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Der Lebenslauf

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Das ist die Sehnsucht: wohnen im Gewoge

und keine Heimat haben in der Zeit.

Und das sind Wünsche: leise Dialoge

täglicher Stunden mit der Ewigkeit.

Und das ist Leben. Bis aus einem Gestern

die einsamste von allen Stunden steigt,

die, anders lächelnd als die andern Schwestern,

dem Ewigen entgegenschweigt.

Rainer Maria Rilke


empfangen werden

Lebenslauf« ist ein wirklich passender Bildbegriff für die Zeitspanne, in der der Mensch als Geistseele in den physischen Leib-Keim eintritt, den Ei- und Samenzelle von Mutter und Vater gebildet haben, bis hin zu dem Augenblick, in dem er alles Physisch-Leibliche wieder ablegt, den Elementen der Erde zurückgibt. Wir nennen diesen Augenblick den Tod, den vorausgegangenen Empfängnis. Auch ein bildstarkes Wort: Wir werden empfangen. Wer empfängt uns? Wir denken zunächst an die Eltern, die das auch tun und meist voller Dankbarkeit; wir können auch an eine Gemeinschaft von Menschen denken: die erweiterte Familie, Großeltern, vielleicht ältere Geschwister, vielleicht auch die Gemeinschaft einer christlichen Gemeinde, die im Vollzug der Taufe einen nächsten Schritt der Empfängnis vollzieht. Auch die Hebamme und der ärztliche Geburtshelfer sind solche Empfänger oder Empfangende.

Am Anfang eines Lebens steht die Gemeinschaft, am Ende ist man allein, auch wenn vielleicht Menschen am Sterbebett versammelt sind. Der Todesaugenblick und die unmittelbaren Tage danach gehören ganz und gar »mir«, das heißt unserem Ich als Ausdruck unserer Einzigartigkeit oder Individualität. Rudolf Steiner spricht von dem Tod als Augenblick höchster Ich-Erfahrung. Nie im Leben seien wir so bei uns selbst wie in diesem Augenblick.14 Als Arzt habe ich oft erlebt, wie Sterbende, die intensiv von ihren Nahestehenden begleitet wurden, gerade dann den Todesaugenblick wählten, wenn sie – vielleicht auch nur für Minuten allein gelassen – ganz für sich waren, was oft Kummer, ja manchmal auch Unverständnis oder Vorwürfe bei den Zurückgebliebenen auslöste.

»unterwegs sein«

Nun der Lebenslauf! Sind wir nicht wirklich andauernd unterwegs, auf Wegen unterschiedlichster Art, sind wir nicht oft auch eilig unterwegs, wie im Lauf? »Lauf« kann viele Tempi beschreiben, vom geruhsamen bis zum flotten Gehen, dann im engeren Sinne Laufen, schließlich gar Rennen. Tendenziell ist die Richtung immer nach vorne, und Pausen gibt es kaum, es sei denn Erschöpfung oder Ermüdung erzwingen sie. Und plötzlich werden wir aufmerksam, dass der Lebenslauf tatsächlich rhythmisch von einer großen Pause unterbrochen wird, die wir Schlaf nennen.

Viel zu wenig ist dem modernen Menschen bewusst, dass er – wieder annähernd – ein Drittel seines Lebens verschläft und vor allem von dieser Zeit normalerweise nichts weiß, mit Ausnahme vielleicht seiner Träume, die aber meistens rasch vergessen werden. Wir entdecken aber in dem Phänomen »zwei Drittel Wachen und ein Drittel Schlafen« einen ersten Rhythmus, der tatsächlich das ganze Leben durchzieht. Er verändert sich, denn zu Beginn des Lebens schlafen wir viel mehr, als dass wir wach sind. Und im Alter wird die Menge des Schlafs oft deutlich geringer, macht dann vielleicht nur noch ein Viertel aus, manchmal auch noch weniger. Das ist durchaus individuell unterschiedlich.

die Pause als Teil des Rhythmus

Wir entdecken außerdem einen ganz entscheidenden Teil von Rhythmus: die Pause. Und die Pause ist zugleich Wendepunkt, zum Beispiel der Richtung oder der Intensität. Diese Wendepunkte sind beim Wachen und Schlafen das Einschlafen und das Aufwachen.

Abend- und Morgengebet

Der Arzt kann aus seiner Anschauung vermitteln, dass solche Wendepunkte ganz wichtige Momente sind, in denen sich Gesundheit bildet. Wird in sie störend eingegriffen, können schwere Krankheiten folgen. Wir können auf eine Lebenswirklichkeit schauen, die vor nicht allzu langen Zeiten für viele Menschen eine Selbstverständlichkeit war, es heute jedoch selten noch ist: das Abend- und das Morgengebet. Die Menschen hatten noch ein instinktives Wissen, dass diese beiden Momente, in denen man von jeweils einer Welt in eine andere übertritt, eine hohe Bedeutung für ein gesundes Menschsein haben. Shakespeare war solch ein Wissender, er lässt Othello seine Frau Desdemona fragen, ob sie schon zur Nacht gebetet habe, ehe er sie erwürgt.15 Bei allen Rhythmen müssen wir immer intensiv auf die Wendepunkte achten, deren Qualität Ruhe, Stille ist, man kann es auch »Anhalten« nennen.

Jahrsiebte, Jahrzehnte und Mondknoten

Es wurde schon erwähnt, dass der Lebenslauf besonders von drei Grundrhythmen geprägt ist: von Jahrsiebten, Jahrzehnten und den sogenannten Mondknoten. Sie sollen im Einzelnen betrachtet und dargestellt werden. Wir werden dabei auch wieder auf die Drei stoßen, die alles durchwirkt. Wir werden Wiederholung und Steigerung erleben, aber auch das Eingreifen der uns begleitenden Gegenkräfte (Widersacher) durch Verlangsamung oder Beschleunigung, von Steiner auch als Verspätung und Verfrühung bezeichnet.

Im ersten großen Überblick sind es neun Jahrsiebte, die für unsere Zeit, und damit sind viele Jahrhunderte gemeint, als idealtypisch für den Lebenslauf charakterisiert werden können. Zu diesen wird ein zehntes Jahrsiebt gerechnet, das wie eine Oktave in der Musik alles noch einmal in sich zusammenfasst. So währt ein idealtypisches Leben also 70 Jahre, was zu Steiners Lebzeiten noch viel gültiger war, als wir es für die Gegenwart erleben, wo die durchschnittliche Lebenserwartung die 70 längst für beide Geschlechter überschritten hat. Das wird uns zu den Jahrzehnten leiten.

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