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Prolog: Jesus und die Kultur
ОглавлениеDie Person Jesu steht am Anfang jeder Christologie – das ist das Credo der Befreiungstheologen. Ich versuche im Folgenden eine narrative Rekonstruktion des Lebens Jesu unter Aufnahme der Erkenntnisse der sozialgeschichtlichen Exegese. Diese Forschungsrichtung nimmt in besonderem Maße den Kontext der biblischen Texte in den Blick und steht damit im Bereich der westlichen akademischen Theologie den kontextuellen Theologien noch am nächsten.
Als Sohn einer jüdischen Mutter war Jesus Jude von Geburt.1 Über seine Kindheit und Jugend ist außer Legendarischem wenig auf uns gekommen. Seine spätere öffentliche Lehrtätigkeit zeigt jedoch, dass er im jüdischen Glauben erzogen wurde. Die Evangelien legen ihren Schwerpunkt auf die Zeit seines öffentlichen Auftretens, ein bis zwei, maximal drei Jahre2 am Ende eines kurzen Lebens. Über ihren Quellenwert ist viel gestritten worden. Es sind Glaubenszeugnisse, keine Augenzeugenberichte, und dennoch ist hinter ihnen immer noch der Mensch Jesus zu erkennen.
Bethlehem als Geburtsort (Mt 2,1–18; Lk 2,1–21 vgl. Joh 7,40–43) ist strittig, eng verknüpft ist der Name Jesu aber mit Nazareth in Galiläa (Mk 1,9; Lk 1,26; Mt 2,23; Mk 6,1–6 par; Joh 1,45 f.). Hier ist er aufgewachsen als Sohn eines Handwerkers (Mt 13,55), eines Bauschreiners oder Tischlers (tekton), in einer kinderreichen Familie (Mk 3,31–35 par; 6,3 par). Jesus erlernte, wie damals gang und gäbe, den Beruf seines Vaters (Mk 6,3). Ob und wie lange er ihn ausgeübt hat, wissen wir nicht, doch mussten Kinder in der Regel früh zum Unterhalt der Familie beitragen. Während seines öffentlichen Wirkens ernährte er sich jedenfalls nicht mehr von seiner Hände Arbeit, anders als später Paulus.
Jesus wird Aramäisch gesprochen haben; dass er Griechisch konnte, ist nicht auszuschließen.3 Palästina lag zwar an der Peripherie des römischen Imperiums, doch zeigten die Kolonialherren durchaus Präsenz, und die lokale Oberschicht hatte sich der Kultur des Hellenismus schon aus Opportunitätsgründen geöffnet.4 Nur sechs Kilometer von Nazareth entfernt lag das von den Römern im Zuge einer Strafaktion im Zusammenhang mit den Unruhen nach dem Tode Herodes I. (4 v.Chr.) zerstörte Sepphoris.5 Herodes Antipas (r. 4 v.Chr. – 39 n.Chr.), Jesu Landesherr, trieb den Wiederaufbau voran, um es zur Hauptstadt seiner Tetrarchie zu machen. Vielleicht haben Joseph und sein Sohn Jesus zeitweilig auf dieser Großbaustelle gearbeitet. Später, während Jesus am Nordufer des Sees Genezareth herumzog und predigte, lag das ca. 18 n.Chr. von Herodes Antipas gegründete und 26 n.Chr. zur neuen Hauptstadt Galiläas erhobene Tiberias stets in Sichtweite. Jesus wird sich auch auf der Via Maris fortbewegt haben, der wichtigsten Handelsstraße Palästinas, die Ägypten mit dem Euphratgebiet verband. Eine Querverbindung zweigte nach Sepphoris ab. Seine Wanderungen führten Jesus in die Nähe hellenistischer Städte; Tyrus und Sidon (Mk 7,31; Mt 15,21), Cäsarea Philippi (Mk 8,27; Mt 16,13) und die Dekapolis (Mk 5,20; 7,31) werden genannt.
Doch der Abstand in Reichtum und Bildung zwischen der kleinen hellenisierten Oberschicht und dem Gros der galiläischen Landbevölkerung war immens.6 Als kleiner Leute Kind hatte Jesus nur beschränkte Bildungschancen. Aber er ist charismatisch begabt, kennt die Schriften und versteht, sie auszulegen. Zudem schöpft er aus der Weisheit des Volkes. Seine Gleichnisse spiegeln die Lebenswelt einfacher Menschen, Bauern, Fischer und Handwerker. Ihm sind aber auch Großgrundbesitz, Geldgeschäfte und Spekulationen nicht unbekannt (Mk 12,1–12 par; Mt 18,21–35; 20,1–16; 25,14–30 par; Lk 12,16–21; Lk 16,1–9).
Der Beginn des öffentlichen Auftretens Jesu ist eng mit der Person Johannes des Täufers verbunden (Mk 1,1–8; Mt 3,1–12; Lk 3,1–20; Mk 6,14–29 par; Joh 1,19–34.35 f.; 3,22–36).7 Welchen Einfluss dieser auf sein Denken hatte, bleibt jedoch im Dunkeln. Die Jesusüberlieferung bringt ihm eine hohe Wertschätzung entgegen. Dass Jesus und einige seiner Jünger ursprünglich Täuferanhänger waren, wird immer wieder vermutet. Doch ist trotz der Fragmentarität der Überlieferung noch deutlich, dass er etwas über die endzeitliche Bußpredigt des Täufers Hinausgehendes anzusagen hatte.
Jesus verkündigte die Königsherrschaft Gottes. Den Armen und Unterdrückten,8 den Zöllnern, Sündern und Dirnen, den Kranken und Schwachen, den Frauen9 und Kindern10 kommt im Reich Gottes ein besonderer Platz zu. Seine Wunder, die Krankenheilungen und Speisungen, sind Zeichen dafür, dass die Gottesherrschaft in seiner Gegenwart schon vorweggenommen ist.11 Diese Spannung zwischen dem „schon jetzt“ und dem „noch nicht“, wie spätere Dogmatik gerne sagt, ist unauflöslich. Die Reichen und Mächtigen ruft Jesus zur Umkehr (Mk 10,17–31 par; Lk 6,24 f.; 12,13–21). Zwar ist er nicht der Kopf einer politischen Widerstandsbewegung,12 aber sein Auftreten muss doch als eminent politisch empfunden worden sein. Über die Herrschenden, „die ihre Amtsgewalt missbrauchen“, (Mk 10,42), hat er sich wohl keine Illusionen gemacht.13 Herodes Antipas nannte er einen Fuchs (Lk 13,32) und ein schwankendes Schilfrohr (Mt 11,7),14 seine Jünger hat er eindrücklich vor ihm gewarnt (Mk 8,15). Anders als die Zeloten war die Jesusbewegung jedoch irenisch ausgerichtet. Dem Kaiser die Steuern zu zahlen etwa, brauchte sich niemand zu widersetzen (Mk 12,13–17 par).
Die Schar seiner Anhänger verstand Jesus als Gegengesellschaft, in der einer dem anderen dienen sollte (Mk 10,42–45). Unter seinen Jüngern waren Fischer (Mk 1,16–20 par) und ein Zollknecht (Mk 2,13–17 par). Reich ist keiner von ihnen gewesen, es mag zum Überleben gereicht haben. Viel war es jedenfalls nicht, was sie zurückließen, als sie seinem Ruf folgten. Wohl schon früh gehörten zu seiner Gemeinschaft Frauen, auch wenn der Kreis der Zwölf nur Männer umfasste. Andere, die dazustießen, waren vorher schon sozial entwurzelt. Der Markusevangelist spricht vom ochlos, der Volksmenge um Jesus, die zusammenströmte, wo er lehrte, ihm z. T. wohl aber auch nachfolgte.15
In Galiläa und den angrenzenden Gebieten umherziehend, heilte Jesus Kranke und lehrte in den Synagogen, in Häusern oder einfach im Freien. Auch da, wo er galiläisches Territorium verließ, bewegte er sich vorwiegend in jüdischem Umfeld. Direkt in die hellenistischen Städte zu gehen, vermied er (Mk 1,45). Grundlage seiner Lehre ist die Tora. Auch wenn er Normen entschärfte, wo sie die kleinen Leute zu sehr bedrückten, außer Kraft gesetzt hat er sie nirgends (Mt 5,17). Niemand soll aufgrund seiner misslichen sozialen Lage, die ihn etwa dazu zwingt, einen als unrein erachteten Beruf auszuüben, durch die Reinheitsgebote noch zusätzlich religiös diskriminiert werden (Mk 7,1–23). Barmherzigkeit an den Armen, den Kranken und Hungernden zu üben, kollidiert nicht mit dem Sabbatgebot (Mk 2,23–3,6). Seine Jünger fasten nicht, denn mit seiner Gegenwart ist für sie eine Freudenzeit angebrochen (Mk 2,18 f.). Andere Gebote, wie das Eherecht, verschärft er (Mk 10,1–12), vielleicht auch im Blick auf die libertinistischen Sitten der Oberschicht, derentwegen nach dem Bericht der Evangelien der Konflikt zwischen Johannes dem Täufer und Herodes eskaliert ist (Mk 6,17–19). Gesetz und Propheten kann Jesus im doppelten Liebesgebot (Mk 12,28–34 par)16 zusammenfassen. Wer sich daran hält, hat bereits viel getan.
Jesus ist der Begründer einer innerjüdischen Erneuerungsbewegung.17 Neben solchen prophetischen Bewegungen, wie sie sich etwa um Johannes den Täufer und Jesus scharten, gab es die Essener, die Pharisäer, die Sadduzäer und die Zeloten.18 Das Neue Testament zeichnet im Ansatz das Bild eines in sich pluralistischen Judentums. „Die Juden“ im Gegenüber zu Jesus, wie sie die Autoren der Evangelien aus der Erfahrung des schmerzhaften Ablösungsprozesses von ihrer jüdischen Mutterreligion streckenweise stilisieren,19 hat es so nie gegeben. Jesu Wirkkreis war das jüdische Volk. An eine organisierte Heidenmission dachte er nicht. Der schroffe Satz „Geht nicht den Weg zu Menschen aus den Völkern und nicht hinein in eine samaritanische Stadt!“ (Mt 10,5b) ist vielleicht noch Reflex darauf. Dennoch wird es im Grenzland hin und wieder zu Begegnungen mit Angehörigen anderer Volksgruppen gekommen sein. Exemplarisch wird die Geschichte von der Syrophönikerin erzählt (Mk 7,24–30 par).20 Jesus weist ihr Hilfegesuch zunächst mit Hinweis auf das Vorrecht Israels zurück, lässt sich dann aber doch von ihrem Glauben überzeugen. Beim Hauptmann von Kapernaum (Mt 8,5–13 par)21 ist er weniger zögerlich, vielleicht weil sie praktisch „Nachbarn“ waren oder die Ältesten der Synagoge ihn baten. Das Haus des Hauptmanns betritt er aber nicht. Bei Lukas zeigt Jesus ein gewisses Interesse an den Samaritanern (Lk 9,51–56; 10,25–37; 17,11–19). Daran könnte etwas sein, etwa im Sinne der Heimholung der Ketzer.
Vielleicht lässt sich vorläufig so viel sagen: Wer unter den Heiden Glauben zeigte, wurde nicht grundsätzlich abgewiesen. Nach jüdischer Vorstellung kommen die Heiden jedoch erst im Eschaton hinzu (Jes 2,2–5). Ähnlich wird das wohl auch Jesus gesehen haben, jedenfalls aber einige seiner Anhänger, die bald nach seinem Tod, noch unter der konkreten Naherwartung stehend, mit eben dieser Begründung die Heiden zu sammeln begannen (Mk 13,10).22
Jesus wusste sich zu den Juden gesandt. An eine flächendeckende Verkündigung hat er nicht gedacht, aber jeder Mann und jede Frau seines Volkes sollte die Möglichkeit haben, von ihm zu hören. Deswegen wanderte er umher, heilte und lehrte. Seine Jünger sandte er aus, Gleiches zu tun (Mk 6,7–13 par). Nachdem überall im galiläischen Land die Kunde von ihm erschollen war, zog er hinauf nach Jerusalem, wohin sein Ruf ihm vorausgeeilt war. Dass er sich damit in Gefahr begab, muss ihm bewusst gewesen sein. Konflikte mit der lokalen Oberschicht und den religiösen Autoritäten hatte es schon in Galiläa wiederholt gegeben. Das gewaltsame Geschick der Propheten23 stand ihm vor Augen. Angst wird er gehabt haben, was früh in der Gethsemane-Episode stilisiert wurde (Mk 14,32–42), die durchaus Raum für menschlichen Zweifel zulässt.
Jesus drang nun in das Zentrum der jüdischen Religion vor und lehrte im Tempel. Sein Tempelwort (Mk 14,58; vgl. Joh 2,19–21) zielte auf die institutionalisierte Religion und ihre Repräsentanten, stellte aber zugleich auch den Status Jerusalems als heiliger Stadt in Frage. Die symbolische Tempelreinigung (Mk 11,15–17 par; Joh 2,13–16) muss als direkter Schlag gegen den Pilgertourismus empfunden worden sein, von dem breite Kreise Jerusalems profitiert haben werden. Dies spiegelt sich noch in der zweifachen Begründung der Anklage gegen Jesus „sowohl beim Verhör vor dem Synhedrium [Mk 14,57–64] als auch in der Kreuzigungsszene [Mk 15,2932].“24 Während die Tempelaristokratie Jesus wegen seines Messiasanspruchs unter Anklage stellt, verklagen ihn einige anonym Bleibende wegen seiner Polemik gegen den Tempel.
Der Johannesevangelist trifft sicherlich einen Teil der Wahrheit, wenn er berichtet, dass die jüdischen Autoritäten einem Eingreifen der Römer zuvorkommen wollten (Joh 11,47–50; 18,14). Doch fühlten sie sich wohl zuerst in ihrer eigenen Position angegriffen und sannen deswegen darauf, wie sie sich seiner entledigen könnten. Ihn vor Pilatus als jüdischen Aufrührer zu verklagen, der Herrschaftsansprüche anmelde, war ein geschickter Schachzug. Die Römer waren mit Unruhestiftern allgemein nicht zimperlich. Die Schilderung von Pilatus’ Zaudern dürfte eher eine Servilitätsadresse der Evangelisten an die Römer sein (Mt 27,11–24; Joh 18,28–40). Jesus wurde denn auch nicht als religiöser Abweichler gesteinigt, sondern starb am Kreuz der römischen Kolonialmacht.
Das Volk hatte sich von ihm abgewandt, die Jünger waren geflohen, selbst Petrus hatte ihn verraten. Wer Sympathie zeigte, musste mit Repressalien rechnen. Unter Umständen konnte er selbst ans Kreuz geschlagen werden. Dennoch standen die Frauen von ferne (Mk 15,40 f.). Am Morgen des dritten Tages, als die Frauen kamen, ihn zu salben, war das Grab leer. Am gleichen Tag gab es Erscheinungen Jesu vor den Frauen (Mk 16,9 f.; Mt 28,9 f.; Joh 20,11–18), die ihm nachgefolgt waren, und vor den Jüngern (Mk 16,12–14 par; Joh 20,19–21,22). Darin ist der Glaube an seine Auferstehung gegründet.25 Seine Anhängerinnen und Anhänger kamen wieder zusammen und sagten die gute Nachricht weiter.
Die Kunde von ihm und seine Botschaft – das Evangelium umfasste wohl schon früh beides – drängten darauf, weitererzählt zu werden. Schon bald drang die gute Nachricht über den jüdischen Bereich hinaus. Mit dem Überschreiten kultureller Grenzen stellte sich die Frage nach der Verhältnisbestimmung von Evangelium und Kultur, zugespitzt zunächst auf das Problem des Verhältnisses von Juden und Heiden.26 Exemplarisch lässt sich das an Leben und Mission des Paulus darstellen.27 Theoretisch reflektiert wurden die dabei ablaufenden Prozesse allerdings erst sehr viel später. Einige moderne Theorieansätze sollen im weiteren Verlauf dieses ersten Hauptteils vorgestellt werden.