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Der Mistkater

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Beim Blick aus den Doppelglasscheiben auf das Wäldchen in seinem Garten wurde ihm unwohl. Er vergewisserte sich, ob das Fenster auch tatsächlich geöffnet war. Selbst durch konzentriertes Lauschen hörte er nichts. Die Kiefern- und Tannenzweige wiegten sich im Wind, aber der Wind erzeugte mit ihnen keine Laute. Auch kein hergewehtes Motorengeräusch, nichts. Er stand allein in seinem Wohnzimmer. Er hörte sich atmen, wurde unruhig und schaute auf die Uhr über der Tür. 10:10 Uhr. Stille.

Wegen der Kinder waren sie auf das Land gezogen. Sein Sohn war im Kindergarten, seine Tochter mit seiner Noch-Frau bei ihren Eltern. Sie hatten sich wieder mal um nichts gestritten und er war gut darin, mit Gemeinheiten zu verletzen. Das Wissen darum brachte keine Abhilfe. Er war allein und wollte die Zeit mit Arbeiten verbringen, aber die ungewohnte Stille und seine herumschweifenden Gedanken warfen ihn seit zwei Stunden aus der Bahn. Es wirkte so tot.

In Hamburg hatten sie in der Nähe zum Kiez in einer Pärchen-Wohngemeinschaft gewohnt. Sein Zimmer hatte zum Hinterhof gelegen und dieser Hinterhof war ein reines Geräusche-und Laute-Biotop gewesen. Ein Streit im Nachbarhaus, der Gerüstbauer arbeitete in seinem Schuppen, irgendwer gegenüber hörte eine Operette. Selbst im kältesten und ungemütlichsten Winter drang ein akustischer Flickenteppich an sein Ohr. Jemand schloss sein Fenster, ein Bett wurde ausgeschüttelt, Schneeball werfende Kinder schrieen auf der Straße. Außerdem war es selten vorgekommen, dass er in der WG alleine gewesen war. Tim, sein Mitbewohner und Freund, hatte zu dieser Zeit Philosophie studiert. Vorwiegend hatte er sich zuhause in seinem Kellerzimmer aufgehalten, anstatt sein Studium im Hörsaal oder Seminarraum zu verbringen. Selbst Lesen erzeugte Geräusche, Tee wurde aufgesetzt, jemand ging auf die Toilette, alles zeugte von der Anwesenheit anderer.

Hier war nichts. Es schien ihm, als brauche er eine Geräuschkulisse zum Denken. 10:12 Uhr. Immer noch Stille, er seufzte und ging ins Arbeitszimmer. Mit der Maus vertrieb er seinen Bildschirmschoner. Alle vier lachend im Herbst am Nordseestrand. Seine Datenbank wartete auf Eingaben von ihm, doch ihm war nach Musik. Im Mediaplayer wählte er aus: Tinariwen. Er hatte sie vor kurzem in der Fabrik gesehen und mit ihnen fühlte er sich wieder in Gesellschaft. Er wog sich im Takt und bearbeitete seine Datenbank, doch seine Beklommenheit wollte nicht von ihm weichen. Das Gefühl konnte er nicht begründen. Seit sie auf dem Land wohnten, suchte es ihn heim. Immer, wenn er allein war. Eine Mischung aus sich beobachtet fühlen und einen Weltuntergang als einziger nicht mitbekommen zu haben.

Er erinnerte sich, dass er an einem Feiertag von seiner Oma zurückgefahren war, und nach der Autobahnabfahrt auf dem Weg nach Bargteheide über einige Dörfer keine Menschenseele, kein fahrendes Auto angetroffen hatte. Die Dörfer wirkten wie ausgestorben auf ihn. Vor der malerischen Abendsonne war eine düstere Wolkenfront aufgezogen. Im Radio hatte er die Informationsschleife von NDR-Info gehört und es beschlich ihn das Gefühl, einen atomaren Holocaust oder eine andere Katastrophe als einziger versehentlich überlebt zu haben. Während der zwanzigminütigen Autofahrt hatte er sich in eine Endzeitangst hinein gesteigert, die er offenbar bis jetzt konserviert hatte. Er kostete von dieser Angst und sie schmeckte ähnlich wie damals.

Er sah aus dem Fenster, lauschte und die lebhafte Musik von Tinariwen verlor ihre Wirkung auf ihn. Immer noch spielte der Wind mit den Zweigen, immer noch glänzte die orange- und rotfarbene Plastikrutsche in der Sonne als letztes Zeichen eines vergangenen Kinderlachens. Er stellte die Lautsprecher aus, um endlich etwas hören zu können, aber es war nach wie vor still.

Um 10:16 Uhr erschrak er sich, als der Kater der Nachbarn auf den Fenstersims sprang und ihn anstarrte. Der Kater miaute, richtete sich auf und streckte eine Pfote durch den Fensterspalt. Liam lachte nach dem Schreck auf. »Mistvieh!«, er stand auf und spielte mit der Katerpfote, indem er sie antippte und versuchte, sich nicht von den Krallen erwischen zu lassen. Der Kater war schneller und zog ihm an der Seite seines Zeigefingers einen blutenden Kratzer zu. »Verdammt!«, fluchte Liam und sog sich im Reflex das Blut aus dem Finger. Der Kater schnurrte und tastete mit seiner Pfote umher. In einem Anflug von Wut dachte Liam daran, das Fenster zu schließen und dem Kater die Pfote zu klemmen, aber letztlich siegte die Einsicht. Er hätte wissen müssen, dass der Kater schneller sein würde.

Liam fiel Blut im weißen Fell des Katers auf. Das Kinn und auch die nadelspitzen Zähne zeigten Restspuren einer blutigen Mahlzeit. Liam lutschte an seinem Finger, ging zum Medizinschrank und desinfizierte die Wunde. Er bestrich sie mit Jodsalbe und klebte ein Pflaster darauf. Währenddessen überlegte er, wo so ein Kater vom Land sich seine Mahlzeiten besorgte und keiner der Gedanken war appetitlich zu nennen.

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