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Hannah zog zum letzten Mal die Uniform an, die sie als Zivilangestellte der »War Crimes Group« auswies: Eine weiße Bluse und darüber eine olivgrüne, kurz geschnittene Jacke, dazu beigefarbene Hosen. Aufnäher mit der Aufschrift WCG und dem Weißkopfseeadler – dem Wappentier der Vereinigten Staaten von Amerika – zierten die Ärmel.

Nach Kriegsende hatte Scott seine Vorgesetzten beim CIC davon überzeugt, wie wertvoll eine enge Zusammenarbeit mit den Deutschen auf der Suche nach Kriegsverbrechern sein würde. Es hatte Hannah großen Spaß bereitet, mit ihm gemeinsam die neue Uniform zu entwerfen. Scott hatte ihr das Gefühl gegeben, gebraucht zu werden und eine wichtige Aufgabe zu erfüllen.

Wenn ihre verrückte Idee einer eigenen Frachtfluggesellschaft Erfolg haben sollte, brauchte sie seine Unterstützung. Nach ihrem Streit hegte sie allerdings wenig Hoffnung, dass er ihr helfen würde. Schließlich hatte er deutlich zum Ausdruck gebracht, was er davon hielt, wenn sie als Pilotin arbeiten würde. Andererseits ging es jetzt nicht mehr darum, eine Anstellung zu finden, sondern ein eigenes kleines Unternehmen zu gründen. Daher fuhr sie mit der Roundup-Linie 13 zum I.G.-Farben-Haus. Die vor den Fenstern vorbeiziehende Trümmerwüste drohte ihr jedes Mal das Herz zu zerreißen, denn Frankfurt war und blieb ihre Heimatstadt. Heute jedoch nahm sie den Anblick kaum wahr, ihre Gedanken weilten bei dem bevorstehenden Treffen. Ihre Zukunft hing davon ab, ob sie Scott würde überzeugen können.

Mit klopfendem Herzen passierte sie die Kontrollen der Sperrzone und ging zu seinem Büro im Hauptquartier der amerikanischen Streitkräfte. Scott war nicht da. Ein Sergeant teilte ihr mit, dass sich Scott auf einer Dienstreise befand und nicht vor Ablauf einer Woche zurückkehren würde. Hannah machte sich auf den Rückweg zum Hangar, wo sie Pohl dabei half, die Ju 52 flugtüchtig zu machen. Sie verbrachte Tage quälender Ungewissheit, ob ihr verrückter Plan sich in die Tat umsetzen ließ. Bei einer gründlichen Inspektion entdeckten sie Korrosion an Teilen der tragenden Rumpfkonstruktion – ein Schaden, der häufig bei den alten Junkersmaschinen auftrat. Daraufhin mussten Hannah und Max schwitzend und schimpfend die Verkleidungen der Front abnehmen, um den Rost zu beseitigen.

Während der komplizierten Arbeiten lernte sie den alten Flieger kennen und schätzen. Unter seiner rauen Schale besaß Max einen gutmütigen Kern, aber sein Wesen hatte auch Schattenseiten offenbart. Er soff wie ein Loch, wenn sie nicht auf ihn aufpasste.

Eine Woche später fuhr sie noch einmal zum I.G.-Farben-Haus.

Überall standen Kartons mit Akten und Ordnern herum, Mitarbeiter waren damit beschäftigt, die Räume für eine anderweitige Nutzung herzurichten. Die meisten Möbel waren bereits abtransportiert worden. Scott telefonierte. Als er Hannah sah, gab er ihr einen Wink, auf dem einzigen Stuhl Platz zu nehmen, der noch verfügbar war. Sie zog es vor zu stehen und versuchte heimlich, in seiner Miene nach Anzeichen zu lesen, wie er auf ihr Vorhaben reagieren würde. Endlich legte er auf und kam zögernd auf sie zu. Etwas unsicher umfasste er ihre Schultern und küsste sie behutsam auf die Wange.

»Ich hatte nicht damit gerechnet, dich vor meiner Abreise noch einmal zu sehen«, sagte er. »Ich freue mich umso mehr, dass du gekommen bist.« Er rieb sich den Nacken und blickte sich hilflos um. »Ich fürchte, in diesem Chaos kann ich dir nichts zu trinken anbieten.«

»Ich wollte nicht, dass wir im Streit auseinandergehen.«

Auf der Fahrt durch die Stadt hatte sie nur darüber nachgedacht, wie sie ihn überreden könnte, ihr zu helfen. Nun, da der endgültige Abschied bevorstand, wurde ihr bewusst, dass sie sehr viel mehr für ihn empfand, als sie sich eingestanden hatte. Hannah kämpfte mit den Tränen.

Scott setzte sich auf die Kante seines Schreibtischs, wie er es so oft getan hatte, wenn sie über Strategien diskutierten, Naziverbrecher aufzuspüren.

»Das bedeutet wohl, dass du deine Meinung nicht geändert hast«, sagte er.

»Scott, es tut mir leid, ich kann nicht anders. Versteh doch, ich würde nicht glücklich werden in Amerika. Nicht, bevor ich meine Aufgabe hier erfüllt habe.«

»I know. Nun, vielleicht hilft dir das hier, schnell zu einem Ergebnis zu kommen.« Er ging um den Tisch herum und zog eine dünne Akte aus einer Schublade. »Ich habe meine Leute angewiesen, alles zusammenzutragen, was wir über Rolf Heyrich wissen. Die Gerüchte, dass er in der Gegend von Köln gesehen wurde, haben sich bestätigt. Er hat als Knecht auf einem Bauernhof gearbeitet. Als ihm der Boden unter den Füßen zu heiß wurde, ist er untergetaucht. Möglicherweise befindet er sich auf dem Weg nach Südtirol.«

»Danke. Das ist … sehr nett von dir.«

»Ich habe veranlasst, dass du dein Büro weiterhin benutzen darfst, bis sie unseren Laden endgültig dichtmachen. Ich lege das Dossier in deinen Schreibtisch.«

Er lächelte und blickte sie zugleich traurig an. Hannah wandte sich ab, damit er ihre Tränen nicht sah.

»Wer weiß, wohin das Leben uns führt? Vielleicht sehen wir uns ja bald wieder«, sagte sie.

»Ich werde auf dich warten.«

»Das solltest du nicht.«

»Ich werde es trotzdem tun.« Er riss einen Zettel von einem Block ab und schrieb etwas auf. »Hier. Das ist meine Adresse in Boston, Massachusetts, und eine Telefonnummer, unter der du mich erreichen kannst.«

Sie nahm das Papier entgegen und drehte es nervös in den Fingern. Schweigend standen sie sich eine Weile gegenüber.

»Scott, es tut mir leid, dass …«

»Vergiss den dummen Streit. Ich liebe dich, Hannah. Und ich werde auf dich warten. Das verspreche ich dir. Tu, was du tun musst, und dann lass all dies hinter dir.«

Sie antwortete nicht und schluckte heftig.

»Kann ich sonst noch etwas für dich tun?«, fragte Scott.

Sie nickte langsam. »Ja. Das könntest du tatsächlich.«

Sie berichtete von ihrer Begegnung mit Max Pohl und ihrem Plan, eine eigene Fluglinie zu gründen.

»Glaubst du, dass die Deutschen bald wieder fliegen dürfen?«, fragte sie hoffnungsvoll.

»Nicht in absehbarer Zeit. Die Briten sind nicht begeistert von dieser Vorstellung.«

»Das bedeutet …«

»Das bedeutet, dass du als Zivilangestellte der US-Army mein Vertrauen besitzt.« Er zog ein weiteres Dokument aus der Schreibtischschublade und reichte es ihr. »Ich gestehe, ich habe mich ein bisschen nach dir umgehört. Wie es dir geht, was du so machst. Ein Sergeant der Air Force hat mir von dem crazy girl erzählt, das unbedingt fliegen will. Dies ist … nun … gewissermaßen mein Abschiedsgeschenk. Ich hätte es dir vor meiner Abreise zukommen lassen, aber da du schon mal hier bist, kann ich es dir selbst geben.«

Hannah las das auf Englisch verfasste Schreiben. Es war die offizielle Erlaubnis der amerikanischen Militärführung, im Auftrag der US-Army Kurier- und Frachtflüge im europäischen Raum auszuführen. Ihr Herz machte einen Sprung.

»Oh, Scott. Wie soll ich dir nur danken?«

»Indem du Heyrich findest und der deutschen Staatsanwaltschaft übergibst. Und dann kommst du zu mir nach Boston. Wenn es sein muss, mit diesem fliegenden Koffer, von dem du erzählt hast. In der Akte über Heyrich findest du übrigens die Visitenkarte von Harald Lenz, einem jungen, engagierten Staatsanwalt. Er hat in Braunschweig mit Fritz Bauer zusammengearbeitet. Ich habe bereits mit ihm gesprochen, Lenz wird dein Ansprechpartner sein, falls du Akteneinsicht oder juristische Unterstützung brauchst.«

Sie fiel ihm um den Hals.

»Ich werde dich vermissen, Scott.«

»Ich dich auch. Wir werden uns wiedersehen, ganz gewiss; und wenn ich mit einem Ruderboot den Atlantik überqueren muss, um dich zu holen.«

»Wann wirst du abfliegen?«, fragte Hannah.

»Gleich morgen früh. Und nun geh. Ein Lieutenant der US-Army sollte in der Öffentlichkeit keine Tränen vergießen.«

Die Verkehrsverbindungen waren unzuverlässig und so konnte Hannah am selben Tag nicht mehr zum Flughafen fahren, um Max die gute Nachricht mitzuteilen. In der folgenden Nacht tat sie vor lauter Aufregung kein Auge zu. Sie fieberte dem Morgen entgegen und nahm gegen halb elf die erste Straßenbahn. Zum ersten Mal seit vielen Wochen zeigte sich die Sonne, Hannah nahm es als gutes Omen. Lächelnd versuchte sie, sich das verblüffte Gesicht des griesgrämigen alten Fliegers vorzustellen, wenn sie ihm die Fluglizenz präsentierte, und machte sich auf den Weg zum Hangar.

»Max? Ich habe gute Neuigkeiten!«, rief Hannah. »He, Max, wo steckst du?«

Der Hangar war leer. Sie machte kehrt und lief zum Hauptgebäude des Flughafens. Sie fand Max dort, wo sie ihn vermutet hatte. Er saß am Tresen in der Fliegerklause und starrte gedankenverloren in eine Tasse mit Ersatzkaffee. Seine Augen waren blutunterlaufen, sein bartstoppeliges Gesicht sah grau und schlaff aus. Wahrscheinlich hatte er gestern Abend zu tief ins Glas geschaut. Verärgert setzte sie sich auf den Barhocker neben ihm.

»Ich laufe mir die Hacken ab, um eine Fluglizenz zu besorgen, und du hast nichts Besseres zu tun, als dich zu besaufen. Hast du die Ersatzteile besorgt, die wir brauchen?«

Er stierte sie aus glasigen Augen an. »Wozu? Die Tante wird nie abheben.«

Hannah verdrehte die Augen. Max konnte trotz seiner Versehrung schuften wie ein Ackergaul, aber wenn Schwierigkeiten auftauchten, steckte er zu schnell den Kopf in den Sand. Sie holte die Akte aus ihrer Umhängetasche und präsentierte ihm die Lizenz.

»Was sagst du jetzt?«

Er warf einen kurzen Blick auf das Dokument und zuckte mit den Schultern. »Es ändert nichts.«

Verdrossen zog sie die Augenbrauen zusammen. »Was soll das heißen?«

»Bloch & Pohl bleibt ein Hirngespinst. Das soll es heißen.« Er winkte dem Kellner und bestellte einen Schnaps.

»Was ist passiert?«

»Jemand hat Wind von unserem Plan bekommen. Es gibt Leute, denen es nicht passt, dass wir fliegen. Ich war beim Notar wegen der Gründung der Gesellschaft.«

»Und weiter?«

»Ich darf keine Fluggesellschaft gründen. Ich darf überhaupt kein Unternehmen gründen.«

»Warum nicht?«

Er kratzte sich die Boxernase. »Naja, ich bin da im Krieg in ’ne dumme Sache reingeraten.«

Er griff nach dem Schnapsglas, Hannah zog es ihm fort. So dicht vor dem Ziel durfte die Verwirklichung ihres Traums nicht scheitern.

»Sag endlich, was passiert ist.«

»Nachdem die Nazis meine Maschinen konfisziert hatten, musste ich meinen Laden dichtmachen. Also hab ich mich freiwillig zur Wehrmacht gemeldet. Sie hätten mich sowieso zum Kriegsdienst eingezogen.« Er schüttelte bedauernd den Kopf. »Ich hab immer vorbeigeschossen, glaub mir, Mädchen. Ich wollte mich nicht zum Mörder machen lassen. Hab ich dir schon erzählt, wie ich …«

»Weiter«, unterbrach ihn Hannah. Sie kannte seine ausschweifende Art inzwischen. Wenn er einen in der Krone hatte, begann er, stundenlang Fliegergarn zu stricken und die tollsten Geschichten aus dem Krieg zu erzählen.

»Im Winter ’44 war ich mit meiner Einheit in Belgien stationiert, Unternehmen ›Wacht am Rhein‹. Wir waren zu fünft und sollten ein Dutzend gefangene GIs bewachen, als wir unter Feuer genommen wurden. Mir hat’s an dem Tag die Hand zerfetzt. Sie haben mich abtransportiert und in einem Gehöft untergebracht, das als Lazarett diente. Später hab ich erfahren, dass meine Kameraden die Gefangenen erschossen haben. Alle haben sie auf den Meissner gehört, dem hatten die Nazis völlig den Kopf verdreht. Jemand hat die alte Geschichte ausgegraben, um uns ein Bein zu stellen. Bevor ich nicht offiziell entnazifiziert bin, habe ich Berufsverbot. Und das ist noch das kleinste Übel. Wenn die Amis glauben, dass ich an der Erschießung beteiligt gewesen bin, geht’s mir an den Kragen.«

Hannah gefror innerlich. »Aber das warst du doch nicht, oder?«, fragte sie mit erstickter Stimme.

Pohl schüttelte entschieden den Kopf. »Nee, Mädchen. Ich hab versucht, mich aus allem Ärger rauszuhalten. Das hätt ich nie und nimmer gemacht.«

»Dann brauchst du doch nur zu beweisen, dass du verwundet wurdest. Deine Kameraden müssen aussagen.«

Pohl winkte dem Kellner. »Die gibt’s nicht mehr. Alle tot.«

»Es muss Unterlagen aus dem Lazarett geben.«

»Da ging es damals drunter und drüber. Ich kann mich nicht mal an den Namen des Arztes erinnern, der mich behandelt hat. Ich sitze in der Tinte.«

Hannah sank auf dem Barhocker zusammen. Es durfte nicht so enden.

»Weißt du denn wenigstens, wer uns reinlegen will? Wie kann überhaupt jemand von unserem Plan wissen?«

Max spielte verlegen mit der Kaffeetasse. »Ich hab’s eben rumerzählt, weil ich mich so gefreut hab, dass es wieder bergauf geht. Es gibt leider ’ne Menge Leute, die mir den Erfolg nicht gönnen.«

»Musstest du die Sache denn unbedingt ausposaunen, bevor wir die Genehmigung in der Tasche hatten?«

Er seufzte. »Du hast doch gemerkt, dass ich die Klappe nicht halten kann, wenn ich trinke.«

»Wir müssen dich also entnazifizieren«, überlegte Hannah.

Scott saß in einem Flugzeug hoch über dem Atlantik, er würde ihr diesmal nicht aus der Patsche helfen können. Aber vielleicht konnte sie ihr eigenes Engagement der vergangenen beiden Jahre in die Waagschale werfen. Sie zog die Visitenkarte aus der Akte, die Scott ihr gegeben hatte.

»Ich bringe das in Ordnung«, sagte sie. »Dazu brauche ich deinen Personalausweis.«

»Hä?«, machte Pohl.

»Gib schon her.«

Pohl nestelte an seiner Fliegerjacke und reichte ihr einen abgegriffenen Pass. »Was willste denn damit?«

Hannah sparte sich eine Antwort. Stattdessen machte sie sich auf den Weg zum Hauptquartier der US-Streitkräfte.

Mit ihrem Ausweis des CIC erhielt Hannah Zutritt zum I.G.-Farben-Haus. Sie setzte sich an ihren Schreibtisch und versank, ohne es zu wollen, in der Vergangenheit. Zu viele Erinnerungen waren mit diesem Ort verbunden. Vor ihrem inneren Auge sah sie den T4-Gutachterarzt Joachim Lubeck, wie er den Meldebogen ausfüllte, der sie in die Tötungsanstalt in Hadamar gebracht hatte. Es war ein zynischer Zug des Schicksals, dass sie selbst seit fast zwei Jahren Dokumente ausstellte, die über das weitere Leben von Menschen entschieden.

Eine ihrer Aufgaben war es gewesen, sogenannte Clearance Certificates auszustellen, Entlastungszeugnisse, die den Betreffenden von einer Mitschuld am Terror des NS-Regimes freisprachen. Hannah hatte jeden einzelnen Fall geprüft und Dutzende kleine und große Mitläufer enttarnt, aber nie einen Persilschein ausgestellt und damit Täter geschützt. Nun übernahmen die neu gegründeten Spruchkammern die Entnazifizierung. Sagte Max die Wahrheit? Wenn er log und sie ihn entlastete, war sie nicht besser als die Verbrecher, die sie jagte. Unternahm sie jedoch nichts und er musste vor einer Spruchkammer aussagen, ohne Zeugen benennen zu können, die seine Unschuld bewiesen, gefährdete sie ihre eigene Zukunft.

Langsam zog sie die Schublade auf, nahm ein Blankoformular heraus und spannte es in die Schreibmaschine. Sie begann, Pohls Namen und Adresse in das Namensfeld zu tippen, und sprach ihn nach der Verordnung Nummer neunundsiebzig der Militärregierung von jeglicher Mittäterschaft des Naziterrors frei.

Dann zog sie den Bogen aus der Maschine und stempelte ihn ab. Sie war nicht befugt, das Dokument selbst zu unterzeichnen, und ihr Gewissen weigerte sich, ihr zu erlauben, Scotts Unterschrift zu fälschen. Deshalb musste der Staatsanwalt, den Scott ihr empfohlen hatte, diesen letzten Schritt übernehmen. Noch hatte sie keine Ahnung, wie sie Lenz dazu überreden sollte, sie kannte ihn ja noch nicht einmal. Sie faltete das Schreiben mit dem Stempel der Militärregierung und steckte es in ein Kuvert. Dann nahm sie das Dossier über Heyrich und verließ das I.G.-Farben-Haus, das sie vermutlich nie wieder betreten würde. Zwar war sie auch nach Scotts überstürztem Abflug noch Zivilangestellte der Army, aber es gab für sie nichts mehr zu tun, die Abteilung existierte praktisch nicht mehr. Ohne Scott erschien ihr die Arbeit ohnehin sinnlos.

Nach einem letzten sehnsuchtsvollen Blick zurück machte sie sich auf den Weg zu Staatsanwalt Harald Lenz. All die schönen Stunden an Scotts Seite, ihre gemeinsame Arbeit, die aufregende Jagd und die Befriedigung, für Gerechtigkeit zu sorgen, endeten hier.

Das Gebäude, in dem das neue Oberlandesgericht und damit auch die Staatsanwaltschaft untergebracht war, lag etwa drei Kilometer vom Hauptquartier der US-Streitkräfte entfernt. Hannah hatte Scott ein paarmal dorthin begleitet, daher kannte sie den Weg und wusste, wo sie sich melden musste, um zu Lenz vorgelassen zu werden. Nun wartete sie in seinem Vorzimmer und hoffte, dass ihre Uniform Eindruck schindete. Wenn Lenz sie nicht unterstützte, wusste sie nicht, wie sie Pohl helfen sollte. Ihr Traum von der eigenen Fluggesellschaft würde zerplatzen wie eine Seifenblase. Zerfahren legte sie sich eine Strategie zurecht, wie sie Lenz um den Finger wickeln könnte. Die Sekretärin des Staatsanwalts riss sie aus ihren Grübeleien.

»Herr Lenz hat jetzt Zeit für Sie.«

Die Vorzimmerdame ging voran, klopfte an eine Tür und bat Hannah einzutreten.

Lenz erhob sich von seinem Platz hinter dem Schreibtisch, knöpfte sein Sakko zu und begrüßte sie. Er deutete auf eine Sitzgruppe aus schwarzem Leder und bat Hannah, Platz zu nehmen.

»Harald Lenz. Was kann ich für Sie tun, Fräulein Bloch?«

Ihr Plan, ihm zuerst eine Zusammenarbeit bei der Suche nach NS-Kriegsverbrechern anzubieten und dann allmählich auf Pohls Entnazifizierung zu kommen, löste sich vor ihren Augen auf wie Nebel in der Frühlingssonne. Ihr Herz trommelte einen aufgeregten Wirbel gegen ihre Rippen. Sie spürte, dass sie Lenz anstarrte.

Der Staatsanwalt runzelte die Stirn. »Stimmt etwas nicht? Fühlen Sie sich nicht wohl?«

Hannah fasste sich. »Entschuldigung. Sie erinnern mich an jemanden. Die Ähnlichkeit … ist verblüffend.«

Was sie sagte, war mehr als untertrieben. Staatsanwalt Harald Lenz war eine ältere Ausgabe von Hans Simonek. Das blonde, gescheitelte Haar und die klaren blauen Augen, seine Haltung und die Art, wie er sich bewegte – alles erinnerte sie an ihre erste Liebe.

»Ich hoffe, ich darf Ihre Reaktion als Kompliment verstehen«, sagte Lenz und lächelte.

Hannah wusste nicht, was sie darauf antworten sollte. Alles drehte sich um sie, sie konnte keinen klaren Gedanken fassen. Lenz stand auf, öffnete eine Klappe in der Schrankwand und kehrte mit zwei gefüllten Likörgläsern zurück.

»Wenn Ihr Bekannter einen solchen Eindruck bei Ihnen hinterlassen hat, sollten wir auf sein Wohl trinken, meinen Sie nicht auch?«, sagte er. »Erklären Sie mir, warum eine so hübsche junge Frau eine Uniform trägt?«

Der Alkohol breitete sich warm in ihrem Bauch aus und half ihr, die Selbstbeherrschung wiederzuerlangen. Sie berichtete stockend von ihrer Arbeit beim CIC und der Suche nach Rolf Heyrich.

Lenz blätterte in dem Dossier. »Leider kann ich Ihnen nicht allzu viel Hoffnung machen«, sagte er. »Dass die Amerikaner und Briten sich langsam aus der Aufarbeitung der NS-Verbrechen zurückziehen, ist nicht gerade hilfreich für uns. Außerdem suchen wir natürlich vor allem nach den großen Fischen – Adolf Eichmann, Martin Bormann und anderen. Darf ich fragen, warum Sie sich ausgerechnet für Rolf Heyrich interessieren? Er war kein Entscheidungsträger im Staatsapparat der Nazis, eher ein Opportunist, der sich die Hände schmutzig gemacht hat, um leichter Karriere machen zu können.«

»Heyrich war kurz vor Kriegsende Rädelsführer bei einem vierfachen Mord. In dem kleinen Ort Hagenstein nördlich von Frankfurt ließ er junge Soldaten erschießen, die desertiert waren. Mindestens einen von ihnen hat er eigenhändig umgebracht.«

Lenz rieb sich das Kinn. »Wenn das stimmt, wird es schwierig werden, ihn dafür zur Verantwortung zu ziehen. Vorausgesetzt er lebt überhaupt noch und wir finden ihn.«

»Warum?«

Lenz blickte sie aus seinen blauen Augen an. Hannah schüttelte mühsam ein Déjà-vu ab.

»Würden Sie mir zuerst eine Frage beantworten?«, sagte Lenz.

»Wenn ich kann, gerne.«

»Ich vermute, Sie kannten die Opfer?«

Sie nickte widerstrebend. »Ja, einen von ihnen kannte ich gut.«

Lenz lehnte sich zurück. »Ich verstehe. Daher rührte Ihr Erschrecken, als Sie mich sahen. Wenn die Ähnlichkeit so groß ist, wie Sie behaupten, müssen Sie geglaubt haben, einem Toten zu begegnen.«

Hannah begann, sich zu ärgern. War sie so leicht zu durchschauen?

»Ich will, dass Heyrich für das, was er getan hat, verurteilt wird«, sagte sie.

»Das glaube ich Ihnen gerne. Es könnte jedoch schwierig werden, denn nach der damaligen Militärgerichtsbarkeit hatte er das Recht, ein Standgericht einzuberufen, musste es sogar. Er würde seine Verteidigung darauf aufbauen und vermutlich damit durchkommen.«

»Er besaß keine Befähigung zum Richteramt. Nur ein Feldrichter hätte ein Sondergericht einberufen können. Das ist jedoch nicht geschehen. Heyrich und seine Kumpane haben vier junge Männer ermordet, um das geraubte Gold aus der Tötungsanstalt Hadamar in Sicherheit zu bringen.«

»Das müssen wir zuerst beweisen. Und dafür müssten wir ihn erst mal haben.«

»Ich kriege ihn.«

Lenz betrachtete sie prüfend. »Ich werde Ihnen helfen, soweit es in meiner Macht steht. Gibt es sonst noch etwas, was ich für Sie tun kann, Fräulein Bloch?«

Hannah zog den Umschlag mit dem Entlastungszeugnis aus ihrer Tasche. »Ja, da wäre eine Formalität. Lieutenant Young ist in die USA aufgebrochen, ohne diesen letzten Fall abzuschließen, an dem wir gemeinsam arbeiteten. Dafür dürften Sie wohl nun zuständig sein.«

Lenz nahm den Umschlag entgegen und überflog den Entnazifizierungsbescheid.

»Auch ein Freund von Ihnen?«, fragte er beiläufig.

Hannah spürte, dass sie rot wurde. Sie stellte sich vor, Lenz im Gerichtsaal gegenüberzustehen. Es musste äußerst schwierig sein, ihn anzulügen oder ihm Dinge vorzuenthalten.

»Max Pohl ist mein Geschäftspartner.«

Er faltete den Bogen zusammen. »Ich verstehe. Nun, ich muss die Angelegenheit natürlich zuerst prüfen.« Er lächelte und zog eine altmodische Taschenuhr hervor.

Hannah spürte einen Stich im Herzen. Hans hatte eine ähnliche Uhr besessen.

»Wie wäre es, wenn ich Ihnen die Urkunde … sagen wir … heute Abend zurückgebe? Wäre das früh genug?«

»Heute … Abend schon?«, stotterte sie.

Lenz nickte. »Wenn Sie mir die Ehre erweisen, mit mir essen zu gehen. Ich kann das Restaurant am Römer empfehlen.«

Hannah starrte Lenz an, ohne zu begreifen.

»Ich sehe, mein Vorschlag macht keinen großen Eindruck. Ein schwerer Schlag für meine Eitelkeit, und äußerst schade noch dazu.«

»Nein, nein. Ich … äh … nehme gerne an.«

Was zum Teufel soll ich bloß anziehen?, dachte sie.

Die Ungerächten

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