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Die Jahrzehnte

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Bedeutung der Zehn

Rudolf Steiner hat die Jahrsiebte für die Evolution des Menschen in seinem Lebenslauf ganz besonders betont. Die Sieben ist eine Zahl des Lebens und zugleich der Zeit. Was bedeutet nun die Zehn, ist sie überhaupt von Bedeutung?

Ein runder Geburtstag wird traditionell immer besonders gefeiert, vor allem im höheren Alter. Da spielen Siebenjahreszahlen eigentlich keine Rolle. Manchmal findet auch die Hälfte eines Jahrzehnts Beachtung, zum Beispiel der 65. Geburtstag, der lange Zeit mit dem Ausscheiden aus dem Berufsleben gleichgestellt wurde, oder der 75. Geburtstag als Maß eines Dreivierteljahrhunderts.

Beim Menschen erleben wir die Zehn ganz offensichtlich an Händen und Füßen, an den Fingern und Zehen, wobei die Zehn in 2 x 5 gegliedert ist. Die Grundmaßeinheit der Länge, des Meters, wird – zum Beispiel beim Zollstock – eingeteilt in Abschnitte von 10 x 10 Zentimetern und jeder von diesen in wieder 10 einzelne Zentimeter. Das Jahr teilt sich dagegen in 12 Monate, und wir kennen auch Längenmaße wie die Meile, die keine Zehn in sich trägt. Ihre eigentliche Wirklichkeit und Bedeutung für den Menschen muss wohl noch entdeckt bzw. erarbeitet werden. Wir können uns jedoch annähern, dass, wo die Sieben eine innere Beziehung zur Zeit hat, die Zehn mehr dem Raum zuzuordnen ist. Raum und Zeit sind gewichtige Komponenten von Mensch und Welt, und so sollte der Zehn, hier den Jahrzehnten, mehr und mehr Verständnis entgegengebracht werden.

Betonung des Raumes gegenüber der Zeit

Unsere Gegenwart betont den Raum, sie hat für die Zeit wenig Verständnis. Das ist besonders in der Medizin zutreffend, die alles am Menschen räumlich wahrnimmt. Ein einzelner Befund als Momentaufnahme ist in diesem Sinne Raum, seine dauernde Veränderung in der Zeit wird nicht oder kaum beachtet. Der Gehalt von körpereigenem Kortison im Blut ist beispielsweise morgens viel höher als am Abend, im ersten Tiefschlaf geht er gegen Null. Wollen wir also den Menschen »räumlich« verstehen, müssen wir lernen, auch auf die Jahrzehnte zu sehen. Wieder ein vertiefendes Bild aus dem Leben des Jesus von Nazareth: 30 Jahre Entwicklung brauchte der Mensch Jesus von Nazareth, um Träger des Christus zu werden, der dann nur ein Zehntel dieser Zeit, drei Jahre, dem Menschen Jesus einwohnen konnte. Dann hatte der Geist, das Ich des Gottessohns den menschlichen Leib aufgezehrt. Wenn wir den Geist als Flamme sehen, hat sie ihn zu Asche verbrannt.

Jahrzehnte als Schwellen

Viele Menschen, auch ich selbst, erleben die Jahrzehnte als regelrechte Schwellen, die bedeuten, dass Altes verlassen wird und Neues beginnt. Dagegen ist der Übergang von Jahrsiebt zu Jahrsiebt fließend, eher Metamorphose des Gewesenen als Neuanfang. Viele meiner Patienten erlebten zum Beispiel das Ende eines Geführtwerdens an der Schwelle eines Jahrzehnts, die Frauen eher bei 30 Jahren, Männer mit 40. Wie oft stellen sich an diesen Schwellen erste tiefe Sinnfragen, wie oft werden damit Krisenzeiten verbunden. Wir können für unsere Epoche auf eine Zeitreihe von 3 x 3 Jahrzehnten zu je 30 Jahren blicken und sie mit den 3 x 3 Jahrsiebten zusammenschauen, ohne das rechnerisch zu denken, denn diese Rechnung ginge natürlich nicht auf. Der vom modernen Materialismus geprägte Mensch orientiert sich im Raum, denn dieser ist das Grundsystem eines weltanschaulichen Materialismus. Eine Maschine ist reiner Raum, sie hat keine zeitliche Struktur, ist hier und jetzt. Und wieder – Maschinen bestimmen, ja beherrschen heute die Medizin.

Leib, Seele und Geist im Rhythmus der Jahrzehnte

Entwicklung verläuft in der Zeit, ihr Rhythmus wird bestimmt durch die Sieben. Was bedeuten dann jene Drittel von je 30 Jahren, die raumbestimmt sind und ein idealtypisches irdisches Leben von 90 Jahren umfassen? Dieses Alter kommt der heutigen Realität ja deutlich näher als die 70 Jahre, die vorher beschrieben wurden. Ich denke schon, dass wir auch für diesen Rhythmus Leib, Seele und Geist zugrunde legen können. Dann wäre die räumliche Ausgestaltung des Leibes mit etwa 30 Jahren abgeschlossen, damit verbunden die noch starke Abhängigkeit von äußeren Bedingungen, die uns bestimmen: Lehre, Ausbildung, Studium, Gesellenzeit oder erste Berufserfahrungen. Um diese Zeit macht einer vielleicht seinen Meister, ein anderer seinen Facharzt oder wird Volljurist nach Referendariatszeit und zweitem Staatsexamen. Selbstverständlich zeigen sich viele individuell geprägte Ausnahmen von dieser geschilderten Regel, die ich lieber Typus nennen möchte. In der Musik wäre das Gleiche dann ein Thema mit Variationen. Hinzu kommen noch die schon erwähnten Verschiebungen der Verfrühung oder Verspätung (siehe Seite 27 bzw. 45 ff.).

Die zweiten 30 Jahre sind dann die Blüte der Erwachsenenzeit, erfüllt von Selbstbestimmung, Gründung einer Familie, Verantwortung für sich selbst und zunehmend auch für andere, zum Beispiel seine Kinder. Im Mittelpunkt steht die Berufs- oder Arbeitswelt, die ausschlaggebend für die eigene Selbstverwirklichung ist.

Es ist eine tragische Entwicklung, dass für viele Menschen die Arbeit heute ein lästiges Muss ist, ein Job aus der Gesinnung Nordamerikas, aus der Notwendigkeit, Geld zu verdienen. Die Freizeit hat immer mehr Gewicht bekommen. Doch leitet sich der Begriff »Beruf« ja nicht zufällig von »Berufung« oder »berufen sein« ab. Wer berief uns Menschen in diesem Sinne, von wem ertönte dieser Ruf an uns?

Egoismus und Altruismus

Diese zweiten 30 Jahre sind auch verbunden mit der Wende von dem das Selbst bildenden Egoismus zu dem nun das andere, die anderen mehr und mehr in den Blick nehmenden Altruismus. Das Christuswort »Liebe deinen Nächsten so wie dich selbst« (Lukas 10,27) setzt ja voraus, sich selbst lieben gelernt zu haben, um auch den anderen schätzen oder gar lieben zu können.

Wir stoßen auf eine Wortgestaltung, die nachdenkenswert ist: Das lateinische Wort alter bedeutet »der, die, das andere«, deshalb Altruismus als Polarität zum Egoismus. Stammt unser Wort »Alter« von diesem lateinischen Wort ab, weil sich mit dem Alter im Menschwerden die immer größere Zuwendung zu allem anderen verbindet, das uns mit der Welt zusammenbringt? Wird uns nicht immer bewusster, dass wir ohne die anderen Menschen und die ganze Natur gar nicht existieren könnten? Schauen wir nur auf die Luft, die wir atmen, auf alles, was uns ernährt, auf die Menschen, die uns halfen aufzuwachsen, die uns bildeten. Es ist also eine Zeit der Seelenentwicklung, nur jetzt viel mehr mit Blick auf das Außen, die Welt und die Mitmenschen als bei den Jahrsiebten, in denen es um die Gestaltung der eigenen Seele mit Bezug auf sich selbst ging.

Freiheitserleben

Und die dritten 30 Jahre, die wieder dem Geist gewidmet sein sollen, führen uns dann vom 60. bis zum 90. Lebensjahr, wo es nach heutiger Denkart viel leichter zu sein scheint, von Alter zu sprechen, als dieses schon mit dem 42. Lebensjahr beginnen zu lassen. Wir werden immer mehr sehen, wie beides Berechtigung hat. Auf jeden Fall kann dieser Zeitraum von noch mehr Freiheitserleben erfüllt sein als der vorangegangene. In ihm wirken so großartige Elemente wie gesättigte Lebenserfahrung und sich damit verbindende Weisheit, die Möglichkeit der Überschau und der Zusammenschau des Ganzen, das die vorher so dominanten Teile in sich birgt.

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