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2 BRIEF AN DR. JOSEPH FRÄNKL

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16. Mai 1976

LIEBER HERR DOKTOR,

danke für das mit Ihnen geführte freundschaftliche Gespräch, und, eben von der Reise zurückgekehrt, gebe ich Ihnen, wie vereinbart, ein Resümee meiner Familiengeschichte, so wie sie durch Dichtung und Wahrheit auf mich gekommen ist:

Väterlicherseits stamme ich von einer seit Menschengedenken in Rakovník ansässigen Judenfamilie. In der Judengasse Rakovniks gibt es ein kleines gotisches Haus, das in unserem Familienbesitz war, in dem vor ’39 eine Großtante und ihre beiden unverheirateten Töchter eine Tabaktrafik führten (aus ersichtlichen Gründen genannt »u tři hub«*) und in dem jährliche Zusammenkünfte unserer Familie stattfanden. Die Familie Flusser war mit der anderen Judenfamilie in Rakovník durch ständig gekreuzte Inzucht verschwägert, und angeblich bedeutet »Flusser« den Herauszieher von Kieseln aus Flüssen für Glasfabrikation. Aber gegen Ende des 19. Jahrhunderts begannen sowohl die Glasers (jene andere Rakovniker Familie) als auch die Flussers auszusterben. Die Glasers degenerierten in Idiotie und Kleinverbrechen, und ich glaube nicht, daß jemand von ihnen den Nazismus erlebt hat. Die Flussers hingegen mündeten in einem einzigen Stammhalter, meinem Großvater Leopold, und, soviel ich weiß, sind alle übrigen Flussers auf der Welt (zum Beispiel in Budapest und New York vor ’39) ganz entfernt von unserem Zweig, und wahrscheinlich in den napoleonischen Kriegen ausgewandert. Mein Großvater Leopold war ein »Aufklärer«, schon vor 1870 marxistischer »Wahlmann«, was ihn aber nicht hinderte, als eine Art noblerer Hausierer mit Kutsche und Kutscher Heiligenbilder in der Hopfengegend zu verkaufen und zugleich das jüdische Brauchtum, wenn auch unorthodox, zu befolgen. Meine Großmutter Regina hatte einen Ausschank, wo sie »jednu za dvě« verkaufte, was, wie ich glaube, slivovice bedeutet. Diese meine Großeltern hatten zwei Söhne, meinen Onkel Karl und meinen um ein Jahr jüngeren Vater Gustav. Sie wurden 1884 und ’85 geboren, und, nach Absolvierung der Rakovniker Realschule, studierten beide, ganz typischerweise für das aufgeklärte Landjudentum, an der Wiener Universität. Mein Onkel wurde Bauingenieur, kam zur Bahn, baute Brücken, wurde etwa 1930 Streckenchef der Strecke Prag – Podmoklí, lebte in Ústí n/L, und man sprach davon, daß er Verkehrsminister werden solle. Er hatte zwei Söhne: Gustav und Otto. Im Krieg wurden er und meine Tante Berta selbstredend verschickt, aber beide überlebten. Sie starben in Israel in den 50er Jahren. Mein Cousin Gustav (jetzt David Flusser) ist Professor für Frühchristentum an der Hebräischen Universität Jerusalem und wurde durch seine Arbeiten über die Rollen des Toten Meeres und seine Jesusbiographie weit bekannt. Mein Cousin Otto lebt in Jerusalem und ist Postbeamter. Beide haben Kinder.

Mein Vater Gustav studierte Mathematik und Physik in Wien, dann in Prag (unter anderem bei Einstein) und selbstredend auch Philosophie (was ja das Fach mit sich bringt). So kam er mit T. G. Masaryk in Verbindung, und war einer jener »Pátečníci«*, welche auf die CSR einen entscheidenden Einfluß ausübten. Er dürfte um das Jahr 1908 promoviert haben und wurde Privatdozent für »politische Arithmetik« (eine Vorstufe der Mengenlehre). Da dies aber wahrscheinlich kein Geld einbrachte und da mein Großvater, der inzwischen sehr wohlhabend geworden war, aber geizig blieb, wenig beisteuerte, unterrichtete mein Vater auch Mathematik an der Deutschen Handelsakademie am Prager Fleischmarkt. Zugleich verfolgte er seine philosophischen Interessen, war von Mach und Avenarius beeinflußt und neigte zum Marxismus. Einige Bücher Masaryks, darunter »Selbstmord«, übersetzte er ins Deutsche. Als der erste Krieg ausbrach, engagierte sich mein Vater, auch unter Einfluß von Beneš und Čapek, an der Revolutionsbewegung. So kam er im Jahr 1918 als sozialdemokratischer Abgeordneter ins Parlament, wo er aber nur bis etwa 1924 blieb. Aus mir unbekannten Gründen (wahrscheinlich mit Antisemitismus verbunden) verließ er dann die aktive Politik. Er widmete sich seiner Wissenschaft (veröffentlichte einige Bücher, die mir unzugänglich sind), war Dozent sowohl an der deutschen als auch der tschechischen Universität und seit etwa 1928 Direktor der Deutschen Handelsakademie (eine Art geldeinbringende Sinecura); aber es gelang ihm, aus dieser Akademie, mittels Anschlusses eines »Abiturientenkurses« (heute würde man Postgraduation sagen), ein wissenschaftliches Institut zu schaffen. Völlig agnostisch, war er doch am Judentum aktiv interessiert, wurde Großpräsident der B’nai B’rith*, leitete verschiedene jüdische Organisationen und ließ zu, daß ich Bar Mizwa machte. Sein Antizionismus war sehr virulent (erst heute verstehe ich seine Gründe dafür), und er lehnte ein im Jahr 1938 erteiltes »Ehrenzertifikat« nach Palästina ab, das mit einem Jerusalemer Lehrstuhl verbunden war und ihm das Leben gerettet hätte. Er wurde am Tag der Besetzung Prags von der Gestapo (darunter zwei seiner Schüler aus der deutschen Universität) verhaftet, nach Folterung freigelassen, dann wieder verhaftet und am 18. Juni 1940 in Buchenwald ermordet. Er hatte ein volles Leben geführt, war geistig immer tätig gewesen, war wohlhabend (einige Häuser brachten Mieten, und seine Schwiegereltern waren reich) und ist innerhalb seiner Überzeugung, also würdig, gestorben. Sichranah lebrachah*.

Im Jahr 1919 heiratete er Melitta Basch, meine Mutter. Diese war viel jünger als er (geboren 30.11.1897 in Prag) und kam aus ganz anderen sozialen Schichten als er. Die Familie Basch sind uralte Juden, wahrscheinlich sephardischen Ursprungs, und ein Ahne war angeblich jener Cordobeser Bassevi, welcher im Jahre 1492 mit den Führern des spanischen Judentums ausgezogen war, um einen Judenstaat zu gründen. Jedenfalls wurde die Familie irgendwann im 19. Jahrhundert geadelt, und ein Baron Basch (Onkel meines Großvaters) war der Leibarzt Maximilians von Mexiko und wurde mit diesem beim Indianeraufstand Juárez hingerichtet. Ein Bruder meines Großvaters war Präsident der Wiener Börse. Mein Großvater selbst, Julius, der laut des Papiers, das Sie mir sandten, am 23.1.1865 geboren wurde, studierte in Deutschland Chemie und arbeitete als Ingenieur bei I. G. Farben. Dort gelang es ihm, ein Verfahren für die Erzeugung von Indanthrenfarben für Lebensmittel auszuarbeiten und zu patentieren. Damit gründete er, zuerst bescheiden, dann in wachsendem Ausmaß, eine Erzeugung in Prag (Julius Basch, Fabrik für Giftfreie Farbstoffe) etwa um 1890, und diese Fabrik war angeblich die einzige ihrer Art in Mitteleuropa. Jedenfalls hatte sie Niederlassungen in vielen Ländern (ich erinnere mich an Japan, Türkei, Holland und Südafrika) und war hochautomatisch (Mischapparate, ein für die erste Hälfte des Jahrhunderts seltener Umstand). Diese Fabrik baute mein Großvater in Dejvice, Bubenečská 5, und vor das Fabrikgebäude baute er ein Bürgerhaus, in dem sowohl meine Mutter als auch meine Schwester und ich geboren wurden und bis 1939 wohnten. Meine Großeltern Basch (Julius und Olga) waren typische Prager Großbürger, kultiviert und beschränkt, jüdisch »ohne Übertreibung« (das heißt: Kiddusch* und kein Schinken, aber nicht koscher) und reich, ohne es zu zeigen, das heißt Aktien, Häuser, Gold, aber was man damals wohl »bescheidene Lebensführung« nannte, also keine Villas und großen Autos.

Meine Großeltern hatten drei Kinder. Wilhelm (nach dem ich heiße), Ludowika (nach der meine Schwester hieß) und meine Mutter Melitta. (Diese Namen allein sind Hinweise auf den viktorianischen Kulturkreis.) Mein Onkel Wilhelm war Violinist und lebte in London. Auf ausdrücklichen Wunsch meines Großvaters kehrte er im September 1914 nach Prag zurück, rückte ein, und fiel beinahe sofort bei Nisch in Serbien. Er starb unverheiratet, und mein Großvater hat seinen Tod nie überwunden. Meine Tante Ludowika (angeblich ein Untam**) war selbstverständlich gut österreichische Krankenschwester im Krieg, und starb, unverheiratet, am 18. Oktober 1918, am Tag der Revolution, an spanischer Grippe. Als also mein Vater meine Mutter heiratete, war sie die einzige Tochter und Erbin. Man kann sich den Skandal vorstellen, ein linker Intellektueller heiratet Fräulein Basch und will seine Ideen nicht aufgeben, obwohl mein Großvater Basch meinen Vater sofort zum »stillen Teilhaber« seiner Fabrik machte und ihn wahrscheinlich auch anderswie »bestechen« wollte. Ich glaube, das war die stumme Tragödie der Ehe meiner Eltern: der hochmütige »Geistige« und die viel jüngere, kultivierte und zurückhaltende »fille rangée«. Ich glaube jedoch auch, daß es eine gute Ehe war: Mein Vater »unterrichtete« meine Mutter, und diese »kultivierte« meinen Vater.

Aus dieser Ehe entstammten ich und meine Schwester Ludvika. Ich wurde am 12. 5. 20 und meine Schwester am 21. 12. 22 geboren. Da ich der einzige Erbe meines Großvaters war, wollte er, ich möge Basch-Flusser genannt werden, wogegen sich mein Vater stellte (wohl wegen der aristokratischen Konnotationen des Hyphen). Den Siegelring mit der Baronenkrone (nebbich!) trage ich allerdings noch immer. (Übrigens hat meine Frau vor einigen Jahren zufällig das Wappen der Baschens gefunden, aber dann wieder verloren.) Wir führten (meine Großeltern Basch, meine Eltern, meine Schwester und ich) ein gutbürgerliches Leben in dem Bubencer Haus und in dem Landhaus, das mein Vater bei der Moldaumündung kaufte. Im Jahre 1942 (also zwei Jahre nach der Ermordung meines Vaters) wurden alle (meine Großeltern, meine Mutter und meine Schwester) verschleppt, nachdem man sie (laut des mir von Ihnen gesandten Papiers) in die Dlouhá und auf den Zboŕenec umgesiedelt hatte. Vorher wohl noch hatte mein Großvater die Fabrik an einen Strohmann, seine langjährige Buchhalterin Frau Müller, zum Schein verkauft, in der verlorenen Hoffnung, sie für mich zu retten (sein Lebenswerk, und ich sein Stolz, denn jedes jüdische Enkelkind ist bekanntlich genial). Alle sind, zu mir Gott sei Dank unbekannten Daten, umgebracht worden, und ihr sinnloser Tod ist das Zeichen, unter dem ich zu leben habe.

Ich besuchte die tschechische und deutsche Volksschule, das deutsche Realgymnasium in Smíchov, machte auch eine tschechische Matura und immatrikulierte an der tschechischen juristischen Fakultät im Jahr ’38. Dank der Hilfe meines späteren Schwiegervaters Barth floh ich im März ’39 (etwa den 20.) nach England, von dort nach Brasilien, wo ich Hochschullehrer wurde. Ich bin mit Edith Barth verheiratet, habe drei Kinder, und schreibe Essays und Bücher. Aber das ist jüngste Geschichte, und für Sie wohl ohne Interesse. Was Sie interessiert, endet im Jahre 1944, dem Jahr der Ausrottung meiner Familie…

* Zu den drei Mäulern

* »Pátečnici« (von pátek: Freitag) wurden die Intellektuellen genannt, die sich freitags bei Tomáš Garrigue Masaryk versammelten.

* Die weltweit hochangesehene Independent Order of B’nai B’rith (Söhne des Bundes) wurde 1843 in New York als jüdischer brüderlicher Orden von deutschstämmigen Juden gegründet; Tätigkeiten vor allem auf dem Gebiet der allg. Wohlfahrt und des Sozialdienstes.

* hebräischer Segensspruch; etwa: Die Erinnerung soll zum Guten gereichen.

* hebräisch »Heiligung«: Segensspruch bei einem Becher Wein.

** jiddisch für Tollpatsch

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