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Zwei Jahre später, 8. März 1947

Hannah Bloch schlug den Kragen ihrer pelzgefütterten Fliegerjacke hoch, um sich vor der beißenden Kälte zu schützen. Trotz der warmen Armeestiefel, der olivgrünen Hose und dem Wollschal fror sie. Ihr Atem kondensierte auf der Fensterscheibe der Straßenbahn, die sich ihren Weg durch die Trümmerwüste Frankfurts bahnte. Hannah wusste, dass sie großes Glück gehabt hatte, weil Scott Young, Lieutenant der US-Army und Agent des CIC, einen Narren an ihr gefressen hatte. Er versorgte sie mit allem, was nötig war, um in der zerstörten Stadt zu überleben. So war auch die schicke Jacke ein Geschenk von ihm.

Sie lehnte die Stirn gegen die kalte Glasscheibe und dachte an die vergangene Nacht. Scott besaß alles, was sich eine Frau wünschen konnte. Er war klug, aufmerksam und hatte Humor. Er sah blendend aus und war ein zärtlicher Liebhaber. Sie wusste, dass er sie aufrichtig liebte und bei jeder Gelegenheit auf Händen trug. Eigentlich sollte sie mit einem solchen Mann an ihrer Seite überglücklich sein, denn es erging ihr weit besser als der großen Mehrheit der Bevölkerung. Die meisten Menschen waren vollauf damit beschäftigt, ihr Überleben zu organisieren und schlugen sich nicht mit einem komplizierten Liebesleben herum. Die Stadt war voll mit Frauen, die darauf warteten, dass ihre Männer endlich heimkehrten oder dass sie wenigstens Gewissheit über deren Schicksal erlangten. Niemand wusste genau, wie viele Ehemänner, Väter und Söhne auf den Schlachtfeldern Russlands für den Wahn vom Großdeutschen Reich ihr Leben gelassen hatten. Wie so oft in ihrem Leben hatte Hannah Glück im Unglück gehabt, dennoch brachte sie es fertig, mit dem Schicksal zu hadern und sich über ihre Gefühle im Unklaren zu sein.

Seit Wochen grübelte sie darüber nach, was sie für Scott empfand. An ihm lag es nicht, dass sie regelmäßig Phasen des Trübsinns durchlebte. Er gab sich große Mühe, ihr zu helfen, die Vergangenheit hinter sich zu lassen. Doch die Bilder in ihrem Kopf verfolgten sie auch, wenn sie mit ihm zusammen war. Sie schlichen sich in ihre Träume und schoben sich am Tag immer dann vor ihre Augen, wenn sie glaubte, die schrecklichen Ereignisse loslassen zu können: die Nacht bei der Kapelle, die Grube, Lubeck, der sie zwang, zu graben, bis sie auf die Leichen der Deserteure stieß und damit auf die Erkennungsmarke – den furchtbaren Beweis, dass ihre erste große Liebe Hans Simonek tot war. Vielleicht hätte sie ihn vergessen können, wenn sie sich ehrlich darum bemühte, aber sie wollte es nicht. Solange sie die Erinnerung an ihn wachhielt, lebte er in ihrem Herzen weiter. Und das war ihr Problem.

Die Straßenbahn rumpelte über die notdürftig ausgebesserten Schienen zum Sperrbezirk, den die Amerikaner eingerichtet hatten. Hannah zog die Fliegerjacke enger um ihre Schultern und hörte das Papier in der Innentasche knistern. Trotz ihrer düsteren Stimmung musste sie unwillkürlich lächeln. Fast schämte sie sich wegen ihrer trübseligen Laune, denn die vergangenen Tage waren mit freudigen und aufregenden Ereignissen angefüllt gewesen. Sie zog die CPL aus der Tasche und strich sie glatt. Die internationale Commercial Pilot Licence war auf ihren Namen ausgestellt und trug das Datum vom 7. März 1947 – ihrem zweiundzwanzigsten Geburtstag. Irgendwie hatte Scott es geschafft, die Flugprüfung auf genau diesen Tag zu legen. All ihre Träume hatten sich erfüllt. Sie besaß nun die Erlaubnis, Flugzeuge bis zur Größe einer Junkers 52 zu fliegen. Und damit nicht genug, sie war die einzige Frau, der diese Ehre im Nachkriegsdeutschland bisher zuteilgeworden war. Deutlich erinnerte sie sich an die im Sonnenlicht blitzende Douglas DC-2, an die strengen Blicke des Prüfers und ihre schweißnassen Hände in den ledernen Fliegerhandschuhen, als sie die Maschine getrimmt und die Motoren gestartet hatte. Scott hatte sie als Navigator begleitet.

Eine Stunde später besaß sie eine Pilotenlizenz. Das Mädchen, das in den Wolken nach Bildern gesucht hatte, war erwachsen geworden und erlebte, wie sein Traum Wirklichkeit wurde. Der einzige Wermutstropfen war die Tatsache, dass bislang kein Deutscher die Erlaubnis erhielt, ein Flugzeug zu besitzen oder gar zu fliegen. Nur ausländische Fluggesellschaften wie die Pan American World Airways durften die Flughäfen in Frankfurt und Berlin ansteuern. Wenn sie als Pilotin arbeiten wollte, musste sie darauf hoffen, eine Anstellung bei einer dieser Gesellschaften zu ergattern. Scott hatte bereits versucht, ihr schonend beizubringen, dass die Aussichten dafür schlecht standen. Trotzdem hatte er ihr die Ausbildung bei der US-Army ermöglicht. Noch war ihr nicht ganz klar, warum er das getan hatte, aber er dachte eben praktisch. Vielleicht hatte er bereits einen Plan, mit dem er sie überraschen wollte.

Scott Young arbeitete für den CIC, einen amerikanischen Geheimdienst, dessen Hauptaufgabe in Europa darin bestand, Kriegsverbrecher aufzuspüren. Hannah dachte daran, wie sie Scott im Klingelpütz, dem Kölner Gefängnis, kennengelernt hatte. Wäre sie ihm nicht begegnet, würde sie noch immer eine Haftstrafe wegen Schieberei, Dokumentenfälschung und Schwarzmarkthandel absitzen. Scott hatte sie es auch zu verdanken, dass sie die Gelegenheit erhielt, den Gutachterärzten der Aktion T4 und dem untergetauchten Personal der Tötungsanstalten nachzujagen.

Sie hatte fast zwei Jahre in verschiedenen Anstalten verbringen müssen und mit knapper Not überlebt, und sie kannte die Namen und Gesichter vieler Täter. Deshalb hatte Scott ihre Freilassung aus der Haft erwirkt. Seitdem half sie ihm, nach Ärzten und Pflegern der Mordanstalten zu fahnden. Den einen oder anderen hatten sie erwischt, viele waren jedoch auf freiem Fuß und machten unter falschen Namen bereits wieder Karriere.

Als Zivilangestellte der US-Army kam sie in den Genuss, die als Roundup bezeichnete Straßenbahnlinie 13 benutzen zu dürfen, die vom Bahnhof durch das Sperrgebiet zum Hauptquartier der amerikanischen Streitkräfte im I.G.-Farben-Haus führte. So brauchte sie nicht jeden Morgen zu Fuß den Weg durch die zerstörte Innenstadt zurückzulegen.

Hannah schob die Pilotenlizenz in ihre Jacke und blickte in Gedanken versunken hinaus. Vor den Fenstern zogen Schuttberge und ausgebombte Häuser vorbei. Frankfurt glich einem gigantischen Trümmerhaufen, in dem in Lumpen gehüllte Gestalten nach allem suchten, was ihr Überleben sicherte. Es würden Jahre vergehen, bis die Stadt zur alten Blüte zurückfand. Ob es überhaupt jemals gelingen würde?

Die Bahn drosselte das Tempo und stoppte an der Haltestelle Palmengarten. Die Türen öffneten sich, kalte Luft strömte ins Innere. Drei neue Fahrgäste stiegen ein.

Eine Frau mit hagerem Gesicht und verkniffenen Lippen ging durch den Mittelgang und setzte sich auf einen freien Platz. Hannah betrachtete sie flüchtig, ihre Gedanken weilten weit weg auf einer Wiese an einem Vorfrühlingstag des Jahres 1945. Sie schloss die Augen und sah Hans vor sich, die Grübchen, die sich an seinem Kinn bildeten, wenn er lachte, und seine Augen, die mit dem Himmel um das schönste Blau wetteiferten.

Hannah schüttelte die Erinnerungen ab, denn sie waren zu schmerzhaft. Sie bemerkte, dass die Frau ihren Hut abgenommen hatte. Eine eisige Klaue krallte sich um Hannahs Herz, eine lange verdrängte, alles verzehrende Furcht stieg in ihr hoch. Sie starrte gebannt auf das knochige Profil mit der Geiernase und dem Hexenkinn und wartete, bis die Frau ihr das Gesicht zuwandte. Hannah kannte sie. Nur hatte sie nicht damit gerechnet, an diesem Morgen in der Straßenbahn einer Toten zu begegnen.

Die Ungerächten

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