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Die Frau sah durch Hannah hindurch und schien sie nicht wahrzunehmen. Sie trug einen beigefarbenen, elegant geschnittenen Wintermantel, dazu passende Stiefel aus braunem Leder. Sie hieß Hannelore Kowalski, geboren am 23. September 1895 in Gießen. Vom 1. Januar 1938 bis zum 31. Dezember 1944 hatte sie als leitende Oberschwester in der Zwischenanstalt Herborn gearbeitet. Ihr Vorgesetzter war Dr. Herbert Moor gewesen. Ruths Schwester Thea hatte ihn Dr. Schnipp-Schnapp genannt, weil er die Zwangssterilisationen durchführte. Er stand auf der Fahndungsliste des CIC, galt jedoch als unauffindbar.

Sie hatte die Oberschwester mit den knochigen Wangen und der Hakennase, die ihr den Spitznamen der Geier eingebracht hatten, sofort wiedererkannt. Daran änderten auch die modische Kleidung und die dezente Schminke nichts. Hannelore Kowalski mochte sich gehäutet haben, unter der neuen Haut steckte dieselbe alte Giftschlange.

Hannah war inzwischen zu einer selbstbewussten jungen Frau herangereift, die sich vor niemandem fürchtete. In Gegenwart der verhassten Oberschwester kehrte jedoch die Todesangst zurück, die während des Aufenthalts in den Tötungsanstalten in Herborn und Hadamar ihr ständiger Begleiter gewesen war. Jeder Tag hätte der letzte sein können, wenn Ärzte wie Moor und seine gefühlskalten Helfer es so beschlossen. Hannah hatte in ihrer Kindheit unter einer leichten Form von Epilepsie gelitten, im Lauf der Jahre jedoch waren die Anfälle seltener geworden und hatten schließlich ganz aufgehört. Beim Anblick der ehemaligen Oberschwester spürte sie zum ersten Mal seit langer Zeit die vertraute Dunkelheit kommen, die einem epileptischen Anfall voranging. Ihr Puls beschleunigte sich und ihr Blickfeld verengte sich zu einem immer schneller kreisenden Tunnel. Erschrocken kämpfte sie gegen die heranrasende Finsternis an, in der winzige Blitze zuckten.

Lange verdrängte Bilder tauchten vor ihren Augen auf: das kleine Mädchen, dessen Beine zu kurz waren, um in den grauen Bus steigen zu können. Der kleine Ralfi, der sich ängstlich an Hannah geklammert und vier Wochen später tot im Keller der Anstalt gelegen hatte … und die Puppe. Als die Kowalski das Mädchen hochgerissen und in den Bus gestoßen hatte, hatte es die Puppe verloren, eine einfache Puppe mit Armen und Beinen aus gedrehten Hanffasern und kreuzförmig aufgestickten Augen. Das Kind war längst tot, die Puppe besaß Hannah noch heute.

Wie hypnotisiert starrte sie auf das Profil der früheren Oberschwester, die die Transporte in die Tötungsanstalten zusammengestellt hatte. Hannahs Wangen brannten, als lägen die Schläge, mit denen die Frau sie gequält hatte, nicht Jahre, sondern nur Minuten zurück.

Die Kowalski hatte einen kleinen Spiegel aus ihrer Handtasche geholt, musterte kritisch ihre Reflexion und schraubte die Kappe von einem Lippenstift. Die Geste war so alltäglich und harmlos, dass sie auf eine plumpe Weise entwaffnend wirkte. Selbst Hannah vergaß beinahe, dass die Oberschwester Hunderte Unschuldige in den Tod geschickt hatte.

Sie rief sich die Einzelheiten der Akte ins Gedächtnis, die sie vor einer knappen Woche bearbeitet hatte. Laut Zeugenaussagen war Hannelore Kowalski im Frühjahr 1944 von Herborn in die Anstalt Grafeneck gewechselt und dort an den sogenannten »Abspritzungen« beteiligt gewesen. Sie hatte Dutzende Menschen mit geistiger Beeinträchtigung eigenhändig mit Scopolamin getötet.

Im Gegensatz zu Moor war Hannelore Kowalski von der Fahndungsliste gestrichen worden, weil ihr Mann sie vor einem Monat für tot hatte erklären lassen. Offiziell wurde sie seit einem Bombenangriff auf Gießen im Frühjahr 1945 vermisst. Nun saß sie quicklebendig in der Straßenbahn und zog ihren Lippenstift nach. Offenbar fühlte sie sich völlig sicher. Da sie die Linie 13 benutzte, musste sie gute Verbindungen zu den Amerikanern besitzen. Ihrer Kleidung nach zu urteilen, schien es ihr finanziell gut zu gehen.

Während Hannah sich von ihrem Schock erholte und darüber nachdachte, wie sie vorgehen sollte, stoppte die Bahn an der nächsten Haltestelle. Die Kowalski verstaute Spiegel und Lippenstift in ihrer Handtasche und stand auf.

Hannah trug weder ihre Uniform noch hatte sie die Befugnis, jemanden festzunehmen. Ihre Aufgabe bestand darin, Listen mit dem Personal der Tötungsanstalten zu erstellen und belastendes Material zu sammeln, das in einem Prozess verwendet werden konnte. Trotzdem musste sie etwas unternehmen. Wenn sie den Geier aus den Augen verlor, würde sie die Frau vermutlich nicht wieder aufspüren können.

Die Türen glitten auseinander, Hannelore Kowalski stieg aus. Hannah folgte ihr in einigem Abstand, vorbei an ausgebombten Mietshäusern und Trümmergrundstücken. Gigantische Schuttberge versperrten ganze Straßenzüge. Hannah nutzte herabgestürzte Mauern und Stapel aufgetürmter Ziegel als Deckung.

Die ehemalige Oberschwester ging über Nebenstraßen nach Osten und überquerte den Börneplatz. Hannah wartete, bis sie die andere Seite erreicht hatte, und eilte an den Ruinen der Synagoge vorbei. Vor vielen Jahren war sie hier Opfer eines bösen Streichs geworden. An jenem Tag hatte ihr Leben eine unheilvolle Wendung genommen. Ob es heute noch mal geschehen würde?

Sie kam an einer Parole vorbei, die an eine Hauswand geschmiert worden war. Seit ein paar Wochen tauchten sie überall auf.

Wir wurden ermordet! Rächt uns! Gedenkt unser!

Auch an den Grundmauerresten der Synagoge leuchteten die Buchstaben blutrot als Erinnerung an die Toten und Mahnung an die Lebenden. Manche behaupteten, sie wären tatsächlich mit Blut geschrieben worden.

Hannelore Kowalski nahm von den stummen Anklagen offenbar keine Notiz, obwohl sie allen Grund dazu gehabt hätte. Nach dreihundert Metern bog sie in eine Nebenstraße ein, die zu dem Haus führte, in dem Hannah und ihre Mutter gewohnt hatten, bevor die Nazis ihr Leben zerstörten. Im Erdgeschoss hatte sich Malishas kleiner Schneiderladen befunden.

Neben einer Litfaßsäule blieb die Kowalski kurz stehen und blickte sich misstrauisch um. Hatte sie bemerkt, dass ihr jemand folgte? Hannah drückte sich in einen Hauseingang und wartete.

Als die Frau weiterging, wagte sich Hannah aus ihrem Versteck und lief los, alles um sich herum vergessend außer der hageren Gestalt. Sie stieß mit einem alten Mann zusammen, der bei der Kollision zu Boden stürzte.

»Kannste nicht aufpassen, Mädchen? Einen alten Mann einfach umzurennen! Wo gibt’s denn so was?«

»Entschuldigung. Warten Sie, ich helfe Ihnen auf.«

Hannah beugte sich über den Alten und versuchte, die Kowalski nicht aus den Augen zu verlieren. Der Geier strebte eilig einem Torweg entgegen, der zu einem Hinterhof führte. An der Mauer hing ein weißes Schild mit der Aufschrift: Dr. med. Moor, Allgemeinmediziner.

Ihr Herz drohte zu zerspringen. Die Kowalski und Moor standen in Kontakt! Die Oberschwester hatte sie, ohne es zu ahnen, auf direktem Weg zu Dr. Schnipp-Schnapp geführt. Eilig zerrte sie am Arm des alten Mannes.

»Nich so hastig. Ein bisschen Geduld mit den morschen Knochen.«

Er stützte sich schwer auf ihre Schulter, fluchte lästerlich und kam unbeholfen auf die Beine. Sein Atem stank nach billigem Fusel.

»Da, sieh nur, was du angerichtet hast!«

Seine Drillichhose war an den Knien durchnässt und schmutzig, auf seiner fadenscheinigen Jacke breitete sich ein Fleck aus, es roch nach Schnaps. Er griff in die Tasche und zuckte zusammen. Von der Spitze seines Mittelfingers tropfte Blut. Offenbar war eine Flasche in seiner Jackentasche bei dem Sturz zerbrochen. Er begann zu jammern.

»Bis zum Schwarzmarkt aufm Römer bin ich gelaufen und jetzt isse kaputt!«

Hannah achtete kaum auf ihn und hielt Ausschau nach der ehemaligen Oberschwester. Sie war verschwunden. Der Mann packte indessen Hannahs Oberarm und schüttelte sie.

»Schau dir an, was se aus mir gemacht haben. Meine schöne Uniform ham se mir genommen.« Er presste verbittert die Lippen zusammen. »’ne feine Gegend war das … vorm Krieg.«

»Lassen Sie mich los!«

Er krallte seine knochigen Finger fester in das Leder ihrer Fliegerjacke.

»’ne feine Gegend. Und ich hab für Ordnung gesorgt. Da hat keiner ’nen armen Mann umgerannt. Siehste den Laden dahinten? Mit den Brettern vor dem Schaufenster?«

»Sie tun mir weh!«

Hannah befreite sich entschieden aus seinem Griff. Der Alte strauchelte und wäre beinahe erneut gestürzt. Er grinste und deutete auf die Durchfahrt zu einem Hinterhof.

»Da haben wir mit dem Pack richtig aufgeräumt … damals. Das waren noch Zeiten.«

Hannah erschrak. Der Alte sprach nicht von irgendeinem Laden, sondern vom Geschäft ihrer Mutter. Der Laden … Ma­lisha, die sich verzweifelt wehrte, Lubeck und die scharfe Schneiderschere in Hannahs Hand. Plötzlich war alles voller Blut gewesen.

»Wie … wie meinen Sie das? Sie haben aufgeräumt?«, fragte sie.

Der Mann richtete sich kerzengerade auf und reckte das Kinn vor.

»November ’38 war das. Da haben wir’s dem Judenpack gezeigt. Mit eisernem Besen haben wir gekehrt, jawoll! Wir Polizisten hatten ja Anweisung, uns rauszuhalten. Aber ich hab trotzdem mitgemischt.« Er machte ein paar unsichere Schritte auf den Laden zu. »Und was hat es genutzt? Das deutsche Volk war es nicht wert. Ein Haufen Schwächlinge, der sich bei den Amerikanern anbiedert.«

Hannah starrte den Alten an. Nun glaubte sie tatsächlich, ihn zu kennen. Ja, er war es. Der Name wollte ihr nicht mehr einfallen, doch das Gesicht erschien ihr auf einmal vertraut. Er war älter geworden, war abgemagert und ungepflegt, darum hatte sie ihn nicht gleich erkannt. Sie sah ihn vor sich, wie er in seiner stramm sitzenden Polizeiuniform die Straße auf und ab patrouillierte und Malisha mit geilen Blicken begaffte. Wenn der Wachtmeister im Torweg zum Hinterhof aufgetaucht war und die Judenkinder verjagte, hatte sie sich zu Tode gefürchtet. Jahre später hatte sie ihn in der Reichskristallnacht vom Fenster der Wohnung im ersten Stock aus beobachtet. Mitgerissen von der Gewalt hatte er das Schaufenster des Schneiderladens zerschlagen und dabei triumphierend gegrölt, sein Gesicht vor Wut verzerrt. Hannah würde den 9. November 1938 niemals vergessen. Zum ersten Mal hatte sie geahnt, was die Zukunft für sie bereithielt. In jener Nacht hatte ihre Kindheit abrupt geendet, die Zeit des Spiels war für immer vorbei gewesen. Was folgte, waren Jahre des Grauens.

»Dreckiges Judenpack«, murmelte der Alte.

Erst die Kowalski und nun der Albtraumwachtmeister ihrer Kindheit. Sie waren überall. Mit dem Zusammenbruch des Dritten Reichs waren die Hakenkreuzflaggen und SS-Uniformen verschwunden, doch die Männer, die sie getragen hatten, waren noch da. Wie Wölfe im Schafspelz leben sie unter uns, dachte Hannah. Und in ihren Köpfen ist der braune Spuk gegenwärtig, als wäre er nie weg gewesen.

»Hätten wir sie nur alle totgeschlagen, sage ich. Dann könnten sie jetzt keine Lügen über uns anständige Deutsche verbreiten. Wir …«

»Halten Sie den Mund.«

»Hä?«, machte er.

»Ich weiß, wer Sie sind. Glauben Sie etwa, ich hätte Sie vergessen?«

Misstrauisch kniff er die Augen zusammen. »Biste etwa auch eine von denen?«

Hannah erinnerte sich an sein aufgesetztes Imponiergehabe, an den eitlen Stolz, mit dem er die Uniform getragen hatte, in die sie Dummköpfe wie ihn gesteckt hatten.

»Nehmen Sie gefälligst Haltung an, Mensch!«, ahmte sie sein Gebrüll von damals nach. »Zeigen Sie mal Ihren Entnazifizierungsbescheid! Sie haben keinen? Dann wird’s Zeit, dass wir uns mal mit Ihnen beschäftigen.«

Er atmete schwer und glotzte sie böse aus blutunterlaufenen Augen an. Sie machte einen drohenden Schritt auf ihn zu, aufgebracht darüber, dass sie wegen ihm die Spur der Kowalski verloren hatte.

»Hauen Sie ab! Wird’s bald?«

Er wischte sich über den Mund, spuckte auf das Pflaster und trollte sich. Hannah sehnte sich nach Scotts Umarmung, nach jemandem, der sie festhielt und ihr versicherte, dass alles gut werden würde. Ihr war schwindelig. Die gefürchtete Dunkelheit lauerte an den Rändern ihres Blickfelds wie ein Schatten der Vergangenheit, den das Sonnenlicht nicht vertreiben konnte. Wenigstens die Praxis von Dr. Moor würde sie wiederfinden, und damit vielleicht auch Hannelore Kowalski.

Als Hannah die weiße Fassade des I.G.-Farben-Hauses vor sich sah, konnte sie sich nicht erinnern, wie sie hierhergelangt war. Die Begegnung mit dem Betrunkenen und der Frau, die sie jahrelang gequält hatte, wühlte sie mehr auf, als sie zugeben wollte. Sie wies sich am Kontrollpunkt der Sperrzone aus und hastete die Flure des Hauptquartiers der amerikanischen Streitkräfte entlang. Ohne anzuklopfen, stieß sie die Tür zu Scotts Büro auf.

Besorgt blickte er sie an. »Darling, du siehst aus, als hättest du ein Gespenst gesehen.«

»Nicht eins, sondern gleich zwei.«

Er kam um den Schreibtisch herum, drückte sie sanft an sich und küsste sie auf die Wange. Seine warmen braunen Augen, das schmale Gesicht und die vertraute Nähe ließen Hannahs Anspannung abklingen. In seiner Gegenwart brauchte sie sich nicht zu verstellen und konnte sich fallen lassen, ganz sie selbst sein. Sanft fuhr sie durch sein dunkelblondes Haar.

»Ach Scott, manchmal glaube ich, es wird niemals enden. Sie sind überall.«

»Du bist blass wie der Mond. Was ist passiert? Erzähl!«

Sie streifte die Fliegerjacke ab, ließ sich in einen Sessel fallen und berichtete von ihren Begegnungen. Scott setzte sich auf die Kante des Schreibtischs und blickte gedankenverloren auf die zerstörte Stadt hinaus.

»Diese Verbrecher haben sich nicht in Luft aufgelöst, nur weil ihr den Krieg verloren habt. Es waren nicht nur die Görings und Himmlers, sondern vor allem die Meiers und Schmidts, die mitgemacht haben. Sorry, ich fürchte, es werden uns viele – wie sagt man in German? – durch die Lappen gehen.«

»Dann sollen wir die Mörder laufen lassen?«

»Nein, natürlich nicht. Think positive. Wir haben viel erreicht. Seit Dezember stehen die Organisatoren der Euthanasieverbrechen vor Gericht, unter ihnen Brandt und Victor Brack.«

»So viele von ihnen laufen frei herum.« Hannah sprang erregt auf. »Und was machen wir? Akten wälzen und sortieren! Es dauert alles viel zu lange. Inzwischen sind die meisten untergetaucht. Wir haben weder Heyde noch Eberl erwischt.«

»Aber Wahlmann und Gorgaß«, warf Scott ein. »Die anderen kriegen wir auch noch.«

Während er sie prüfend betrachtete, bildete sich über seiner Nasenwurzel eine senkrechte Falte. Ein sicheres Zeichen, dass ihm etwas missfiel oder Sorgen bereitete. So gut kenne ich ihn inzwischen, dachte Hannah.

»Du arbeitest zu viel«, fuhr er fort. »Es gibt mehr Dinge im Leben als die Jagd nach Kriegsverbrechern.«

»Was könnte wohl wichtiger sein, als den Opfern Gerechtigkeit zu verschaffen?«

»Wir beide. Wir sollten heute Abend ausgehen. Du brauchst ein bisschen Entertainment, etwas Ablenkung. Was meinst du?«

Hannah lief erregt auf und ab. Sie nahm Scotts Einladung kaum wahr, zu sehr war sie mit dem Erlebten beschäftigt.

»Paul Schiese ist noch immer Direktor in der Herborner Anstalt.« Das Werbeschild der Arztpraxis drängte sich vor ihr inneres Auge: Dr. med. Moor, Allgemeinmediziner.

»Moor war der Vorgesetzte der Kowalski. Sie arbeitet für ihn. Er betreibt ganz offiziell eine Praxis in Frankfurt! Das können wir nicht zulassen, wir müssen ihn sofort verhaften.«

»Darling.«

Sie schnappte sich ihre Jacke. »Komm. Wir werden ihm einen kleinen Besuch abstatten.«

»Warte, Hannah.«

Sie sah ihn irritiert an. »Was hast du?«

»Setz dich.«

Eine dunkle Vorahnung beschlich sie. »Du wusstest von Moor«, sagte sie.

»Ich wollte es dir die ganze Zeit schon sagen, aber du schienst mir nicht bereit dafür zu sein. Du bist so … fanatic. Hannah, du darfst nicht deine gesamte Zeit mit der Jagd nach Kriegsverbrechern verbringen. Es gibt so viel, was du nicht gesehen hast, so viel zu erleben. Vergiss die damned Nazis.«

»Rede nicht um den heißen Brei herum. Was willst du mir sagen, Scott?«

Er setzte sich hinter den Schreibtisch, zündete sich eine Chesterfield an und schaukelte auf dem Drehstuhl. »Die Administration beabsichtigt, die Verfolgung von Kriegsverbrechern in die Hände der deutschen Staatsanwaltschaften zu legen. Sehr bald schon.«

»Das könnt ihr nicht machen. In vielen Behörden sitzen dieselben Richter und Staatsanwälte, die im Dritten Reich ein Unrechtsurteil nach dem anderen gefällt haben.«

»Es gibt sie, that’s right.«

»Die Täter sollen also nach ihresgleichen fahnden? Ist es das, was die Amerikaner wollen?«

»Hannah, das ist nicht so einfach. Wir sind im CIC völlig überlastet und haben viel zu wenig Personal. Wir brauchen die Hilfe der Deutschen. Irgendwann müsst ihr die Dinge sowieso alleine regeln.«

»Ich kann es nicht glauben. Ihr zieht den Schwanz ein.«

»Es ist bereits beschlossen. Unsere Abteilung wird aufgelöst.«

»Und Moor?«

Scott rieb sich das glatt rasierte Kinn. »Es ist … complicated. Ja, ich weiß von Moor. Er steht auf der Fahndungsliste. Ich habe Anweisung, ihn in Ruhe zu lassen.«

»Warum?«

»Es gibt kaum Ärzte in Frankfurt, wir brauchen ihn. Die Deutschen brauchen ihn.«

Darum darf die Kowalski mit den Roundup-Linien fahren, dachte Hannah. »Die Amerikaner dulden also, dass ein T4-Gutachterarzt, der für Dutzende Krankenmorde verantwortlich ist, eine Praxis mitten in Frankfurt betreibt.«

Scott seufzte. »That’s right.«

Sie drehte ihm den Rücken zu und sah aus dem Fenster. Über der Landschaft lag ein feiner Schleier aus Raureif. Sie konnte spüren, wie die Kälte durch die Scheibe kroch.

»Dann war unsere Arbeit der vergangenen anderthalb Jahre umsonst«, sagte sie.

»Oh no. Wir hatten viele Erfolge. In Nürnberg sind die Hauptverbrecher vor Gericht gestellt und verurteilt worden. Vergiss das nicht.«

»Und all die kleinen Nazis, die unbehelligt bleiben? Sollen die Opfer Tür an Tür mit den Tätern leben?«

»Wir haben die Spruchkammern eingerichtet«, antwortete Scott. »Jeder kann dort Verdächtige melden, Mitglieder der SS und …«

Hannah wandte sich abrupt um. »Es gibt kaum Anklagen und noch weniger Verurteilungen. Sie entlasten sich gegenseitig. Hilf du mir, dann helfe ich dir. Weißt du, wie man die Entnazifizierungsdokumente inzwischen nennt?«

»Nein.«

»Persilscheine«, sagte sie, »der eine wäscht den anderen rein und weiß. Eine saubere neue Gesellschaft haben wir da geschaffen.«

Scott drückte seine Zigarette aus, trat hinter Hannah und massierte ihre angespannten Nackenmuskeln.

»Komm mit mir in die Staaten. Wir könnten dort ein neues Leben beginnen. Ohne Nazis und abscheuliche Verbrechen.«

Sie wandte sich um. »Du gehst zurück in die USA?«

Noch vor einem Augenblick war sie zornig auf ihn gewesen, nun hatte sie Angst, ihn zu verlieren.

»Yes. Für mich ist der Krieg vorbei. Ich habe eine Stelle bei der Army an der Ostküste angenommen – ein guter, ruhiger Posten.« Er lächelte. »Boston ist meine Heimatstadt. Sie wird dir gefallen, das Klima ist so ähnlich wie in Deutschland. Du liebst doch die Natur so sehr. Das Meer liegt vor der Haustür und im Herbst verzaubert der Indian Summer die Wälder.«

Ihr Herz klopfte schneller. Es war verlockend, die Trümmerwüste hinter sich zu lassen. Sie hatte keine Familie, die sie vermissen würde, höchstens Ruth. Doch von ihr hatte sie seit Monaten nichts gehört; und Joschi, der alte Freund ihrer Mutter und ihr stummer Beschützer während all der Jahre, war tot. Sie dachte an Claudius Brendel, der es vorgezogen hatte, sich in ein Kloster in Bayern zurückzuziehen, weil er sich dafür bestrafen wollte, einen Menschen getötet zu haben. Dabei hatte er in Notwehr gehandelt. Hätte Claudius nicht zugeschlagen, wäre sie jetzt nicht mehr am Leben. Und der verfluchte Lubeck hatte tausendmal den Tod verdient.

»Komm mit mir, Hannah«, bat Scott. »Ich habe eine große Familie. Alle werden dich lieben und verwöhnen.«

»Ich … ich weiß nicht … Ich …«

Er legte seine Arme um ihre Hüften und zog sie an sich.

»Hannah Bloch, willst du meine Frau werden?«

Erschrocken und verwirrt starrte sie ihn an. Sie war gern mit Scott zusammen. Sie dachten und fühlten gleich, und manchmal war sie überzeugt davon, dass sie sich perfekt ergänzten. Dennoch hatte sie nie darüber nachgedacht, ihn zu heiraten. Vielleicht würde sie irgendwann dazu bereit sein, aber nicht jetzt. Das alles kam zu schnell.

»Ich liebe dich, Scott. Sehr sogar. Aber ich kann nicht. Noch nicht, es ist zu früh.«

Sie senkte den Blick, weil sie die Enttäuschung in seinen Augen nicht ertragen konnte. Seine Gefühle für sie waren aufrichtig, sie würde keinen besseren Mann finden, dessen war sie sich bewusst. Trotzdem stand ein dunkler Schatten zwischen ihnen. Er hatte nicht erlebt, was sie hatte durchmachen müssen. Auch wenn er Verständnis für ihr Verlangen nach Gerechtigkeit aufbrachte, konnte er kaum ermessen, wie tief die Wunden waren, die nicht heilen wollten. Die einzige Medizin, die half, waren die Verfolgung der Täter und die Befriedigung, sie vor Gericht zu bringen.

»Warum bist du so verbissen?«, fragte er, als hätte er ihre Gedanken gelesen.

»Hast du vergessen, was sie mir angetan haben? Sie haben meine Mutter ermordet, mir gesagt, dass ich es nicht wert sei zu leben, und mich in eine Anstalt gesteckt, in der ich jeden Tag mit dem Tod rechnen musste. Sie haben mir meine Freunde genommen und das Liebste, was ich auf der Welt hatte.«

Er löste sich von ihr. »Es ist wegen dieses Jungen, nicht wahr? Wie hieß er gleich? Hans, richtig. Nun, ich kann verstehen, wenn du um ihn trauerst. Aber das Leben geht weiter, Hannah.«

»Ich muss akzeptieren, dass Hans tot ist. Er wird immer einen Platz in meinem Herzen haben, trotzdem steht er nicht zwischen uns. Hans ist Vergangenheit.«

Scott runzelte die Stirn. »Dann … Ich verstehe nicht …«

»Ich habe hier eine Aufgabe zu erfüllen. Solange sein Mörder frei ist, kann ich nicht so tun, als wäre das alles nicht passiert.«

»Du kennst den Bericht der Briten. Rolf Heyrich ist kurz vor Kriegsende auf der Flucht erschossen worden. Er ist tot, Hannah. Du jagst ein Gespenst.«

»Es gibt Zeugen, die ihn vor drei Monaten in Köln gesehen haben.«

»Rumors, Gerüchte.«

»Die Aussagen sind glaubhaft. Ich muss Gewissheit haben oder ich werde keinen Frieden finden. Nicht hier und nicht in Boston.«

»Du willst deine Zeit damit verschwenden, einen Toten zu suchen?«

»Versuch doch, mich zu verstehen.«

»Dein Verlangen nach Rache wird dich auffressen.«

»Ich will Gerechtigkeit.«

»Die bekommt man nur selten. Glaub mir, es lohnt sich nicht, sein Leben damit zu verbringen, nach ihr zu suchen.«

»Dann sind Tausende GIs umsonst an den Stränden der Normandie gestorben?«, fragte sie zornig.

»Nein, sicher nicht.«

»Was wird aus meiner Arbeit hier?«

»Die Abteilung wird geschlossen, das sagte ich doch.«

»Wann?«

»Am 1. Juni ist Schluss. Damit endet auch deine Arbeit als Zivilangestellte der US-Army. Es tut mir leid, Darling.«

»So bald?«

Er zuckte mit den Schultern. »Es liegt nicht in meiner Macht, es zu verhindern. Komm mit mir … oder vergeude deine Jugend für die Suche nach einem Phantom. Es wird dir deinen Hans nicht wiederbringen.«

Hannah spürte, dass ihre Weigerung, mit ihm zu gehen, ihn tief verletzt haben musste. Seine Stimme klang rau und fremd. Auch sie empfand Schmerz, aber noch mehr Zorn darüber, dass Scott einfach nicht verstehen wollte. Sie zog ihre Fliegerjacke an und ging zur Tür.

»Wovon willst du leben?«, fragte Scott. »Du brauchst einen Job. In Boston kann ich dir …«

»Was? Soll ich das Hausmütterchen spielen?«

Er schwieg und zündete sich noch eine Chesterfield an. Nach einer Weile sagte er: »Die meisten Menschen in Deutschland sind damit beschäftigt, ihr Überleben zu organisieren. Niemand ist so verwöhnt, daran zu denken, seine Träume zu verwirklichen.«

Hannah spürte, dass ihr die Zornesröte ins Gesicht stieg.

»Bin ich das für dich? Eine verzogene Göre?«

»Das habe ich nicht gesagt, ich meinte …«

»Ich werde als Pilotin arbeiten«, fiel sie ihm ins Wort. »Schließlich habe ich eine Fluglizenz, schon vergessen?«

Er lachte spöttisch. »Die Deutschen dürfen keine Flugzeuge besitzen oder sie fliegen. Nur ausländische Gesellschaften haben die Erlaubnis, Frankfurt, Köln und Berlin anzusteuern.«

»Du hast gesagt, das wird sich bald ändern«, gab sie zurück.

»Nun, vielleicht war ich ein bisschen voreilig. Hannah, ich habe dir einen Herzenswunsch erfüllt. Aber als Pilot zu arbeiten, ist etwas ganz anderes. Niemand stellt für diesen Job eine Frau ein. In den Staaten sieht die Sache besser aus. Dort könntest du Arbeit finden.«

Das war es also. Er hatte sie mit der Fluglizenz locken wollen, mit ihm zu gehen.

»Lass uns heute Abend etwas trinken gehen. Dann reden wir noch mal über alles«, sagte er.

»Es gibt nichts zu reden. Ich bin nicht auf dich angewiesen, um ein eigenständiges Leben zu führen. Und Heyrich werde ich auch finden.«

Sie knallte die Tür zu und stürmte den Korridor entlang. Die Welt verschwamm hinter einem Vorhang aus Tränen. Hatte Scott recht und sie verrannte sich in die Suche nach Hans’ Mörder? Nein, sie war es ihm schuldig, dass sie Heyrich fand – und wenn sie sich lediglich Gewissheit verschaffte, dass er tot war. Wenn sie Deutschland jetzt verließ, würde sie alles verraten, woran sie glaubte. Sie würde es ohne Scott schaffen, irgendwie.

Die Ungerächten

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