bringen.

Ich schlage das Wörterbuch auf, der alte Herr blinzelt vergnüglich. Ich lese fragend: »Abi-ram?, Ab-hamon?, Ab-rucham?, Ab-ram?, Sarai?, Sara?« Er antwortet lachend »Abi«. Trotz des Lachens ist ein Unterton von Autorität herauszuhören. Denn ich verstehe, was er sagt: »Ich bin dein Vater, du mein Sohn, und es ist gleichgültig, welchen meiner Beinamen du vorziehst.« Ich blättere nach und frage: »Vater der Gläubigen? Vater des Glaubens?« Er gibt eine sichtlich lustige Antwort. Laut Wörterbuch: »Vater des Sandes am Meer, der zerstreut wurde, um alle Räderwerke kaputt zu machen.« Ich kann nicht mitlachen, denn es läßt mich stutzen. Hat es etwa zu seiner Zeit in Ur Räderwerke gegeben? Er merkt das, nimmt mir das Wörterbuch aus der Hand, und von nun ab ist er es, der das Gespräch leitet. Er weist bei seiner Rede auf die entsprechenden englischen Worte, und ich verfahre entsprechend.

Er beginnt mit der folgenden Aussage: »Ich bin hergekommen, um Fragen zu stellen, nicht, um ausgefragt zu werden. Ich bitte dich höflich, aber dringend, unsere beiden Rollen nicht zu vertauschen.« Gedemütigt kann ich nicht anders, als auf »okay« zu weisen. Aber da kommt die Bibliothekarin mit einem Berg von Büchern. Abraham versteht, worum es geht, und zeigt mit lächelnder Geste, ich könne ruhig über ihn nachschlagen, er könne warten. Es liest sich wie ein Polizeibericht: Landflucht, Prostituierung der eigenen Frau, gegenseitige Betrügereien mit seinem Geschäftspartner, versuchter Mord am eigenen Sohn, widerrechtliche Enterbung aller anderen Söhne, Schacher mit Konkurrenten und sogar mit Gott. Warum schmunzelt der alte Herr, während ich das lese? Ich sehe plötzlich den Grund ein: Er hält die Lektüre für pädagogisch. Ich soll den Unterschied zwischen Verbrechen und Sünde lernen. Alles, was Abraham verbrach, tat er guten Glaubens, und dieser gute Glaube war das Motiv aller seiner Taten. Ich lerne Gutgläubigkeit als Verschmitztheit, als Strategie kennen. Abraham rückt dabei in die Nähe des Ulysses. In dieser guten Laune beginnt das eigentliche Gespräch mit dem Vater.

»Hat Gott eigentlich sein Versprechen gehalten?« Ich glaube, er meint das Versprechen vom Sand am Meere. »Es gibt etwa 16 Millionen Juden (Kinder deines Enkels Jakob), aber weit über vier Milliarden andere Leute.« So war das aber nicht gemeint: Abraham hat kein Interesse an Statistiken und an Juden. »Keine Ausreden bitte. Hat Gott es später besser gemacht als damals mit der Sara?« Ich habe ihn jetzt verstanden und kann auf ihn eingehen.

»Er hat, soviel ich weiß, den Versuch einige Male wiederholt, und drei dieser Versuche, mit der Rachel, mit einer gewissen Maria und mit einem Araber namens Mohammed, sind relativ erfolgreich gewesen.« »Von der Rachel weiß ich, erzähl mir von dieser Maria.« »Er hat sie durch Gabriel geschwängert, es ist ein Rabbiner namens Jesus daraus geworden, und der hat die Sünden aller Leute auf sich genommen.« »Ist damit die Sünde aus der Welt geschafft worden?« »Nein, denn dieser Jesus hat seine Botschaft ins Unglaubwürdige vertuscht und nur jene von der Sünde erlöst, die trotzdem daran glaubten.« »Warum tat er dies?« »Um den Leuten die Entscheidungsfreiheit nicht zu nehmen.« »Nicht schlecht gedacht, aber wahrscheinlich nicht sehr wirksam?« »Du hast recht: Die meisten Leute haben nämlich nicht wirklich geglaubt, sondern dies nur vorgetäuscht, und damit ist die Sache mit dem Sündigen noch ärger geworden als zu deinen Zeiten.« »Aha, und darum wohl der neuerliche Versuch mit diesem Mohammed?« »Ja, und in diesem Fall hat Gabriel die göttliche Botschaft in die Feder diktiert, um Irrtümer zu vermeiden.« »Es ist ein Buch daraus geworden?« »Ja, der Koran, als zweite, verbesserte Ausgabe von Jesus.« Er lacht schallend: »Ein Buch statt eines Menschensohns, auf so was muß man kommen. Und was ist daraus geworden?« »Es kommt darauf an, wie du es ansiehst. Viele Leute benützen das Buch, um andere damit zu bekämpfen.« Neues Gelächter: »Das gönn ich Ihm. Er hat schon immer eine zu gute Meinung gehabt in Bezug auf Seine am sechsten Tag vollbrachte Leistung.«

»Und was haben die Leute sonst für Unfug getrieben, seit ich weg bin?« Soll ich ihm etwa die Geschichte der letzten dreieinhalbtausend Jahre erzählen? »Sie haben die Welt immer besser verstanden und dadurch die Welt und sich selbst ziemlich verändert. Das wirst du ja bemerkt haben, seit du zurück bist.« »Haben sie die Welt zu verstehen versucht, um sich selbst zu verändern?« »Viele versuchten, die Welt zu verstehen, ganz einfach, weil sie so interessant ist.« »Bitte schweige davon, wegen solcher Leute habe ich ja Ur verlassen. Erzähl mir lieber von den anderen Leuten.« »Viele haben versucht, die Welt und sich selbst zu verändern, weil sie der Meinung waren, daß nicht alles so ist, wie es eigentlich sein sollte.« »Das ist eine vernünftige Meinung. Also die Leute haben versucht, die Welt zu verstehen, um Seine Fehler korrigieren zu können?« »So kann man es auch sagen. Aber eigentlich ist es angebrachter, statt dessen zu sagen, daß die Leute etwas besser leben wollten.« »Und ist ihnen das gelungen?« »Nun ja, sie leben jetzt länger, leiden weniger an Schmerzen, haben mehr Erlebnisse und haben mehr Dinge zu ihrer Verfügung.« »Du Trottel, das nennst du besser leben?«

Ich bin beleidigt. »Entschuldige, und was nennst denn du besser leben?« »Ich verbitte mir deine Arroganz. Antworte auf meine Frage.«

»Ich nenne ›besser leben‹ (mit einigen Vorbehalten), wenn man mehr lebt.« Er krümmt sich vor Lachen: »Du hältst das Leben für Selbstzweck? Du fragst mich, wozu man lebt?« »Es gibt Leute, die das fragen, aber die Antworten sind so dürftig, daß ich mich schäme, sie dir zu erzählen.« »Nur Mut, liebes Söhnchen, leg los mit der Sache.« »Einige Leute sagen, daß wir zum Tod leben, die meisten glauben das, ohne es laut einzugestehen. Andere sagen, daß man für andere Leute leben solle, aber wenn man sie fragt, wozu diese anderen leben sollen, werden sie böse. Manche andere sagen, man lebe für seine Enkel, welche ihrerseits wieder für ihre Enkel leben. Manche sagen, man lebe, um in den Himmel zu kommen, aber du weißt wahrscheinlich besser als sie, wie es dort aussieht. Ich selbst glaube, man lebt, um so viel wie möglich zu lernen, zu genießen und mit anderen Leuten zu reden, aber das nennst du vertrottelt.«

»Vielleicht war ich ein wenig zu streng mit diesem deinem Lernen. Was hast du eigentlich gelernt?« »Ich will dir ein Beispiel geben: Ich weiß jetzt, daß die Welt viel größer und älter ist, als du glaubst, du mit deinen sechs Tagen.« Er wird zornig: »Schwafel nicht. Was heißt größer und älter?« »Ich kann dir gar nicht sagen, wie alt und wie groß sie ist, du würdest diese Größenordnungen nicht verstehen.« »Aber du selbst verstehst sie?« Ich stottere: »Ich auch nicht.« Er verschluckt sich vor Lachen: »Und so einen Blödsinn hast du gelernt?« »So blöd, wie du meinst, ist das nicht: Man kann einiges damit machen.« »Was zum Beispiel? Besseren Ziegenkäse?« »Mach dich nicht lustig über deine Kinder. Und verachte den Ziegenkäse nicht: du selbst hast dich mit Lot deswegen herumgestritten.« »Ich bin meinem Alter ein würdiges Verhalten schuldig, sonst hättest du eine sitzen. Red nicht über Lot und über Dinge, die du nicht verstehst, sondern erzähl mir, was ihr mit diesem Erlernten gemacht habt.« »Tatsächlich besseren Ziegenkäse, und auch solche Taxis wie das, welches dich hergebracht hat.« »Dieses lächerliche stinkende Wakkelzeug, das sich zwischen die Leute zwängt, um sie zu zerquetschen?« »Das Zeug hat auch eine andere Seite: es macht die Leute freier, sich schnell von einem Ort zu einem anderen zu begeben, zum Beispiel von Ur nach Ägypten.« (Das konnte ich mir nicht verbeißen.)

Er erhebt sich, streckt beide Arme aus und schreit: »Du glaubst, ich bin weg von Ur, um derart frei zu werden? Ich verfluche meinen Samen.« Ich stürze zu seinen Füßen und berge mein Haupt in seinem Schoße. »Lehre mich, Vater, wozu man lebt, lehre mich wahre Freiheit.« Sein Zorn ist in Lachen umgeschlagen. »Der Fluch hat also gewirkt. Das muß ich Ihm erzählen.« »Darf ich dir jetzt auch eine Frage stellen? Worüber lachst du?« »Du hast keinen Sinn für Humor, und Witze kann man nicht erklären.«

Er ist mir irgendwie aus den Augen gekommen. Seither beginne ich, mit dem Umlernen zu beginnen. Bevor ich tatsächlich damit begonnen haben werde, werde ich tot sein. Das Umlernen ist Sache der Zukunft – jener Zukunft, aus welcher der Vater herkam. Das nennt man wohl »Hoffnung«? Ein Wort, das ins Chaldäische mit »ab-ram« übersetzt werden könnte?

Jude sein

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