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Hund auf zwei Beinen und Frau Schäfer, die Vogelfrau
ОглавлениеSeit zwei Stunden saß er vor seinem Bildschirm, der dritte Kaffee des Tages stand dampfend vor ihm und er war so wenig produktiv, wie schon lange nicht mehr. Seit zwei Stunden sprang ihn das in Arial auf Schriftgröße 14 und fett geschriebene Wort »Ideen« auf einem leeren Word-Dokument an. Was war bloß los mit ihm? Sicher, er hatte schlecht geträumt und kaum geschlafen, aber das war kein Grund für eine Arbeitsverweigerung. Um in Fahrt zu kommen, steuerte er eine CD von System of a Down an, drehte lauter und starrte aus dem Fenster.
Heute Abend würde Sandra kommen und ihm Jack für drei Tage da lassen. Sandra musste beruflich nach Köln und Lina würde bei ihren Eltern bleiben. Warum eigentlich? Er hätte sich gegen ihren Vorschlag wehren können. Wenn sie so weiter lebten, würde er wenig von Lina mitbekommen. Er schaute sich ihr Familienfoto auf seinem Schreibtisch an. So hatte Lina vor drei Monaten ausgesehen. Mittlerweile hatte sie sich bestimmt weiter entwickelt, und er nahm nicht daran teil. Auf Jack freute er sich. Traute er sich Lina zu? Sie allein über eine Distanz schon, aber beide über drei Tage? Nein, dennoch fühlte er sich übergangen. Sandra entschied und er fügte sich.
Durch den dritten Kaffee am späten Vormittag und seine aufkeimende Wut, konnte er nicht arbeiten. Er verbat sich weiteren Kaffee und ging spazieren. Die Landschaft hier mochte er sehr und vielleicht bekam er den Kopf frei. Mit seinen neuen Trekkingschuhen fühlte er sich wohl. Ohnehin glaubte er, durch die beiden bisherigen Spaziergänge an ein verbessertes Körpergefühl. Kaum, dass er darüber nachdachte, musste er lachen. So ein Schwachsinn. Vor dem letzten Haus auf der rechten Seite nahm er bewusst wahr, dass der Tag weder regnerisch, neblig oder bitterkalt war. Die Luft war frisch, der blaue Himmel wies einige weiße Wolken auf, und die Sonne sorgte für ein optimistisches Licht. Auf der Straße kam ihm ein älteres Ehepaar entgegen und grüßte freundlich. Liam behielt die Pelzmütze mit Ohrenwärmern des Mannes in Erinnerung und meinte, sie häufiger in Filmen aus den 80ern gesehen zu haben. Auf dem letzten bebauten Grundstück auf der rechten Seite arbeitete ein Mann in seinem Garten und grüßte Liam. Liam konnte den Esel sehen, der einen zufriedenen Eindruck auf ihn machte, ebenso einen Bernhardiner, der hinter dem verschlossenen Gartentor hechelte. Hatte er anfangs von der Lage des Grundstücks geschwärmt, etwas außerhalb aber noch mit Anschluss an das Dorf, wäre es ihm bei all den bisherigen Ereignissen zu unheimlich gewesen.
Sofort hatte er die blutige Hand vor Augen, die sich mehr und mehr in seinen Gedanken zu einer Katze formte. Es tauchten die Fragen auf, die er sich seither stellte. Was hatte Hübi dort zu suchen? Woher wusste er, dass der Mann als Gerichtsmediziner arbeitete? Wie bekam er Antworten, ohne mit Hübi reden zu müssen? An der Gabelung entschied er sich für den Weg zur Steinbrücke. Bisher war er nur mit dem Auto dorthin gefahren, dann wieder umgedreht, da der Weg ab da nur für den landwirtschaftlichen Verkehr freigegeben war und ins Moor führte.
Der Weg führte ihn an mehreren winterlichen Feldern vorbei, aus der Ferne hörte er das gelegentliche Aufheulen einer Motorsäge. Durch die Nähe des Moores erklärte er sich die vielen Tümpel, die vermehrt an den Knickkreuzungen lagen. Dunkel schimmerte das Wasser durch die blattlosen Äste und Sträucher. Auf einer längeren Geraden standen zahlreiche dicke Weidenstümpfe, aus denen Triebe meterhoch in die Höhe sprossen. In den Astlöchern und den morschen Baumstammhöhlen konnte er Dinge für Jack verstecken, wenn sie den Weg gemeinsam erkunden würden.
Eine Joggerin kam ihm entgegen. Ihr Laufstil und ihre zu erahnende Figur machten ihn neugierig. Freundlich aufgeschlossen suchte er ihren Blick, um sie zu grüßen. Er schätzte sie auf Mitte Vierzig. Nicht sein Alter, aber sie war attraktiv. Er stellte sich Sex mit ihr im Freien vor und litt deswegen unter seinem Gewissen. Den nächsten Kilometer bis zu einem Fichtenwald auf der linken Seite verbrachte er damit, gegen eine Erektion und eine Wiederholung der Vorstellung vor seinem geistigen Auge zu kämpfen. Liam wurde wütend, denn er hatte den Weg nach draußen gesucht, um den Kopf frei zu bekommen, stattdessen erwischte ihn ein neues Thema mit aller Heftigkeit. Oder aber ein altes Thema, das erst alles verursacht hatte. Seit mindestens einem Monat waren sie nicht mehr zärtlich zueinander gewesen und vorher, so hatten Sandra und er einmal festgestellt, hatten sie durchschnittlich dreimal Sex in der Woche. Er verdrängte den Gedanken.
Er bewunderte die Urtümlichkeit. Große Fichten mit dicken Stämmen bildeten den Wald. Etliche mittelgroße Bäume verrotteten am Boden oder waren umgeknickt und wurden durch ihre Nachbarn gestützt. Direkt am Weg stand ein Wildfutterhäuschen, in dem angenagte Maiskolben und Möhrenstumpen lagen. Auf der anderen Seite des Weges genoss er einen phantastischen Ausblick auf die Wiesen im Alstertal und dahinterliegend begrüßte ihn ein entlaubter, stark verästelter Wald. Dort begann das Moor. Eine Sitzbank lud zum Verweilen ein und zahlreiche Zigarettenstummel zeugten von Besuch. Zielsicher sah Liam eine aufgerissene Kondomverpackung vor dem Mülleimer. Er lächelte. Am Boden festgefroren und im Sommer oder im warmen Herbst zum Einsatz gekommen und kaum, dass er daran dachte, wallte das Verlangen in ihm auf. Er seufzte entnervt und setzte seinen Weg zur Steinbrücke, die man von hier aus schon sehen konnte, fort.
Ein älteres Paar fuhr auf Fahrrädern an ihm vorbei, man grüßte sich. An der Steinbrücke lehnte Liam sich auf das Geländer und erfreute sich an dem uneingeschränkten Blick über die Alsterebene, das Moor und die kleinen Waldflecken hier und da. Weit am Horizont, flussaufwärts, musste eine Straße oder ein Weg entlangführen, denn ein Auto kreuzte dort seinen Blick. Er grinste. Die Rehherde, bestehend aus fünf Tieren, stand quasi vor seiner Nase auf einer Wiese. Er war ein Stadtmensch, sein Blick noch nicht geschult. Er beobachtete die Rehe, ein allein am Himmel in der Luft stehender Vogel zerteilte die nicht unangenehme Stille mit einem Schrei. Liam atmete tief durch.
Auch, wenn sein erster Spaziergang intensiver, im Geiste eines Pioniers spannender war, entspannte er sich, als einer von anderen vormittäglichen Spaziergängern. Er hatte einen Job, in dem er sich leisten konnte, hier zu sein (ein unangenehmes Druckgefühl breitete sich in seiner Magengegend aus und er verdrängte den Gedanken schnell) und alle anderen, denen er begegnete, befanden sich in einer ähnlichen Situation. Wahrscheinlich trank das Spaziergängerpaar zu Hause einen Tee und die Joggerin duschte. Er seufzte und unterwarf sich dem Verlangen, indem er sich einfach hinzu vorstellte und sie von hinten nahm. Den Wind und seine Vorstellungen genießend, irritierte ihn etwas, was er in der Ferne sah. Ein Geländer ragte dort kaum sichtbar aus dem welken hochstehenden Gras hervor. Flussaufwärts befand sich eine weitere Brücke. Die Brücke, von der er in den Fluss gepinkelt hatte. Es könnte sein. Wenn dem so war, musste auch das Haus, wo er den Mann mit dem Gummiball im Mund getroffen hatte, zu sehen sein. Er suchte den Horizont ab.
»Wo bist du?«, flüsterte er. Jemand sprang ihn von hinten an, etwas legte sich auf seine Schultern. Zwei Hände, aber es passte nicht. Bevor er reagieren konnte, hörte er ein Hecheln. Er drehte den Kopf und wähnte sich im heißen Atem eines großen Hundes, der sich an ihn lehnte. Die Zunge hing heraus, seine dunklen Augen blickten Liam erwartungsvoll an und der Atem roch nach verdautem Pansen. Das Tier kam ihm bekannt vor. Liam wurde angesichts der Größe des Tieres schlecht und die Nähe zu seinem Hals bereitete ihm Unbehagen.
»Verdammt, wer bist du denn?«, fragte Liam beruhigend und suchte aus den Augenwinkeln nach einem Verantwortlichen für das Viech. Der Hund hechelte warme Pansenluft in Liams Gesicht, hüpfte auf seinen Hinterpfoten näher, um besseren Halt zu gewinnen. Schlammigmodrige Pfoten tasteten auf seiner hellblauen Skijacke umher. Liam verbat sich, aus Wut ungestüm zu reagieren. Den Hundehalter würde er am liebsten wie den falsch parkenden Geländewagenfahrer beißen. Hinter dem Hund sah er am Flussbett eine Bewegung, ein Pfiff erschallte und Hübi trat hinter ihm unter der Brücke hervor auf die Straße. »Komm her, Teufel!«, schrie er dem Hund zu und Teufel ließ ängstlich von Liam ab und schlich zu Hübi. Hübi erwartete Teufel mit einer Leine in der Hand. Er packte den Hund am Halsband, hielt ihn mit der linken Hand fest und drosch mit dem Lederriemen auf Teufel ein. Teufel winselte und wollte sich auf den Rücken drehen.
»Was willst du hier? Verfolgst du mich, oder wie?« Mit Teufel an der Leine kam Hübi drohend auf Liam zu. Liam war sprachlos. ›Ich sollte ihn beißen‹, schoss es Liam durch den Kopf. Aber er stand mit halboffenem Mund da und fühlte sich wie ein Passagier in sich.
»Nein, ich, also ich … hatte nur den Kopf voll und …«
Hübi stand vor ihm und wollte Liam den Schmutz von der Jacke klopfen. Stattdessen rieb er sie durch seine groben Bemühungen stärker ins Textil ein.
»Scheiß Köter, tut mir irgendwie Leid«, gab er umständlich von sich. »Musst du kalt waschen.« Er deutete mit einem Zeigefinger auf Liams Schultern.
Liam war pessimistisch. Die Jacke konnte er wegwerfen. Hübi klopfte ihm ein weiteres Mal auf die Schulter.
»Ist gut jetzt!«, ließ Liam seinem Frust freien Lauf und wich Hübis klopfender Hand zur Seite aus.
»Hey, ganz locker«, brummte Hübi. Liam begriff, dass Hübi auf Konfrontation immer einen Gegenangriff startete. Wahrscheinlich hatte er angesichts seiner Körpergröße und seiner Ausstrahlung damit auch Erfolg. Hübi pumpte sich auf und stand latent drohend vor Liam.
»Schon O.K., wusste gar nicht, dass das euer Hund ist«, beschwichtigte Liam und deutete auf Teufel, der eingeschüchtert hinter Hübi kauerte. Hübi nickte und entspannte sich.
»Na wie auch, gab Ärger im Kindergarten, weil Teufel die Lütten immer umgerannt ist und die Schiss hatten. Macht aber nix, der will nur spielen.«
Liam konnte sich die Ängste der Kinder vorstellen, wenn ein riesiger Hund, sich Urviech gleich mit heraushängender Zunge auf sie stürzte. Teufel traute sich hervor und hechelte.
»Sag mal, was hast du denn da hinten eigentlich letztens gemacht?«, wollte Liam wissen und beobachte Hübi genau, um seine Reaktion abschätzen zu können.
»Ich kauf’ da immer für die Schröters ein, weissu. Die wohnen da ganz allein, und der Alte traut sich nicht mehr, mit dem Auto zu fahren. Manchmal kommen die beiden mit, aber häufig nur sie. Manchmal mach’ ich da auch was im Haus, aber eigentlich wollen die immer alles alleine machen, weissu. Im Sommer hab ich mal ’nen Anruf von ihr bekommen, ob ich mal vorbeikommen kann, sie hat Kuchen gebacken. Und dann bin ich da hin und frag’, wo er denn ist und sie meinte so, im Garten, sie ham Probleme mit dem Brunnen. Und dann hab’ ich mir das mal angeguckt und da ist der Alte sechs Meter mit seinem kaputten Knie in den Brunnenschacht gekrochen und wollte die alte Brunnenpumpe auswechseln. Alter, der ist über Achtzig! Und da kam er nicht hoch. Aber zu stolz für, um Hilfe zu holen, echt!«, berichtete Hübi und nickte dabei dem Alten bewundernd zu.
»Na ja, ich hab’ die dann ausgewechselt und sie hat noch schnell ’nen Kuchen hingekriegt, weissu, die hatte gar keinen, hatte aber Schiss um den Alten, verstehste?«, Hübi erklärte ihm die Sachlage gestikulierend.
»Ja, schon heftig«, bestätigte Liam. »Bist du denn irgendwie verwandt mit denen?«, wollte er wissen.
»Ja, umso paar Ecken, aber ich bin der einzige, der sich um die beiden kümmert, Mann. Und das mach’ ich nur so, verstehst du? Scheiß auf das Haus und das Grundstück, das will eh keiner mehr haben.«
Liam nickte, bezweifelte aber Hübis Uneigennutz. »So, ich will mal wieder, ne«, verabschiedete sich Hübi.
Liam schätzte, dass Hübi nach eigener Einschätzung schon viel zu viel von sich erzählt hatte, aber er wollte in Erfahrung bringen, was es mit dem Gerichtsvollzieher auf sich hatte.
»Und was ist das für ein Typ, der Gerichtsvollzieher? Mann, du warst echt sauer auf den.«
Hübi verharrte und sammelte sich. Er guckte links an Liam vorbei und überlegte, ob und was er sagen sollte.
»Keine Ahnung, weissu. Kommt wohl aus Hamburg, ne. Hat einfach den Hof gekauft und kommt immer erst sehr spät zurück. Kommt fast nie raus und hat immer die Vorhänge zu, weissu. Manchmal kommen da Männer zu Besuch, oder so, aber der hat ja auch keine Frau und keine Kinder da, weissu.«
Emotional fühlte sich Liam sonderbar mit dem Herrn Gerichtsmediziner verbündet, denn verdeckte Ressentiments waren ihm gerade von der alt eingesessenen Dorfbevölkerung auch entgegengeschlagen. Sobald im Kindergarten bekannt war, dass Sandra und er sich in einer schwierigen Phase befanden und sogar in Trennung lebten, verhielten sich einige Mütter abweisend, fast arrogant. Meistens die, die einen Landwirtschaftsbetrieb hatten. Auf der anderen Seite war der Gerichtsmediziner sonderbar. Und ja, die verdammte Hand hatte er gesehen. Wenn es denn nicht irgendein Tier gewesen war. Liam überlegte und Hübi wartete auf eine Reaktion.
»Weissu, wie ich mein, ne?«
»Ja, ja.« Liam nickte abwesend. »Ja, klar, versteh’ ich voll.« Beide schwiegen.
»Stubenhocker, ne. Schwuler Stubenhocker!« Hübi erwartete eine anerkennende Reaktion von Liam, doch Liam schwieg beharrlich.
»Na ja, ich muss weiter, doh.« Hübi verabschiedete sich freundlicher als vorher. Liam blieb mit verschmutzter Skijacke auf der Brücke stehen und schaute sich nachdenklich den Sonnenuntergang in der Oberalsterniederung an. Er wusste nicht einzuordnen, was er von einem Gerichtsmediziner mit solchen Neigungen halten sollte. Er wusste nicht, was ein Gerichtsmediziner genau arbeitete. Er vermutete, dass er sich um die ungeklärten Todesfälle kümmerte und die Leichen obduzierte. Auf der einen Seite hatte Liam dann für solche, in seinen Augen kranken, Neigungen, wie Sado-Maso-Spiele, Verständnis, andererseits wurde ihm der Mann dadurch unheimlicher. Er beschloss, sich das Moor genauer anzuschauen und stieß sich von dem Geländer der Brücke ab. Er schätzte es jetzt auf ein Uhr, hatte aber keine Lust, sich mit einem Blick auf sein Handy zu vergewissern.
Bis auf Hübi, der mit Teufel gleich um die Kurve am Waldrand gehen würde, war er hier allein. Wahrscheinlich war die Mittagszeit hier auf dem Dorf noch eine heilige Zeit. Dann hatte das Mittagessen dampfend auf dem Tisch zu stehen, und die Familie speiste gemeinsam. Sie sprachen ein Tischgebet. Liam spürte, wie der Zynismus in ihm hochkroch. Eigentlich wünschte er es sich nichts anderes. Abgesehen von dem Tischgebet.
Die Straße vor ihm führte ins Wakendorfer Moor. Links und rechts säumten Waldstücke den Weg. Selten zuvor hatte Liam so viele verkrüppelte Bäume beieinander stehen sehen. Einzig zahlreiche halbhohe Birken verliehen dem Anblick etwas Ordnendes. Die Asphaltierung wich einem Schotterweg mit respektablen Schlaglöchern. Dahinter führten links und rechts des Weges kleinere Wege ins Unterholz. Linkerhand sah Liam, dass der Weg einige Meter weit befahrbar war, danach wurde er zu einem Wildpfad. Liam spürte das Kribbeln des Entdeckers. Die Anfänge des Moores auf der rechten Seite des Weges, mit brackigen Wasserlöchern und einzelnen, auf kleinen Inseln stehenden, verkrüppelten Bäumen, umgekippten und moosbehangenen Baumstümpfen, waren von seiner Warte zu erkennen und faszinierten ihn. Zur linken Hand sah es aus, als wäre vor langer Zeit Erde abgetragen worden. Das Gelände sah von Menschenhand bearbeitet aus. In dem eingestanzten Rechteck stand hellbraunes Gras kniehoch, ab und an eine Birke. Um das Rechteck führte ein Weg und dahinter senkte sich ein weiteres Rechteck in die Tiefe. Hier war früher Torf gestochen worden. Staunend ging Liam den Weg weiter.
Hier musste er mit Jack hin. Er würde sich eine spannende Geschichte zu ihrem Ausflug ausdenken, ein abgestürztes Flugzeug und die Besatzung hatte hier noch, bevor sie von der Polizei geschnappt wurde, einen Schatz vergraben. Liam nickte und sah sich mit Jack trittsicher das moorige Unterholz erkunden. Bei den Wasserlöchern, wo es schon sumpfig wurde, musste er natürlich aufpassen. Ihm selbst waren sie auch unheimlich. Er stellte sich vor, aus einem dieser Löcher würde eine Hand herausragen und bei diesem Gedanken genoss er eine wohlige Gänsehaut, die ihm den Rücken hinaufkroch.
Rechts führte ein Damm durch das sumpfige Gebiet. Offenbar lag auch diese Seite damals höher, nur die Urtümlichkeit ließ es nicht mehr erahnen. Er überlegte. Welchen Weg würde Jack an seiner Stelle wählen? Liam wählte den Dammweg tiefer in das Moor.
Er ging an einem Wildfutterhäuschen vorbei und konnte sich die Arbeit eines Jägers gut vorstellen. Die Vegetation wurde uriger und auch feindseliger. Er verfing sich mehrmals an Brombeersträuchern und stieß sich schmerzhaft an einem überwucherten Baumstumpf den Fuß. Wie ein Vorhang lichtete sich links und rechts das Unterholz. Direkt an das Moorgebiet grenzend lagen Wiesen und Koppeln, auf der linken Seite sah er in der Ferne ein altes Holzgatter und einen Feldweg. Die Sonne am Horizont schimmerte rötlich und tauchte die Landschaft in ein Licht, in dem Liam sich angenehme Traumsequenzen vorstellten konnte. Er war beeindruckt und blieb stehen. Er ließ den Blick über den Horizont gleiten und atmete tief ein. Zum ersten Mal an diesem Tag war er eins mit sich und er genoss den Augenblick, ehe er erschrak.
Am Horizont, hinter einem Laubwaldstück, stand ein altes Bauernhaus. Liam brachte seine letzten Überlegungen, die er auf der Steinbrücke hatte, ehe Teufel ihn mit seinem Pansenatem beglückte, in Übereinstimmung mit seiner weiteren Wanderung. Es konnte sein, dass das der alte Königshof war. Vorhin hatte er nur die alte Holzbrücke sehen können, da war er auf der anderen Seite der Alster gewesen.
Das würde er prüfen.
Der vor ihm liegende Feldweg bog später nach rechts ab, also zurück zur Alster, und von dort konnte er einen freien Blick in Richtung Laubwald und Gehöft bekommen. Aufgeregt beschleunigte er seinen Schritt und blieb nach der Biegung stehen. Hinter einem Baumstumpf (er schätzte, es war eine Weide, weil nur Weiden seiner Ansicht nach solche Triebe hatten), aus dem mehrere kleine Stämme austraten, stand eine Gestalt. Verharrte regungslos und beobachtete mit einem beeindruckenden Fernglas den Horizont. Gedungene Statur, durch die Kälte in sich zusammen gekauert, passable Tarnkleidung. Sie verschmolz mit dem dunkelgrünschwarzen Baumstumpf. Liams Herzschlag beschleunigte sich. Er brachte die Gestalt augenblicklich mit den Geschehnissen auf dem Königshof zusammen. Der Gerichtsmediziner wurde schon beobachtet. Trotzdem wollte er sich zurückhaltend und vorsichtig verhalten. Er entspannte sich, atmete durch und versuchte dann, so normal wie möglich, seinen Weg fortzusetzen.
Das Fernglas war nicht auf den Königshof gerichtet, analysierte Liam. Gut. Was gab es hier sonst zu beobachten? Vielleicht ein Naturfreund. Oder ein Spanner. Vielleicht wimmelte es in diesem Moor ja nur so von Perversen. Liam unterdrückte ein Lachen bei diesem Gedanken. Entweder war es eine Frau oder ein kleinerer Mann. Sie trug einen Rucksack von Zermatt in Tarnfarben, eine dunkle Outdoorjacke und die Haare blieben durch eine Kapuze verborgen. Liam stand wenige Schritte hinter ihr und wartete darauf, dass sich die Person rührte. Nichts. Liam räusperte sich. Erschrocken drehte sich eine ältere Frau um. Eine graumelierte Strähne fiel ihr in die Stirn. Hinter Tränensäcken blickten neugierige Augen, umrahmt von durch Kälte geröteten Wangen. Liam fand die Frau auf Anhieb sympathisch.
»Was beobachten Sie denn dort, wenn ich fragen darf?« Er reckte den Kopf gen Horizont.
»Schäfer«, stellte sie sich vor und reichte ihm die rechte Hand hin. Mit der linken zog sie etwas aus der Jackentasche, zeigte ihm einen Ausweis mit einem Foto von ihr aus tränensackärmeren Tagen.
»DOG, Deutsche Ornithologen-Gesellschaft. Ich bin Lehrerin«, erklärte sie ihm das Akronym und nannte ihren Beruf. Liam war von ihrem Auftreten überrascht und suchte nach einer adäquaten Antwort. Es fiel ihm nichts ein also fragte er. »Und was beobachten Sie?«
Sie nickte, als würde sie jetzt seine Frage mit ihrem Tiefgang erkennen können. Sie steckte den Ausweis wieder ein und nahm den Feldstecher, der an ihrem Hals hing, ab. »Sumpfohreulen. Letztes Jahr habe ich an mehreren Stellen in den Schlehenbüschen auf der anderen Seite des Weges Gewölle gefunden. Jetzt hier. Aber noch kein Nest.« Aus einem Reflex heraus schaute sich Liam die kahlen Äste der knöchernen Bäume an.
»Es sind Bodenbrüter«, belehrte sie ihn und Liam wusste, dass er sich zumindest nicht als Vogelexperte ausgeben konnte, wollte er mit ihr im Gespräch bleiben.
»Ja, das wusste ich gar nicht«, gab er zu. »Ich kenne die Gegend erst seit kurzem, vielmehr lerne ich sie eigentlich gerade erst kennen. Aber mir ist schon aufgefallen, wie viele verschiedene Vogelarten es hier gibt. Erstaunlich.« Liam zeigte sich ernsthaft interessiert. In diesem Moment war er es auch. Wahrscheinlich führte dieser Umstand zu einem Brechen des Eises, wie man sagt, denn Frau Schäfer entspannte sich und lächelte.
»Hundertdreiundsechzig«, sagte sie und nickte stolz und anerkennend zugleich. Liam verstand nicht. »Es gibt hier in diesem Moor«, sie deutete um sich herum, »… hundertdreiundsechzig Vogelarten. Und seit vier Jahren lassen sich hier Kraniche nieder.« Ihre Augen strahlten euphorisch unter der Kapuze und Liam hätte sie niemals für eine Lehrerin gehalten, die sich über den ständigen Stress in der Schule beklagte und vor allem über unmotivierte Schüler. Aber Ornithologie war ihr Hobby und kein Unterrichtsfach und wahrscheinlich unterrichtete sie in ihren Fächern, weniger begeisternd. Liam ließ sich von ihrer Begeisterung anstecken.
»Hundertdreiundsechzig!«, er pfiff als Zeichen des Respekts. »Ich hätte Schwierigkeiten, sie alle auseinander zu halten. Na ja, ich hätte wahrscheinlich schon Schwierigkeiten überhaupt ein paar zu erkennen«, gestand er. »Kann man denn jetzt welche beobachten?«
»Klar.« Sie drehte sich zum Horizont. »Dort hinten im Schilf«, sie deutete auf einen entfernten Schilfgürtel, »sind mehrere große Brachvögel.« Umgehend fixierte sie die erwähnte Stelle mit ihrem Fernglas und justierte mit dem rechten Mittelfinger ein kleines Rädchen.
»Ja …«, murmelte sie, »ja, da ward ihr doch eben.« Sie schwenkte nach links, dann wieder nach rechts. »Ah ja. Da sind sie. Wenn der Frühling kommt, kann man sie hier sehr gut hören«, erklärte sie ihm und konzentrierte sich dabei.
»Nehmen Sie mal«, sagte sie, drehte ihr Gesicht zu ihm und hielt das Fernglas unverändert in die Richtung.
»Na los, schauen Sie mal.« Liam zuckte kurz mit der Schulter und nahm die Einladung an. Behutsam nahm er ihr das Fernglas ab und brachte es auf seine Augenhöhe. Er sah unscharf, doch bevor er etwas sagen konnte, forderte sie ihn auf, die Einstellung zu verstellen. Das Bild wurde schärfer und er konnte drei beigebraune Vogelköpfe mit langen gekrümmten Schnäbeln zwischen den dichten Halmen ausmachen. Sehr groß, sehr nah. Die Vögel guckten dümmlich, so, als wäre ihnen gewahr geworden, dass sie beim Kacken beobachtet wurden und Liam kam sich voyeuristisch vor. Andererseits belustigte ihn die Vorstellung.
»Ich hab’ sie. Sie sehen irgendwie lustig aus. Großer Brachvogel, ja?«
»Mmh«, bestätigte sie neben ihm. »Im Frühling ruft er immer ›kuri–wi‹.«
»Ah, das hab ich schon mal gehört«, erinnerte sich Liam an diese Melodie. Er fragte sich, wo das gewesen sein könnte, aber die kackenden, großen Brachvögel interessierten ihn mehr. Sie huschten hysterisch und aufgeregt durch das hohe Gras.
»Toll, wirklich. Vor allem, wie nah man sie damit ran bekommt.« Er drehte sich zu ihr und bemerkte, dass sie die letzte Äußerung verstimmt hatte.
»Ja, es ist schon ein sehr hochwertiges Fernglas. Zeiss Victory 8x56«, antwortete sie sachlich. Liam mutmaßte, sie kannte das von ihren Schülern. Anstatt sich für die Sache an sich zu begeistern, war das Interesse an der technischen Umsetzbarkeit größer.
»Nein, das meine ich nicht«, widersprach Liam. »Ich meine, es wirkt fast so, als würden sie sich beobachtet fühlen. Als würden sie spüren, dass ich hier stehe. Könnte das sein?«
Sie überlegte und jonglierte den Gedanken hin und her. »Ja, ich glaube, ich weiß, was sie meinen. Vögel scheinen über eine Art siebten Sinn zu verfügen. Kurz vor dem Tsunami damals wurde aus ganz vielen Gegenden von ausziehenden Vogelschwärmen berichtet. Ungefähr sechs Stunden vor dem Seebeben sind die küstennahen Arten auf erhabene Gebiete ausgewichen. Stämme, also so einheimische Gruppen, sind ihnen gefolgt und haben den Tsunami so auch überlebt. Von einigen Vögeln spricht der Volksmund sogar, dass sie den nahenden Tod spüren können. Vor allem der Kauz gilt als Totenvogel.«
»O.K«, Liam stellte fest, dass Frau Schäfer nicht nur über akademisches Wissen zu dem Thema verfügte.
»Dort hinten in den Vogelbeeren leben Birkenzeisige«, deutete sie in die andere Richtung und Liam folgte ihrem Finger.
»Nein, eher dort.« Sie korrigierte etwas und Liam sah eine Ansammlung struppigen Dickichts, in dem eine Schar von kleinen, graubraunen Vögeln herumhüpfte. Das voyeuristische Gefühl in ihm nahm ab, vielleicht weil es so viele Zeisige waren. Er fand es spannend, sie so beobachten zu können und schwieg fasziniert. Frau Schäfer genoss, ebenfalls schweigend, diesen Zustand.
Im Hintergrund konnte Liam unscharf eine kleine Straße erkennen. Die beiden Autos, die sich entgegen kamen, hatten Licht an.
Drei Zeisige stritten um etwas. Was es war, konnte Liam nicht erkennen, mal hatte es der eine, dann wieder der andere im Schnabel.
Das dunkle Auto war eckig.
Der eine Zeisig flog mit dem Teil im Schnabel zu einem anderen Gebüsch, die beiden anderen folgten ihm.
Das dunkle Auto war ein Volvo und fuhr zum alten Königshof. Liams Atmung setzte aus und er wechselte unauffällig sein Ziel. Den Fahrer konnte er nicht erkennen, aber es war der Wagen des Gerichtsmediziners. »Toll, oder?«, wollte Frau Schäfer wissen.
»Mmh.« Der Wagen hielt auf dem Hof, dort wo Liam ihn schon einmal hat stehen sehen. Der Gerichtsmediziner stieg aus und lief zur Haustür, schloss diese auf und lief zum Auto zurück. Einer der beiden Hunde schoss durch die Tür und wollte den Arzt springend begrüßen. Er drückte den Hund unwirsch weg. Aus dem Auto holte er einen dunkelgrauen Plastiksack, den er mit Schwung schulterte. Offenbar war der Inhalt schwer, es musste ein reißfester Plastiksack sein. Vielleicht einer, den Gerichtsmediziner in ihrem Berufsalltag benutzten. Der Hund erschnüffelte etwas für ihn Interessantes in dem Sack und scharrte mit einer Pfote. Der Arzt trat kräftig zu und der Hund hielt Abstand. Angestrengt trug er den Sack ins Haus und eilte zurück, um einen weiteren Sack zu holen. Liam wurde angestupst, nicht zum ersten Mal.
»… so Spannendes?«, hörte er das Ende von Frau Schäfers Frage. Seine Verwirrung schüttelte er ab.
»Ähm, dort hinten, der da schleppt so komische Säcke in sein Haus.« Frau Schäfer nickte und nahm ihm sanft das Fernglas aus den Händen.
»Erster ethischer Grundsatz von mir: Ich beobachte Vögel und keine Menschen.«
»Äh ja, es ist nur …«, er schüttelte verzweifelt den Kopf und beließ es bei dieser Reaktion. »Sie haben Recht, wahrscheinlich kann man nur mit dieser Einstellung sinnvoll arbeiten«, nickte er ihr zu.
»Genau so ist es, auch wenn es manchmal schwer fällt, zu widerstehen. Aber anders geht es nicht«, bestätigte sie ihn. Liam hatte den Eindruck, sie würde sich gerne wieder der Sumpfohreule widmen. Er verabschiedete sich und ging den Weg weiter, der seiner Orientierung nach wieder auf den Hauptweg stoßen musste. Den gesamten Rückweg über musste Liam die gesehenen Bilder verarbeiten und er fragte sich, ob der Berufsstand Gerichtsmediziner im allgemeinen Arbeit mit nach Hause nahm.