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Der Gerichtsmediziner und das Böse an sich

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Stell dir vor, all die Erschossenen, Zerbombten, Vergifteten, Erstickten, Erstochenen, Vergasten, Erschlagenen, Ertrunkenen, Verbrannten, Erhängten, Überfahrenen, Verhungerten, Verdursteten und wie auch immer aus dem Leben Gerissenen hätten einen Schrei. Einen einzigen Schrei, um Abschied zu nehmen, einen Schrei der Anklage, einen Schrei, der ihren Tätern in den Ohren klingen soll, damit sie sich ihrer Untat bewusst werden. Sie legten all ihren Schmerz zusammen, ihre Angst, ihr vergossenes Blut, ihre Tränen, ihre Wut, ihren Hass, ihre Ohnmacht, all das legten sie in diesen einen Schrei.

Ein stummer Schrei, denn Tote haben keine Stimme mehr. Ein Schrei, der bei den Tätern verklingt, ein Schrei, der sich auf für uns nicht wahrnehmbaren Frequenzen auf die Reise macht. Wellenförmig, immer neue Impulse, neue Schreie aufnehmend, setzte sich der eine Schrei fort.

Stell dir vor, dieser Schrei erzeugte Materie. Wie würde sie aussehen? Wie würde der Schrei von gefoltertem, verbranntem, ertrunkenem, erschlagenem, erhängtem, erschossenem, vergastem, überfahrenem, verhungertem und wie auch immer aus dem Leben gerissenem Fleisch wohl aussehen? Wie sieht Schmerz, Wut, Hass, Trauer und unzählige Ohnmacht aus? Wenn sie ausbricht? Stell dir das mal vor …

Kann ich den spielen, oder muss ich den abknallen? – Enrico


Ich habe mich schon in jungen Jahren für Knochen interessiert. Für Knochen und Fleisch, beides lässt sich bekanntlich nicht so einfach voneinander lösen. Als ich sieben Jahre alt war, sind wir an einem smogfreien Tag in einen Wald gefahren und ich fand eine Kröte, die am Wegrand verharrte. Da sie nicht weghüpfte, nahm ich sie in die Hand und sie brach auf. Sie war tot. Leichenbesiedler hatten sie schon ausgehöhlt und tropften von dem Krötenkadaver zu Boden, auf meine Schuhe und in meine Hand. Ich kann nicht sagen, dass ich das schön fand, vielmehr bekam ich dadurch Albträume und machte mir kindliche Gedanken über das Leben und den Tod. Der Präventivpsychologe an unserer Grundschule sah für meine Entwicklung aber keine Gefahr. Meine Eltern sorgten durch ihre Berufe und ihren Bildungsgrad für einen niedrigen Aggressionsscoringwert für mich, sodass meine Neigung für das Knochensammeln für frühkindlich paläontologisches Interesse gehalten wurde.


Mit zehn Jahren kam ich auf eine Eliteschule mit dem Schwerpunkt auf naturwissenschaftlichen Fächer. Meinen ersten Sex hatte ich ziemlich spät, so mit vierzehn Jahren. Mit fünfzehn Jahren ließ ich mir das Schulterblatt eines Hasen mit Blattgold überziehen und trug es als Glückbringer mit mir. Ich habe es immer noch, es dient jetzt als Lichtschalter für das Gäste-WC. Ungefähr zu dieser Zeit kochte ich in meiner Internatswohnung auch die ersten Knochen aus. Ich fing mit Katzen an, denn die waren einfach zu besorgen. Die Schule lag im Nordosten Hamburgs in Alsternähe. In den Grünanlagen konnte ich in den dunklen Abendstunden unauffällig Katzen anlocken und schnell töten. Darauf kam es an, denn eine gequälte Katze konnte so laut und vor allem menschlich schreien, dass es unnötige Aufmerksamkeit erregt hätte. Diese Aktionen plante ich so, dass es sicher war, dass weder Jonas, mein Mitbewohner, noch Nura, mit der ich zu der Zeit zusammen war, anwesend waren. Ich hatte mir einen großen Topf aus einem Geschäft für Gastronomiebedarf zugelegt. In diesen passte wunderbar eine ausgewachsene Katze hinein. Nach den ersten zwei Fehlversuchen informierte ich mich über das Internet und häutete die nächsten Versuchstiere. Eine einfache Katze benötigte so in etwa zweieinhalb bis drei Stunden Kochzeit, ehe sich die Knochen gänzlich und ohne Rückstände von den Muskelfasern lösen ließen.


In einem Blog, der sich mit dem Auskochen von Knochen beschäftigte, lernte ich Thanatos kennen, einen jungen Juristen aus München, der vorgab, ein menschliches Schlüsselbein ausgekocht zu haben. Ich freundete mich mit ihm an. Sein fachliches Steckenpferd war die freie Durchführung von Selbstverstümmelungen, die bislang noch unter Strafe stand. Außerdem hatten wir beide ähnliche sexuelle Neigungen, die ich mit Nura nicht besprechen wollte.

Mit Siebzehn schloss ich mein Abitur mit einem Notendurchschnitt von 1,3 ab und bekam gleich mehrere Firmenangebote. Ich entschied mich jedoch für ein Förderstudium und schrieb mich für Medizin ein.

Während meines ersten gemeinsamen Urlaubs mit Nura an der norwegischen Nordseeküste, fanden wir einen gestrandeten Walkadaver. Er roch unangenehm streng und elektrisierte mich, denn die Gelegenheit, einen Walknochen auszukochen, erschien mir für mein Leben einzigartig. Als ich mich anstrengte, um zumindest die Fluke, die große Schwanzflosse, zu bergen, verließ mich Nura noch am selben Abend. Insgesamt war es ein riskantes Unterfangen. Gefährliche Springfluten waren an dem Küstenabschnitt keine Seltenheit und ich war auf mich allein gestellt. Den Nachfragen meiner Eltern zu den hohen Reisekosten, der hohen Nebenkosten- und Reinigungsrechnung konnte ich durch eine Lüge entkommen. Nach der Trennung von Nura ginge es mir nicht so gut, entgegnete ich ihnen und das konnten sie verstehen, ermahnten mich aber, mein Studium ernst zu nehmen.


Oh, Studium, was hast du aus mir gemacht! Tief durchwatete ich ein Meer aus den Kardinalsäften, gab mich allerlei Drogen hin, lernte Aleida kennen, die ich nicht liebte (sie mich auch nicht) mit der ich aber all das (na ja, das meiste) ausleben konnte, was meine männlichen Sexphantastereien so vorgaben. Dennoch litten meine Leistungen nicht darunter und die Professoren erkannten schnell meine handwerkliche Begabung, meine analytischen Fähigkeiten und meine emotionale Kühle (»Sie haben die Betriebstemperatur einer Kühlkammer, also wird es Ihnen da auch gefallen«, verabschiedete sich Professor Speckmann von mir, als ich in die Gerichtsmedizin wechselte).


Ein Jahr später kochte ich mein erstes menschliches Schulterblatt aus. Mittlerweile hatte ich meine eigene Wohnung in Hamburg Uhlenhorst. Ein Junkiemädchen hatte sich tot gefixt und niemand wusste, wo sie herkam. Anonyme Bestattung – keine Nachfragen. Ich präparierte ihren Körper möglichst ansehnlich und half den beiden Bestattern persönlich, die Leiche zu übergeben. Ihren kompletten Arm mit Schulter transportierte ich in meiner großen Sporttasche nach Hause. Ein paar Fehler im Abschlussbericht und Unachtsamkeiten im Übergabeprotokoll hätten mir bei aufkommenden Nachfragen die Möglichkeit verschafft, den Sachverhalt zu meinen Gunsten zu klären. Aber niemand scherte sich um die Unversehrtheit einer Drogenleiche.

Zum Auskochen puschte ich mich mit Kokain hoch, die Droge versprach, mein neuer Liebling zu werden. Ich hörte Orpheus und versank in der sich vor meinen Augen verändernden Tätowierung auf ihrem Oberarm. Sie tauchte aus dem Topf auf und verschwand, kräuselte sich, verschwand, tauchte wieder auf. Ein Ziegenkopf mit gelben Augen. Und verschwand. Mit einem Löffel stupste ich den Ziegenkopf und er starrte grimmig aus dem Blasen werfenden Wasser zurück. Er senkte die Hörner und versank. Das erste Stück Fleisch trieb oben auf. Ein Zittern vor Glück erfasste mich, Orpheus wurde von schnellen Streichern zerrissen und ich tauchte den Löffel in das kochende Wasser und füllte ihn. Ich konnte mich kaum kontrollieren und verschüttete das meiste, aber etwas davon gelang in meinen Mund. Ich explodierte innerlich, wurde auch zerrissen und wieder angeschwemmt, wie Orpheus. Ich hatte es gewagt, einen Blick zu weit zurück zu werfen. Der Löffel glitt aus meiner Hand und ich setzte mich. Lachte und hoffte, dass ich diesen Moment mit niemandem teilte.

Mandy, wie ich sie für mich nannte, verbarg ich in meiner Schreibtischschublade. Ihr Schulterblatt. Eine kräftige Brühe von ihr fror ich ein und etikettierte das Glas mit »OMI 08«, denn meine Großmutter vermachte mir nach Gute-Erziehungs-Besuchen meinerseits immer Eingemachtes.

Thanatos erzählte ich einiges, aber nicht alles. Er gratulierte mir und teilte mir mit, dass er einen Klienten vertrat, der sich selbst aufessen wollte. Die Finger seiner linken Hand hatte er sich abgeschnitten und verspeist. Nun wollte er einer Einweisung in eine psychiatrische Klinik entgehen und verwies auf sein Recht eines selbstbestimmten Lebens, dass eine Selbstverstümmelung mit anschließendem Verzehr rechtfertigte, denn es handelte sich dabei nicht um einen Suizid, der strafbar war, sondern im weitesten Sinne um eine Körperverschönerung und eine religiöse Handlung. ›Wie krank muss denn der Klient von Thanatos sein‹, dachte ich mir und machte mir Gedanken.


Mit dem Namen Kronos führte mich Thanatos in die Community ein. Kronos, der jüngste der Titanen, der seine eigenen Kinder verschlang. Aus Angst davor, von seinen Kindern gerichtet zu werden, wie ihm prophezeit wurde. Auch ich verschlang meine eigenen Kinder, mein eigenes Geschlecht, meine mir anvertrauten Leichen. Und nur sie konnten mich richten. Meine eigenen Brüder und Schwestern, wenn sie etwas hätten sagen können. Letztlich wollte ich einen griechisch klingenden Namen, der etwas hermachte, und ich bildete mir ein, es geschickter als Kronos anzustellen. Viel wichtiger war die von mir empfundene Gottähnlichkeit durch mein Handeln. Ich hatte wahren Anteil an dem Tod, noch mehr, ich entriss ihm etwas und führte es in das Leben zurück. Nicht, dass ich ernsthaft glaubte, ich hätte die positiven Eigenschaften der Verspeisten angenommen, das war es nicht. Ich hatte eher das Gefühl, dem Tod dahin zu folgen, wo ihn kein Mensch hätte sehen dürfen. Mit jedem Mal stieg meine Angst, aber auch mein Verlangen.

In Thanatos sozialem Schatten erkundete ich die Gemeinschaft der »Menschenfleischesser« und ich war erstaunt. Fühlte ich mich mit meiner Neigung zuvor allein in vertrauter Zweisamkeit, sah ich unter jedem Stein, den ich umdrehte einen Gleichgesinnten. Busfahrer, Studentinnen, Krankenpfleger, Ärztinnen, Juristen, Arbeitslose. Viele von ihnen waren überaus redselig, zu redselig für meinen Geschmack, aber einige von ihnen empfand ich durchaus als charmant mit Tiefgang. Jedoch konnte niemand mit meiner organisierten Professionalität konkurrieren, allein aus diesem Grunde hielt ich mich lieber bescheiden zurück. Niemand sollte wissen, wie viele Leichen ich im Keller hatte.


Es akkumuliert sich. Es kann sich kaum noch ausdehnen. Es entsteht Druck. Der lautlose Schrei schwillt an und entfesselt infernalische Energien. Türme, Spiralen, Strudel, sämtliche geometrische Formen entstehen und zerbersten. Die Kräfte schmiegen sich an den Grenzen, zerfließen dort unter Druck, werden komprimiert und wieder komprimiert.


Ich stehe auf einer weiten Ebene aus durchsichtigem Eis und unter mir ist dunkles Wasser, dessen Tiefe in mir Angst erzeugt. Es gibt keinen Bruch im Horizont. Weites schwarzes Eis. Ich gehe ein paar Schritte. Wenn nichts ist, spürt man sich selbst. Ich kontrolliere meine Vitalfunktionen. Atmung: gespannt, aber normal, Temperatur: normal.

Ich gehe noch ein paar Schritte und achte auf meinen Gleichgewichtssinn: normal, Gehör: alles in Ordnung, ich höre meine Schritte. Bewegungen unter mir erschrecken mich. Da war etwas! Natürlicher Impuls. Noch mal den Horizont nach etwas Sicherem absuchen. Eine weitere Bewegung. Unter dem Eis wird ein menschlicher Körper an die Unterseite des Eises getrieben. Den Mund zu einem stummen Schrei aufgerissen.

Ein Mann, nackt, blass. Das Eis und das Wasser brechen nicht das Licht. Ich kann ihn wie durch Glas sehen. Noch ein Körper, noch einer und noch einer. Überall tauchen gequälte Leiber auf und winden sich unter der Eisoberfläche. Sie bedecken bald die gesamte Unterseite und drängen sich an die freien Plätze. Dem Mann unter meinen Füssen treten die Augen hervor, er wird von anderen Körpern gedrückt, er muss seinen Kopf neigen und sein Gesicht wird an die Unterfläche gequetscht. Er versucht sich in eine Haltung zu bringen, die dem Druck standhalten kann, aber ihm bleibt keine Zeit, sein rechter Arm wird nach hinten gedrückt. Anderen ergeht es ähnlich. Überall. Blut ergießt sich aus seinem Mund und sein Kopf deformiert sich pathologisch. Blut.

Ich wache auf, setze mich in die Küche und mache mir eine kräftige Brühe. Danach geht es mir besser und ich kann zur Arbeit gehen. Es ist gut, wenn man zu Fuß geht. Bewegung schadet nicht.


Später bearbeite ich freiwillig die in ihrer Anzahl stetig steigenden Gewaltopfer aus den Hamburger Prekariatszonen, wie zum Beispiel Hamburg Mümmelmannsberg. Die Kids waren wirklich krank, und kaum ein Verstorbener kam unversehrt zu mir, so dass es ein Leichtes war, einen Teil mitzunehmen.

Meine Verdauung litt anfangs ein wenig unter der Ernährungsumstellung, denn der Konsum von zu viel Menschenfleisch kann zu chronischer Darmträgheit führen. Durch die Aufnahme von Rohkost als Ergänzung in meinem Speiseplan, glich ich die Unbekömmlichkeit aus.

Thanatos litt unter ähnlichen Problemen. Mittlerweile kommunizierten wir nur noch chiffriert und unsere Texte waren gelegentlich komisch prosaisch. Essen nannten wir tanzen, ein Ohr war ein Blumenkohl. Thanatos bezog seine Nahrung aus seinem anwachsendem Klientenstamm und seiner Szene aus Selbstverstümmlern. Sexuelle Begierden spielten in seinem Milieu gewiss auch eine große Rolle, seine ekstatischen Berichte über den Verzehr eines männlichen Hoden konnte ich emotional nicht annehmen. Für mich war das krank, denn es ging um etwas ganz anderes bei dem Verzehr von Menschenfleisch.


In der Vorweihnachtszeit gab es eine Massenkarambolage auf der A7. Für Hamburger Verhältnisse war es seit Jahren der größte Unfall: Vierundzwanzig Tote und hundertachtundzwanzig Verletzte. Ich arbeitete an meinem Limit, konnte mich aber mit meinem Weihnachtsdrogenvorrat über Wasser halten. Die enormen Strapazen führten zu einem unangenehmen Kontrollverlust. In einer Mittwochnacht war ich erneut damit beschäftigt, Gewebe, Gliedmaßen, Zähne, etc. zu nummerieren und zuzuordnen. Aufwendige Puzzlearbeit, die ein hohes Maß an Konzentration erforderte.

Der Geruch von frischem Fleisch und Blut hatte mittlerweile eine vitalisierende Wirkung auf mich, so dass ich mich auf den Punkt genau auf mein Handeln fokussieren konnte. Akkurat trennte ich aufgrund von verschiedenen Kleidungsfasern nicht zusammengehöriges Gewebe voneinander, als ich aus dem Berg von Arbeit einen tätowierten Ziegenkopf mit gelben Augen erspähte. Auf dem abgerissenen Unterarm eines jungen Mannes. Oberhalb des Ellenbogens, kleiner Finger, Ring- und Mittelfinger abgerissen.

Ich sah mir den Unterarm genauer an, sog den Geruch am Stumpf ein und riss ein zeige- und mittelfingerbreites großes Stück Fleisch mit den Zähnen heraus. Schlang es herunter und biss erneut in den Arm.


Ich denke, an diesem Punkt habe ich die Kontrolle verloren und wandelte bis zur Abarbeitung meines Klientels auf gefährlichen Pfaden. Ich nahm zu viel mit und konnte gar nicht alles verarbeiten, geschweige denn kühlen.

Kurz vor Weihnachten beschwerte sich meine Vermieterin wegen des unangenehmen Geruchs bei mir. Ich konnte sie leider nicht hinein bitten, da sich allerlei Leichenteile in der Wohnung in eilig gekauften, bunten Plastikwannen von Real stapelten und vor sich hin verwesten. Über Weihnachten erledigte ich einen Großteil der Schreibarbeit, fuhr meinen Drogenkonsum gegen Null runter und entsorgte alles Verräterische. Zwischen den Feiertagen suchte ich nach einer Immobilie auf dem Land. Im nordöstlichen Umland Hamburgs wurde ich in Wilstedt fündig. Ein ehemaliger Wirtschaftshof, der nur über einen Landwirtschaftsweg zu erreichen war. Keine direkten Nachbarn, ein großer Garten, viele Arbeitsgebäude. Im März zog ich ein.


Das Eis vibriert. Der Kopf des Mannes wird wie eine Traube zerdrückt. Gehirnmasse, Knochenstücke, Blut und dunkelblaues Muskelfleisch verschmieren die gläserne Fläche. Stille. Großer Druck. Überall reißen die gequetschten Körper auf und ergießen sich unterhalb des Eises, wie zerplatzte Daunenfederkissen. Ich blute.

Woher? Keine Ahnung. Blut quillt aus mir. Ich schmecke es. Das Eis surrt. Kronos, schreie ich. Ein Geräusch. Es erinnert mich an meine Kindheit. Ein Schlittschuhfahrer fährt über einen See und das Eis flirrt. Die riesige Wasserfläche trägt den Ton und multipliziert ihn. Es splittert.

Ich wache auf und fahre den Rechner hoch. Ich suche nach Hunden. Manchmal komme ich mir in der Einsamkeit nicht so sicher vor. Crab, mein Suchprogramm empfiehlt zwei junge Schäferhunde aus dem Tierheim Neumünster.


Januar. Thanatos und ich hatten beschlossen, uns einmal bei mir zu treffen. Wir hatten keinen Termin vereinbart. Pan und Apollon, so habe ich die beiden Schäferhunde genannt, waren zu echten Gefährten geworden. Sie bewachten Haus und Hof, während ich weg war und gaben mir Sicherheit, wenn ich im Arbeitsschuppen sang und tanzte. Mittlerweile konnte ich gut größere Mengen auf einmal verarbeiten, nur es ergab sich nichts. Ich betrieb viel Sport und hatte mit meinen zweiundvierzig Jahren das Gefühl, unsterblich zu sein. Ich hatte Kraft und Ausdauer wie ein Leistungssportler. Der Dickdarm war manchmal etwas gereizt, aber nun, was soll’s: Stellen Sie sich mal nicht so an, Herr Dickdarm! Sie müssen mal das große Ganze betrachten, Sie Wurst!


März. Er kam aus Berlin. Wollte Freunde in Hamburg besuchen. An einer Autobahnraststätte fährt der Arsch, der ihn mitgenommen hat, mit seinen Sachen weg und da steht er ohne Karte, ohne Kohle. Trampt weiter, aber niemand hält an.

Dann kommen drei Typen, sehen normal aus und bieten ihm an, ihn zu einer besseren Raststätte zu fahren. Er sieht ein wenig Links aus, aber noch ganz ordentlich dabei. Die Typen sind Rechts, sehen aber völlig normal aus. Fahren von der Autobahn runter, machen ihm Angst. Einer hatte eine Pistole, sagte er. Fahren über verlassene Dörfer auf eine Waldraststätte. Spielen Hinrichtung mit ihm. Erniedrigen ihn. Quälen ihn. Auf einer Holzbank brechen sie ihm beide Arme. Verschwinden. Hat er sich von ihnen etwas merken können? Gar nichts, sie haben ihn gebrochen. Soll häufig bei Opfern von Gewalttaten vorkommen, hatte mir mal ein Polizeipsychologe erklärt.

Ich konnte nicht schlafen und bin mit Pan und Apollon herumgefahren. Finde ihn. Helfe ihm ins Auto und bringe ihn zu mir ins Haus. Versorge ihn. Er schläft. Ich nicht. Kann ich nicht. Ich wandere umher, spüre die Nachtluft auf meiner Haut. Es hilft nichts. Ich betäube ihn und bringe ihn in den Arbeitsschuppen. Pan und Apollon denken die ganze Zeit, ich wolle mit ihnen spielen. Ich fixiere ihn Fünf-Punkt mit allem, was ich so zum Fixieren verwenden kann. Spiele mit ihm. Als er wach wird, redet er mit mir. Ich kann das nicht und betäube ihn. Morgen muss ich arbeiten, die Zeit drängt. In der Nacht wacht er wieder auf und wimmert. Er ist jung und kann nicht verstehen, dass sein Wimmern alles nur noch schlimmer macht.

Kronos. Ich weiß nicht. Das ist etwas anderes. Ich bin verwirrt.


Besuch. René hatte sich befreien können und auf den Pfaden des Zufalls wandelte Besuch zu mir. Ein Fremder aus dem Dorf. Ich konnte ihn überzeugen.

René und ich gucken uns die klaffende Wunde in seinem Arm an. Wir können es beide nicht wirklich glauben, aber er versteht mich, auch wenn er wild an seiner Fixierung reißt. Mit seinen Augen zwinkert er mir zu, dass er versteht, dass ich das machen muss. Ich weiß, dass er schreit, weil es ihm wehtut, aber ich verzeihe ihm. Ich würde wahrscheinlich auch nicht anders handeln. Sein Blick ist voller Liebe und Verständnis. Er bietet mir seine rechte Körperhälfte an und unter seinem Rippenbogen beiße ich zu.


Risse durchziehen das Eis und anstatt, das alles durch den Druck in einer Fontäne nach oben schießt, sinke ich knöcheltief ein, dann habe ich festen Halt unter den Füßen. Ich erwarte einen Ton, aber es bleibt still. Kein Schrei, kein Stöhnen. Aus der blutigen Masse tasten sich Hände nach oben, Arme, ganze Schultern mit Köpfen darauf. Ich spüre eine Welle von zerstörenden Empfindungen an mir zerren. Hass. Ein Urinstinkt stärker als Angst. Die Gequälten wollen zu mir. Sie wollen mich. Kronos, ihren Gott.

Ich wache auf. Pan und Apollon schlafen, aber ich habe die Angst aus meinem Traum mit herüber genommen. Als ich die Augen aufschlage, huscht etwas im Mondlicht vom Brunnen bis zur kleinen Koniferensiedlung. Huscht? Nein, es schwankt eher. Es glänzt, als ob es nass war. Dass Pan und Apollon schliefen, ließ mich an meiner Wahrnehmung zweifeln. Ich schreibe auf, was ich erlebt habe.


Wieder ein Geräusch. Ein schlichtes. Ein Tischtennisball landet auf einer Steintischtennisplatte. Dann nichts. Es war nicht viel für Materie oder sagen wir das erste Leben, was in diese Dimension eintrat. Es war schlicht und es war klumpig. Der Schrei war Fleisch geworden und in sich trug er all die Ängste, Sorgen, Schmerzen, den Hass, die Ohnmacht, die vergossenen Tränen, das vergossene Blut von all den Erschossenen, Zerbombten, Vergifteten, Erstickten, Erstochenen, Vergasten, Erschlagenen, Ertrunkenen, Verbrannten, Erhängten, Überfahrenen, Verhungerten, Verdursteten und wie auch immer aus dem Leben Gerissenen.

Was sollte es fühlen, außer einem gierigen Appetit auf den oder die Erschaffer seines Zustands?

Faulfleisch

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