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§ 1 Christologie und die Kultur 1. Christus und die Kultur

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Der amerikanische Theologe und Sozialethiker H. Richard Niebuhr (1894–1962) hat mit seinem nie ins Deutsche übersetzten Buch „Christ and Culture“1 eine Typologisierung der Möglichkeiten der Verhältnisbestimmung von Christentum und Kultur vorgelegt, die erst in der neueren Diskussion wieder aufgegriffen wurde. Die Bandbreite der Typen reicht vom Exklusivismus der radikalen Christen, die „Christus gegen die Kultur“ gerichtet sehen (Christ against culture), bis zur inklusiven Sichtweise der Kulturchristen, für die „Christus der Erfüller der Kultur“ ist (Christ of culture). Zwischen diesen beiden Extrempositionen benennt Niebuhr drei vermittelnde Antworten, die, ausgehend von der Erfahrung, dass Christus und die Kultur weder isoliert nebeneinander stehen können noch ineinander aufgehen, die beiden Größen zueinander in Beziehung setzen.

Getragen werden diese unterschiedlichen Vermittlungsversuche von der kirchlichen Mitte (church of the center). Während die Dualisten „Christus und die Kultur im Widerspruch“ zueinander sehen (Christ and culture in paradox), den es in der konkreten Situation fortwährend auszutarieren gilt, lokalisieren die Synthesisten „Christus über der Kultur“, in der er nie ganz aufgeht (Christ above culture). Dualismus und Synthese sind mithin Modifikationen der nicht praktikablen Extreme Exklusivismus und Inklusivismus. Niebuhr selbst favorisiert den dritten Typ, die Konversionisten, für die „Christus der Verwandler der Kultur“ ist (Christ the transformer of culture). Die drei von Niebuhr konstruierten Vermittlungstypen akzentuieren jeweils eine im Grunde auch von den beiden anderen geteilte Prämisse:

•Christus und die (jeweilige) Kultur fordern von ihren Anhängern bzw. Angehörigen gleichermaßen Loyalität (Dualisten).

•Christus geht nie völlig auf in einer Kultur (Synthesisten).

•Christus ist eine kulturkritische Instanz (Konversionisten).

Übers. 1: Christus und die Kultur (Niebuhr)


In seinem Vorwort erweist Niebuhr Ernst Troeltsch die Reverenz, dessen Typologie „der soziologischen Selbstgestaltung der christlichen Idee“2 er lediglich zu modifizieren vorgibt.3 Dieser charakterisiert als die beiden gegensätzlichen Gemeinschaftsformen des Christentums die Kirche, die aufgrund ihres Selbstverständnisses als Heilsmittlerin „der Welt sich anpassen kann“ und dadurch breiten Bevölkerungsschichten zugänglich ist, und die Sekte, deren Anhänger von Endzeiterwartungen bestimmt sind und in Kleingruppen „von der Welt sich scheiden“ wollen. Daneben stellt Troeltsch die Mystik, deren Vertretern die christliche Religion „zu einem rein persönlich-innerlichen Gemütsbesitz“ wird. Troeltschs Typen der Verhältnisbestimmung von Religion und Welt verhalten sich in gewisser Weise konzentrisch zueinander, mit der Mystik als Form verinnerlichter Religion im Zentrum und der Kirche als der Welt zugewandte Gemeinschaftsform im äußersten Ring, dazwischen die Sekte als weltabgekehrte Gruppierung. Niebuhrs Typologie ist demgegenüber polar strukturiert, mit einem deutlichen Akzent auf Christus bzw. dem Evangelium.

Wenn Niebuhr von Kultur spricht, hat er die westliche Kultur im Blick. Dies zeigt sich nicht zuletzt an seiner zeitweisen synonymen Verwendung des Begriffs Zivilisation. In der missionswissenschaftlichen Diskussion zum Thema weitet sich demgegenüber der Blick auf den Pluralismus der Kulturen und Religionen weltweit. Dadurch wird die Beziehung zwischen den Grundkoordinaten Kultur und Religion in zweifacher Hinsicht komplexer:

(1.)Kultureller Pluralismus: Erst im Kontakt mit fremden Kulturen schärft sich das Bewusstsein dafür, dass das Evangelium uns überhaupt nur in kulturell vermittelter Gestalt zugänglich ist. Der Kulturkontakt birgt daher immer auch die Chance in sich, kulturelle Engführungen in der Interpretation des Evangeliums zu korrigieren.

(2.)Religiöser Pluralismus: Zugleich trifft das Christentum bei diesem Kulturkontakt auch auf fremde Religionen. Ohne hier in die Diskussion um eine Theologie der Religionen einsteigen zu wollen, lässt sich doch festhalten, dass deren beiden antagonistischen Grundoptionen Exklusivismus und Inklusivismus4 durchaus kompatibel mit Niebuhrs Typologie sind. Das gegenüber den anderen Religionen lange Zeit vertretene extra ecclesiam nulla salus5 verbindet die Exklusivisten unter den Religionstheologen mit Niebuhrs radikalen Christen. Vertreter der inklusivistischen Position, die in anderen Religionen die Heilswirksamkeit des logos spermatikos6 zu entdecken meinen, sie als preparatio evangelica verstehen oder ihre Anhänger als „anonyme Christen“7 mit in die Heilsgeschichte hineinnehmen, vertreten letztendlich eine Theologie, die die Heilserwartungen der anderen Religionen im Christentum erfüllt sieht. Dieses Denkmuster teilen sie mit Niebuhrs Kulturchristen bzw. Akkommodisten.

Inwiefern ich Religion als ein kulturelles System verstehe, habe ich eingangs bereits erläutert. Wenn ich also von Evangelium und Kultur spreche, ist die religiöse Dimension der jeweiligen Kultur immer mitgemeint. Im Unterschied zu Troeltschs konzentrischer und Niebuhrs polarisierender Typologisierung neige ich selbst einer dialektischen Sichtweise des Verhältnisses von Evangelium und Kultur zu, wie sie in den vermittelnden Antworten des Letztgenannten bereits angelegt ist. Unter dem Stichwort kontextuelle Theologie werde ich das im Folgenden noch näherhin ausführen.

Interkulturelle Christologie

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