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Fünftes Kapitel

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Jetzt versuch ich schon seit tausend Stunden einzuschlafen, oder mindestens drei. Aber wer kann schon schlafen, der einmal in einer Festung war und die Seufzer von Gefangenen gehört hat, die schon dreihundert Jahre tot sind. Dabei hab ich das gar nicht gehört. Ich hab nur den Kopf voller schrecklicher Seufzer, und es ist wirklich unmöglich einzuschlafen, wenn so viele alte Seufzer im Weg sind.

Morgen bin ich bestimmt ganz bleich und matt in der Schule, weil ich nicht geschlafen habe. Vielleicht falle ich nach der Sportstunde auch in Ohnmacht im Umkleideraum. Oder sogar vorher, dann brauch ich mich wenigstens nicht umzuziehen. Aber das hilft nun nichts. Ich muß auf jeden Fall erzählen, was heute abend draußen vor der Burg passiert ist.

Viele glauben wahrscheinlich, daß es gar keine Burg in unserer Stadt gibt, sondern nur eine alte Festung. Aber es ist wirklich eine Burg, denn das sagen alle in Stockholm.

Stockholm liegt fünfhundert Kilometer von unserer Stadt entfernt. In Richtung Keksfabrik. Das ist ja wohl klar. Wenn man fünfhundert Kilometer in die entgegengesetzte Richtung mißt, landet man im Meer, und nicht jeder kann auf dem Wasser gehen, wie unsere Lehrerin in Religion erzählt hat.

Wir wollten uns um vier Uhr treffen, und da war es schon dunkel. Ich war die erste. Ich komme immer als erste oder als letzte, wenn etwas ist. Meine Mama ist genauso. Sie sagt, das kann man sich nicht abgewöhnen.

Ich guckte zur Festung hinauf, und zuerst fand ich, daß sie genau wie immer aussah. Dicke graue Mauern – die meisten ziemlich kaputt. Aber ein Turm ist noch heil. Er hat ein grünes Dach. Und dann gibt es ein paar tiefe Fensterlöcher in dem Turm, und jetzt kam es mir so vor, als ob sich dort etwas bewegte.

Ich guckte und guckte, und da bewegte es sich wieder. Ich lachte vor mich hin, denn es kann sich ja nichts bewegen in einem Fenster in einer Festung, wenn im Winter geschlossen ist. Das Tor ist verschlossen, und am Kartenhäuschen hängt ein Schild, auf dem steht, daß die Festung vom 15. Mai bis zum 15. September geöffnet ist.

Ich kann schon ziemlich gut lesen.

Ich guckte wieder zu dem Fensterloch hoch oben hinauf, und jetzt sah ich etwas Weißes in dem schwarzen Loch flattern.

»Läufst du immer mit offenem Mund rum?« hörte ich jemanden fragen. Es war Arne.

Ich machte sofort den Mund zu.

»Wonach guckst du?« fragte er weiter.

»Nichts«, sagte ich, denn jetzt bewegte sich nichts mehr in dem Fenster, und man will ja schließlich nicht ausgelacht werden.

»Ich hab was mitgebracht«, sagte Arne.

Das sah ich jetzt. Es war eine Art Bruder. Ein ganz kleiner mit schwarzen Haaren, die überall unter der Mütze hervorstanden. Er hatte das schmalste Gesicht, das ich je gesehen hatte. Zum Glück war die Nase sehr klein, sonst wäre kein Platz mehr für die Augen gewesen.

»Hallo«, sagte ich.

»Das ist Eddie«, sagte Arne, »mein kleiner Bruder.«

»Heigentlich heiß ich Hedmund«, sagte der Junge mit ganz piepsiger Stimme.

»Rede anständig«, sagte Arne und trat ihn gegen das Schienbein.

»Heigentlich heiß ich Horvar«, sagte der Junge.

Da kamen die anderen alle angelaufen.

»Wer ist das denn?« fragte Jorma und zeigte auf Eddie.

»Eddie«, zischte Arne. »Wer soll das sonst sein?«

Jorma blieb die Spucke weg. Er fing an, den schmalen Pfad zum Festungstor raufzugehen. Wir anderen trabten hinterher.

Jorma rüttelte am Tor. Aber das war wirklich abgeschlossen. Ich zeigte zu dem Fensterloch oben im Turm.

»Da hat sich vorhin was bewegt.«

»Klar bewegt sich was«, sagte Arne. »In jeder alten Burg bewegt sich was. Das sind Fledermäuse und Skelette und was so da drinnen rumschwebt.«

»Das ist mir gar nicht aufgefallen«, sagte Krille. »Und ich hab doch schon zweimal mit meinem Papa eine Führung durch die Burg mitgemacht. Die haben nur von Soldaten und Kanonen erzählt und daß kein Feind es jemals geschafft hat, da reinzukommen.«

»Du büffelst zuviel«, sagte Arne ruhig. »Streber.«

»Ein Streber, was ist das denn?« Krille wandte sich an mich.

»So was haben die in Stockholm, ist doch klar«, sagte ich und zuckte mit den Schultern.

Arne guckte mich bewundernd an.

»Mich friert«, sagte Janna. »Wie sollen wir nun reinkommen?«

»Hat denn keiner einen Dietrich?« fragte Maria Magnusson kichernd.

»Wir gehen mal drum herum. Vielleicht finden wir irgendwo ein Loch«, sagte Arne.

Man muß sehr weit laufen, wenn man um die Burg herumgeht, fast wie wenn man um eine Stadt herumgeht, nur viel anstrengender und komplizierter. Da gibt es einen Haufen Büsche und Äste und alte Bierdosen und kaum einen Weg. Und wenn mal ein Weg da war, war es auch nicht besser, denn der war ganz vereist. Nachdem wir schon furchtbar lange gegangen waren, hatten wir erst die Hälfte geschafft. Wir waren auf der Seite angekommen, von wo man auf den großen Fluß schaut.

Linda und Eddie stöhnten am meisten.

»Jetzt kehr ich um«, sagte Linda.

»Du bist wohl ein Schwächling, was?« sagte Jorma.

»Jetzt kehr ich um«, piepste Linda wieder.

»Dann tu das doch, Schwächling«, riefen mehrere.

»Aber ich trau mich nicht allein«, sagte Linda. »Und guckt mal meine neuen rosa Handschuhe. Sie sind ganz schmutzig.«

Alle lachten, nur Linda nicht.

»Ich hab Hunger«, sagte Eddie.

»Halt’s Maul«, sagte Arne.

Das hier war wirklich echt toll. Keine Expedition für Blödmänner. Mein Papa hat mir mal eine Geschichte von einem Mann vorgelesen, der zum Nordpol gefahren ist, und das war ungefähr genauso hart. Der Mann ist erst in einem Luftballon geflogen und dann mit einem Hundeschlitten gefahren. Aber er hatte ein Gewehr und ein Klavier dabei. Er hat sich also nie gelangweilt. Um die Burg herumzugehen wurde allerdings ziemlich langweilig, und ich hatte überhaupt kein Gefühl mehr in den Zehen. Aber ich bin ja kein Schwächling und sag so was nicht laut. Übrigens hat mein Papa ein elektrisches Fußbad. Ich weiß also, daß ich jederzeit mein Gefühl in den Zehen wiederkriegen kann.

»Jetzt reicht’s mir«, sagte Arne plötzlich. »Wer ist eigentlich auf die blöde Idee gekommen?«

Alle schwiegen.

»Das war doch deine Hidee, du Holzkopf«, sagte Eddie und boxte Arne in den Bauch.

»Ach ja, natürlich«, sagte Arne und fing an zu lachen.

Wir trabten denselben Weg zurück, den wir gekommen waren.

Als wir wieder vor dem Tor standen, sagte Arne: »Wir forschen ein andermal weiter.«

Ich guckte zum Fensterloch hinauf, das in der Dunkelheit kaum zu erkennen war. Und dann zeigte ich hinauf und schrie plötzlich. Die anderen fingen auch an zu schreien.

Da war tatsächlich was Weißes, zum Beispiel ein Gesicht.

Mimi und die kalte Hand

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