Читать книгу Melody - Das Erwachen - Violett McKenzie - Страница 4
Оглавление»Das Glück,
kein Reiter wird's erjagen,
es nicht dort und ist nicht hier.
Lern überwinden,
lern entsagen,
und ungeahnt erblüht es dir.«
Theodor Fontane (1819-1898)
Kapitel 1
»Noch fünf Minuten bis zum Vorhang!«
Jetzt ist es bereits zwölf Jahre her, dass ich zum ersten Mal vor meinem Schminktisch gesessen habe, dachte Melody bei sich. Abwesend betrachtete sie sich im Spiegel, während sie ihr langes rotbraunes Haar kämmte. Behutsam zog sie die Bürste durch ihre hüftlangen Locken. Die wiederholenden Striche beruhigten ihre ohnehin schon angespannten Nerven. Ihre grüngoldenen, katzenförmigen Augen wanderten von ihren Haaren zu den Narben, die ihren Handrücken bedeckten.
Langsam senkte sie ihre Hand und ließ diese auf die Tischplatte sinken. Auf sie wirkte diese Hand schrecklich, insbesondere neben dem filigranen Kamm und Spiegelset aus Silber, das unmittelbar daneben lag. Trotz all der unzähligen rekonstruktiven Operationen in den letzten fünf Jahren, waren die Narben für sie noch immer sichtbar – wenngleich Menschen, die ihre Narben vor den chirurgischen Eingriffen gesehen hatte, diese kaum noch wieder entdeckten.
Fast schon ehrfürchtig rieb sie über das leicht raue und etwas unebene vernarbte Gewebe, das den größten Teil der verletzten Hand auf ihrem Handrücken bildete. Es gab Zeiten, in denen sie vergaß, wie ihr Leben vor dem zwanzigsten Lebensjahr gewesen war – dem schrecklichen Feuer –, das alles verändert hatte. Stirn-runzelnd schaute sie zum Spiegel. Wieder einmal musste sie sich zur Räson bringen, um sich nicht mehr schuldig zu fühlen. Manchmal empfand sie es als schwer, zu erkennen, wieviel Glück sie gehabt hatte. Auch war es ihr nicht leichtgefallen, als Schauspielerin weiterzumachen, nachdem sie von den Brandnarben entstellt worden war. Sie war stolz auf den Mut, den sie diesbezüglich aufgebracht hatte.
Ein leises Klopfen an der Tür hinter ihr holte sie in die Gegenwart zurück. »Herein«, rief sie leise als Antwort.
Eine junge Frau steckte den Kopf in den Raum. »Noch fünf Minuten bis zum Vorhang, Miss Tyrrell.«
Melody lächelte sie an. »Wie oft habe ich dich gebeten, mich bitte Melody zu nennen, Jessica?« Sie stand auf und ging zu der jüngeren Blondine hinüber. »Ich hoffe doch, dass ich nicht solch einen unfreundlichen Charakter habe!«
Jessica lachte nervös. Mit ihren verschwitzten Handflächen strich sie sich über ihre von einer Jeans bedeckten Beine. »Überhaupt nicht, Miss Tyr … Ich meine: Melody. Du warst so nett zu mir. Ich kann dir gar nicht genug dafür danken, dass du mich dem Direktor empfohlen hast, deine Schwester zu spielen, als Cherry eine Blinddarmentzündung bekam.«
»Ich bin nur froh, dass ich dich an diesem Tag üben hörte, Jessica. Du hattest bereits alle anderen Teile auswendig gelernt. Auch warst du mir eine so große Hilfe, seit Alles begann. Ich habe wirklich Glück, dich und deine Familie getroffen zu haben.«
Jessica lachte und ging zum Garderobenständer hinüber, um Melodys Kleid vom Bügel zu nehmen. Sie hielt es hoch, damit diese es über ihren Kopf ziehen konnte. »Machst du Witze? Meine Eltern finden dich toll!« Sie begann die Knöpfe am Rücken zu schließen. »Ich gebe zu, dass sie anfangs ein wenig überwältigt waren. Es ist ja nicht jeden Tag so, dass ein Delikatess-Shop-Besitzer und seine Frau einen echten Filmstar treffen … Ganz zu schweigen von einem, der nach all den Jahren seinen zweiten Oscar gewonnen hat! … Halte bitte still. Einige deiner Haare sind in einem der Knöpfe hängen geblieben.«
Melody bewegte sich unbewusst. »Es gibt Momente, in denen ich daran denke, meine Karriere zu beenden, sobald dieser Ansturm auf den Broadway nachlässt.« Sie setzte sich wieder auf ihren Stuhl und fasste mit wenigen Handgriffen ihre Haare zu einem ordentlichen französischen ›Chignon‹ zusammen. Dann nahm sie den kunstvollen Kopfschmuck, den Jessica ihr reichte, und befestigte ihn geschickt mit ein paar Haarnadeln.
»Ich denke, das bedeutet, dass du dich definitiv entschieden hast, nicht mit der Truppe auf Tour zu gehen.« Jessica begann, den Tisch aufzuräumen, als Melody zur Tür schritt.
»Lass' das für später liegen, Jessica. Du musst an dein eigenes Kostüm denken«, lächelte Melody. »Ich hätte es nie für möglich gehalten, dass ich einmal in einer musikalischen Shakespeare-Interpretation am Broadway mitspielen würde«, murmelte sie vor sich hin, als sie Jessica mit sich durch die Tür führte und diese hinter sich schloss. »Und ja, du hast recht ... Ich werde nicht mit dem Rest der Besetzung nach Philadelphia fahren.« Sie warf ihr einen fragenden Seitenblick zu. »Hast du dich denn schon entschieden?«
Auf Jessicas Gesicht machte sich ein trauriges Lächeln breit. »Na, du kennst doch meinen Vater. Er kann sich ganz und gar nicht mit dem Gedanken anfreunden, dass ich das Nest verlasse … Ganz zu schweigen vom Staat, um quer durchs Land zu reisen. Ich glaube ja, er vergisst immer wieder, dass ich inzwischen zweiundzwanzig Jahre alt und erwachsen geworden bin.«
Melody schlang ihren Arm um die Schultern der jüngeren Frau. »Du weißt, dass das nicht alles ist. Er macht sich einfach nur Sorgen, was mit dir passieren könnte.«
»Ja ja …!«, schmunzelte Jessica. »Er wäre deutlich weniger besorgt, wenn du deine Meinung ändern und auch mitkommen würdest. Seit du bei uns bist, vertraut dir mein Vater, und er würde sich sehr viel besser fühlen, wenn er wüsste, dass du auch weiterhin mit von der Partie bist.«
Melody lachte über den bittenden Blick in Jessicas blauen Augen.
»Ich habe es geliebt, bei dir und deinen Eltern zu sein, Jessica. Ich wäre in den letzten sechs Monaten verrückt geworden, wenn du dich nicht meiner erbarmt und mich aus diesem schrecklichen Hotel gerettet hättest, in das mich die Produzenten untergebracht haben ... Du und deine Familie, ihr habt mir das Gefühl gegeben, wieder ein normaler Mensch zu sein. Und das ist etwas, das ich schon lange nicht mehr gefühlt habe.«
Jessica bemerkte den wehmütigen Blick in Melodys goldenen Augen, sowie die körperlichen und emotionalen schmerzhaften Blitze darin.
Normalerweise schaffte es Melody, sie abzulenken, ehe sie irgendwelche Fragen stellen konnte. Sie war sich sicher, dass Jessica etwas über die Geschichte ihrer Verletzungen wusste. Jedes Mal, wenn sie oder ein Mitglied ihrer berühmten Familien in den Medien auftauchte, was nicht oft der Fall war, wurde die ganze grausame Geschichte des Feuers erneut thematisiert und in jeder Einzelheit aufgezeigt. Jessica ritt nie darauf herum, und Melody hatte ihr gegenüber bereits angedeutet, dass wenn sie bereit war, diejenige sei zu der sie gehen würde. »Du solltest dich beeilen«, mahnte sie nach einer kurzen Umarmung, »damit du deinen eigenen Vorhang nicht verpasst.«
»Meine Chancen mit auf Tour gehen zu können möchte ich natürlich nicht vermasseln.« Jessica lachte. »Obwohl ich ja manchmal das Gefühl habe, Mr. Gleeson akzeptiert mich nur deinetwegen. Ich möchte meine Chancen nicht vermasseln.
Melody lächelte sanft. »Du hast bewiesen, dass du eine gute Schauspielerin bist«, beruhigte sie Jessica, »und das weiß Edward jetzt. Er brauchte am Anfang nur einen kleinen Schubs.«
»Ich bin nur froh, dass du ihn in meine Richtung geschubst hast.« Jessica sah, wie der Bühnenmanager hinter Ihrer Freundin auftauchte. »Mr. Walker kommt«, raunte sie ihr zu und grinste. »Ich bin dann mal weg, bevor er mich beschuldigt, dass du zu spät dran bist!« Damit verschwand sie schnell in einem der Umkleideräume, den sie sich mit einigen anderen jungen Frauen der Besetzung teilte.
Melody drehte sich herum. »Hallo Noah«. Grüßte sie den strengen, aber fairen Bühnenmanager. »Du solltest dich ein wenig vorsehen.«
»Warum?«
»Bei den anderen Darstellern hast du schnell einen schlechten Ruf als Ungeheuer weg, wenn du so weitermachst.«
Der Dreißigjährige, der jetzt zu ihr aufgeschlossen hatte, lächelte und fuhr sich mit einer Hand durch sein zerzaustes Haar. »Damit kann ich gut leben, solange ich dadurch die Arbeit erledigt bekomme … Du hast übrigens nur noch dreißig Sekunden, um es auf der Bühne bis zu deiner Marke zu schaffen!«
Melody grinste den Mann an, der behauptete, dass es ihm gleichgültig sei, was die Ensemble-Mitglieder von ihm dachten und der Meinung war, keine Freunde zu brauchen. Dennoch hatte er sich schon zu Beginn der Proben mit ihr angefreundet. Außerdem war ihr aufgefallen, wie oft er Jessica mit seinen grüblerischen grauen Augen gefolgt war. Sie wusste, dass es nur eines gewissen Anstoßes brauchte, die beiden zusammenzubringen, obwohl der Altersunterschied mehr als zehn Jahre betrug – und ungeachtet besseren Wissens, verspürte sie das unstillbare Bedürfnis, den ›Cupido‹ für die beiden zu spielen. Wissend lächelte sie ihn an. Dann schritt sie schnell zur Bühne hinauf.
***