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Einleitung zur Jubiläumsausgabe
ОглавлениеNach zwanzig Jahren stellt sich dem Autor natürlich zunächst einmal die Frage, ob es überhaupt Sinn hat, sein Buch in dieser Form wieder zu veröffentlichen oder ob es einer Revision bedarf. Seit seinem Erscheinen in Deutschland (1999) und dem englischsprachigen Raum (2001)1 haben sich jedoch nicht so sehr die vorgestellten Theologen und ihre Rezeption,2 als vielmehr die Kontexte selbst verändert. Das Œuvre der hier porträtierten „großen alten Männer“ lag zur Zeit der Erstveröffentlichung bereits vor. Sie hatten ihren Beitrag geleistet, und auch wenn einzelne danach noch etwas publiziert haben,3 hat das keine Auswirkungen mehr auf das Gesamtbild. Wohl aber bleibt als zweite Frage, ob ihre Theologie noch in die heutige Zeit bzw. den jeweiligen Kontext passt. Ist das Credo des Kontextualisierungsprojektes doch gerade, dass eine kontextuelle Theologie sich verändern muss, wenn sich der Kontext verändert.4 Exemplarisch habe ich das an der Südkoreanischen Minjung Theologie aufgezeigt, die ich mit meinen Forschungen seit einem Studienaufenthalt in Seoul 1987/88 permanent begleitet habe.5
Ein Blick zurück
Gleichzeitig erweist sich das Buch selbst im Rückblick als Produkt seiner Zeit. Hatte ich mich in meiner Dissertation „Theologie im Kontext. Zugleich ein Versuch über die Minjung-Theologie“ (1995) noch ganz dem Lokalen zugewandt, schwang das Pendel mit „Die vielen Gesichter Jesu Christi. Christologie interkulturell“ (1999) um in Richtung des Globalen. Eine Bewegung, die sich parallel auch in den Schriften meines katholischen Kollegen Robert Schreiter beobachten lässt. Sein Constructing Local Theologies (1985) war zum Zeitpunkt, als ich mit meiner Doktorarbeit begann, eine der wenigen theoretischen Durchdringungen der Materie, die mir zur Verfügung standen. Statt mich wie ursprünglich geplant ganz auf die Minjung-Theologie und ihre Exponenten im koreanischen Kontext zu konzentrieren, entschloss ich mich daraufhin, selbst einen Beitrag zur „Theorie kontextueller Theologie“ zu leisten. Schon damals kam ich zu der Überzeugung, dass wir den kontextuellen Theologien notwendig eine interkulturelle Theologie zur Seite stellen müssen, die „zwischen“ den verschiedenen kontextuellen Entwürfen vermittelt. Insofern war der Schritt zu ihrer Entfaltung am Beispiel der Christologie auch wieder nur konsequent.
Inzwischen habe ich diese Überlegungen mit meiner „Einführung in die Interkulturelle Theologie“ (2011) theoretisch und materialiter weiter ausgebaut. Entgegen meiner ursprünglichen Überzeugung, dass das „Abfragen“ anderer dogmatischer Topoi wenig Aussicht auf Erfolg hätte, habe ich dabei im dritten Teil „Generative Themen: Eine kleine interkulturelle Glaubenslehre“ nun doch den Versuch unternommen zu collagieren, wie sich die Textur des Gewebes der generativen Themen des christlichen Glaubens unter dem Einfluss der kontextuellen Theologien verändert hat.
1997 wurde mit The New Catholicity. Theology between the Global and the Local Schreiters Reaktion auf den neu erwachten Universalismus veröffentlicht.6 Im Rückblick erscheint uns der Fall der Berliner Mauer (1989) als die symbolische Verdichtung einer Epochenwende, die Schreiter durch das Ende der bipolaren Weltordnung, die dadurch ermöglichte Ausbreitung des neo-liberalen Konsumkapitalismus bei gleichzeitiger Verdichtung der Welt durch die neuen Kommunikationstechnologien näher typiert. Um auch dies anhand eigener Erfahrungen zu beleuchten: Als ich 1987/88 – noch zu Zeiten der Militärdiktatur – ein Jahr in Seoul lebte, um die Minjung-Theologie in ihrem eigenen Kontext zu studieren, war ich wenig vorbereitet auf die ständigen Fragen nach der deutschen Wiedervereinigung. Die koreanischen Christinnen und Christen hingegen beteten zu meinem großen Befremden in fast jedem Gottesdienst für die Wiedervereinigung ihres geteilten Landes. Meine Antwort, dass ich die Wiedervereinigung Deutschlands in meiner Generation für ausgeschlossen hielte, stieß nicht nur auf Unverständnis, sondern wurde ein Jahr später auch von der Geschichte Lügen gestraft.
Die Ausbeutung junger koreanischer Arbeiterinnen etwa in der Textilindustrie, von der auch deutsche Kleidungsdiscounter profitierten, war einer der Auslöser des theologischen Widerstandsdiskurses. Inzwischen produziert Südkorea, längst zu einer führenden Industrienation geworden, selbst in Billiglohnländern Südostasiens und profitiert von einer wachsenden Anzahl von Arbeitsmigrant*innen mit zeitlich begrenzter Aufenthaltsgenehmigung für die sogenannten „3D-Jobs“ (dirty, dangerous and demanding).
Die Kommunikation mit meiner Familie und nach meiner Rückkehr auch mit meinen Freunden in Korea gestaltete sich damals noch äußerst mühsam – Briefe dauerten mindestens zwei Wochen –, bei schneller Beantwortung musste ich also jeweils einen Monat auf eine Reaktion warten. Telefonieren war teuer, und selbst ein Faxgerät war nicht ohne Weiteres zugänglich. Heute kann höchstens noch ein Stromausfall oder ein zu hoch eingestellter Spamfilter die schnelle E-Mail Kommunikation behindern und telefonieren wir mit skype, Social Media oder Vorwahlnummern billiger in die Dritte Welt als im eigenen Dorf zum Ortstarif im Festnetz.
Die dritte Frage war dann, ob die interkulturellen theologischen Entwicklungen im Blick auf die Christologie seither in Form neuer Paragraphen ergänzt werden sollten. Letztendlich habe ich mich dafür entschieden, den großen alten Männern die Christologie von Frauen aus der Dritten Welt und ihrer Diaspora als Spiegel vorzuhalten (§ 13). Ansonsten habe ich den Textkorpus des Buches, bis auf kleinere redaktionelle Anpassungen und Literaturergänzungen in den Anmerkungen, so gelassen wie er ist. Es kommt heute sicherlich schon stärker theologiegeschichtlich daher und dokumentiert, dass Afrika, Asien und Lateinamerika nicht nur ihre eigene Kirchengeschichte „in den Kontinenten“ haben,7 Johann Baptist Metz spricht von einer „kulturell polyzentrischen Weltkirche“,8 sondern auch eigene theologische Dynamiken entwickeln, mit denen sie zum globalen theologischen Diskurs beitragen. Ja sie haben selbst „globale theologische Strömungen“ wie die Befreiungstheologien hervorgebracht.9 Das Buch behält seine Gültigkeit als Momentaufnahme und Kompendium der ersten Generation kontextueller Theologen in Afrika, Asien und Lateinamerika.
Der von mir in der Einleitung zur ersten Ausgabe avisierte Generationenwechsel lässt sich am markantesten im Blick auf die Frauen der zweiten Generation aufzeigen. Die dritte und inzwischen bereits vierte Generation kontextueller Theolog*innen sind wesentlich schwieriger voneinander abzugrenzen und zu kategorisieren.10 Zum einen gibt es den Typus der kosmopolitischen Intellektuellen wie Kwok Pui-Lan oder R. S. Sugirtharaja, die in der Tradition von C. S. Song und Kosuke Koyama in den akademischen Institutionen der nordatlantischen Hemisphäre eine postkoloniale Theologie betreiben. Zum anderen gibt es eine Vielzahl international wenig bekannter glokaler Theolog*innen, die immer noch Teile ihrer Ausbildung im Westen genossen haben, z. T. aber auch schon im Süd-Süd-Austausch. Selbst wenn Sie auf Englisch schreiben, sind ihre Arbeiten zumeist in lokalen oder regionalen Zeitschriften und Verlagen publiziert.
Der neo-konservative Mythos vom Ende der Befreiungstheologien und mit ihnen der kontextuellen Theologien insgesamt11 hat jedenfalls in Europa zu ihrer Eliminierung aus den theologischen Curricula geführt. Seit Mitte der 1990er-Jahre wurde kaum noch etwas ins Deutsche, Niederländische oder Französische übersetzt. In den USA scheint die Lage auf den ersten Blick diverser, bei genauerem Hinsehen allerdings entpuppen sich die Diskurse als hochgradig segregiert, Kwok Pui-Lan und Jörg Rieger verweisen darauf, dass dies vom System des neo-liberalen Kapitalismus bewusst ausgenutzt wird, um die Opposition zu spalten und fordern eine „tiefe Solidarität“, die Diversität aushält.12 Entgegen dem Trend globaler Vernetzungen und Kommunikationsströme in Echtzeit, droht auch das Projekt interkulturelle Theologie zu scheitern in Provinzialismus und konfessioneller Retribalisierung, zum Schaden der globalen Erzähl- und Interpretationsgemeinschaft des christlichen Glaubens.
So bleibt mir in dieser Einleitung zu klären, wie sich das Diskursfeld methodisch und inhaltlich seitdem verändert hat. Ich will das unter den Stichworten andere Perspektiven, Orte, Geschlechter und Formen tun und dies auch in Beziehung setzen zu meiner eigenen Forscherbiographie, denn meine Beschäftigung mit der kontextuellen und interkulturellen Theologie ist in den letzten zwanzig Jahren ja weiter gegangen.
Andere Perspektiven
Die Kontexte haben sich verändert, haben wir gesagt. Am deutlichsten wird das im Bereich der Befreiungstheologien. Sowohl die Militärdiktaturen in den Ländern Lateinamerikas und in Südkorea als auch das Apartheidregime in Südafrika sind durch junge Demokratien abgelöst worden. Gleichzeitig wird die Schere zwischen Arm und Reich noch stets größer. Während die indische Dalit- oder die japanische Burakumin-Theologie weiterhin bestehende Missstände anklagen und daher nach alten Mechanismen funktionieren, wenden sich in Südafrika Schwarze Theologen flankiert von weißen den neuen generativen Themen Versöhnung, Wiederaufbau und Entschädigung zu. Die Befreiungstheologie in Lateinamerika hat sich glokal durchaus weiter ausdifferenziert, wird aber international kaum noch rezipiert. In Südkorea lässt der theologische Neuaufbruch hingegen auf sich warten.13
Den Protagonisten der Schwarzen Theologie ist es gelungen sie zu transformieren und im Post-Apartheid Südafrika weiterhin ihre Relevanz zu entfalten. Unterstützt wurde dies sicherlich dadurch, dass einige von ihnen wie Frank Chikane politische Verantwortung übernahmen oder Desmond Tutu von Staatspräsident Nelson Mandela zum Vorsitzenden der Wahrheitskommission (Truth and Reconciliation Commission – TRC) berufen wurde. Diese sollte einen Dritten Weg zwischen Tribunal und Generalamnestie finden. Amnestie erhält, wer sich zu seinen Taten bekennt. Scharfe Kritik an der TRC kam aus den eigenen Reihen. Allan Boesak, mit Tutu einer der Väter der südafrikanischen Variante der Schwarzen Theologie, spricht von „einer nahezu kalkulierten Form emotionaler Erpressung“.
Wenn du deinem Folterer nicht vergeben wolltest, wurde dir suggeriert, dass etwas mit dir nicht stimmt. […] Es muss aber einen Ort für berechtigten Zorn geben. […] Bisher wurde nur die Vergebung durch die Opfer wirklich realisiert. All die anderen Elemente, ohne die Versöhnung nicht wirklich echt sein kann – Wiederherstellung, Entschädigung, Wiedereinsetzung, Gerechtigkeit –, verglühen auf dem Aschenhaufen der Geschichten, die erzählt und angehört wurden, ohne dass auf sie reagiert wurde, und die letztendlich der Vergessenheit anheimfielen.14
Tutu selbst war als TRC-Vorsitzender immer wieder aufs Neue von dem Vergebungswillen der Opfer beeindruckt.
Die Menschen mit der größten Vergebungsbereitschaft, denen ich je begegnet bin, sind diejenigen, die selbst gelitten haben – es ist als ob sie durch das Leiden zur Empathie gereift sind. Ich spreche über verletzte Heiler.15
Gleichzeitig war er empört darüber, wie wenig Reue die Verantwortlichen für ihre Taten zeigten.16 Auch teilt er durchaus in vielem Boesaks kritische Sicht der Ergebnisse des TRC-Prozesses.17 Dennoch argumentiert er anders als Boesak:
Wenn das Opfer nur vergeben könnte, nachdem der Täter ein Bekenntnis ablegt hat, dann würde das Opfer den Launen des Täters ausgeliefert, in seiner Opferrolle gefangen, unabhängig von seiner eigenen Einstellung oder Absicht.18
Eine Sichtweise, die durch die Aussagen Betroffener immer wieder bestätigt wird. Es hat also Sinn, von einer Selbstversöhnung bzw. Selbstannahme zu sprechen, wie sie sich etwa schon in dem Slogan „Black is beautiful“ geäußert hat. Unter Rückgriff auf die Arbeiten von Sigmund Freud hatte der Psychoanalytiker Frantz Fanon, einer der Väter der postkolonialen Kritik, davon gesprochen, dass die Opfer die Perspektive der Unterdrücker internalisiert haben.19 Diese Fremdbestimmung in der Selbstwahrnehmung gilt es zunächst einmal, in der Selbstannahme, der Versöhnung mit sich selbst, zu überwinden.20 Wie aber lässt sich die von mir eingeführte Kategorie der Selbstversöhnung christologisch denken? Die Leidensgegenwart Gottes in Jesus Christus, die Erzählung, dass Gott in Armut und Unterdrückung Gestalt angenommen hat, erkennt Menschen eine Würde vor Gott und ihren Mitmenschen auch kontrafaktisch zu ihren Lebensverhältnissen zu. Nicht das „Sterben für“, sondern das „Sterben mit“ wird so zur Heilsbotschaft. Der Skopus der Befreiungstheologien hat sich insgesamt in Richtung Gerechtigkeit und Intersektionalität der verschiedenen Formen von Unterdrückung wie der klassischen Trias race, Klasse, Geschlecht verschoben.21
Globalisierung wird oft fälschlich vor allem als sozio-ökonomisch und politisches Phänomen wahrgenommen, Trotz postkolonialer Kritik und Empire-Theorien fällt es den Befreiungstheolog*innen schon schwer genug, der „neuen Unübersichtlichkeit“ (Jürgen Habermas) zu trotzen. Die Rechnung des globalen Konsumkapitalismus durch „Coca-Kolonisierung“ und „McDonaldisierung“ eine Hyperkultur zu schaffen, in der die Produkte noch einfacher vermarktet werden können, ist nicht aufgegangen. Kulturen und Religionen haben sich als Widerstandsdiskurse entpuppt, die oft allerdings auch in fundamentalistische Extreme umkippen. Insofern müssen auch die auf Austausch und Dialog ausgerichteten Inkulturations- und Dialogtheologien ausdifferenziert werden, um den christlichen Glauben im noch wesentlich komplexer gewordenen kulturell-religiösen Pluralismus zu verorten.22
Der 11. September 2001 hat die Dialogtheologien kurzzeitig ins Zentrum des Interesses gerückt. Auch wenn sie überfordert wären, würde ihnen die Lösung oder gar Prävention der interreligiösen Konflikte aufgebürdet, so kann Dialog heute doch nur noch im Kontext von Fundamentalismus und Terror gedacht werden.23 Im katholischen Bereich gab es eine Reihe von Versuchen, unter Rückbesinnung auf die Liturgiereform des Vaticanum II, mithilfe der Inkulturation als „pastoraler Strategie“ jedenfalls den Graben zwischen kontextuellen Theologien und Kirche zu überbrücken.24 In Lateinamerika wurde die Inkulturationstheologie dabei mit der Befreiungstheologie fusioniert, in Asien und Afrika wurden die Bande mit der Dialogtheologie enger geknüpft. Eine befriedigende Antwort auf die veränderten kulturell-religiösen Rahmenbedingungen steht jedoch noch aus.
Die skizzierten Transformationsprozesse haben für die kontextuellen Theologien zumindest drei strukturelle Konsequenzen:25
Von der Mono-Kultur zur Hybridität
Der Kulturbegriff ist heute wesentlich ausdifferenzierter als in den Anfängen der kontextuellen Theologien. Kulturen sind komplexe Gebilde, die in permanenter Wechselwirkung miteinander stehen und verschiedene Subkulturen umfassen. Dennoch gibt es noch stets distinkte kulturelle Identitäten, allein wir sind uns zunehmend ihrer Hybridität bewusst. Statt der Vorherrschaft der westlichen Moderne nachzuhängen, müssen wir die gegenwärtige Pluralität der Modernen anerkennen. Die koreanische, japanische oder chinesische Moderne verarbeiten ebenso lokale Einflüsse, wie die brasilianische oder ghanaische, um nur einige Beispiele zu nennen.
Von der lokalen Verortung zur Deterritorialisierung
Mit den globalen Migrationsströmen ist die Diaspora zur Lebensform für viele geworden. Ursprünglich eng verbunden mit dem in alle Welt verstreuten jüdischen Volk, bezeichnet der Begriff heute Migrantengemeinschaften allgemein.
Von der Gemeinschaftzentriertheit zur multiplen Zugehörigkeit
Die Befreiungstheologien waren ursprünglich oft theologische Bewegungen, die die Interessen einer Gemeinschaft vertreten. Inkulturations- und Dialogtheologien sind demgegenüber zwar die Gedankengebäude einzelner, bleiben aber dennoch bezogen auf eine christliche Gemeinschaft und ihr jeweiliges kulturell-religiöses Umfeld. Durch Migration und die Hybridisierung unserer Lebenswelten gehören Menschen heute oft verschiedenen Gemeinschaften an und kommt es in zunehmendem Maße auch zu interkulturellen und interreligiösen Eheschließungen.26 Zu welcher Gemeinschaft fühlt sich das junge Paar zugehörig, welcher werden sich ihre Kinder später anschließen? In Südkorea, vor dreißig Jahren noch eines der ethnisch homogensten Länder der Welt, lag in den 2000er-Jahren der Anteil der internationalen Eheschließungen bei zeitweise ca. 10 %.27 In den traditionellen Siedler- und Zuwanderungsgesellschaften wie den USA ist dies längst Alltag. Auch die Länder Westeuropas sind seit den 1950er-Jahren aufgrund ihres kolonialen Erbes und der Arbeitsmigration zu multikulturellen Gesellschaften geworden.
Nach der feministischen und kulturellen (cultural studies), hat mit der postkolonialen Kritik eine weitere universalistisch orientierte Theorie Eingang in den Kontextualisierungsdiskurs gefunden. So wie die kontextuelle Theologie einst postkoloniale Theologie avant la lettre war, hat die interkulturelle Theologie die Intersektionalitätsdiskurse antizipiert, die erst langsam in die Theologie einsickern. Kontextuelle und interkulturelle Theologie werden insofern stets mehr miteinander verwoben. Der Trend weist deutlich von der Kontextualisierung zur Glokalisierung.28
Andere Orte
Mit James Cone ist in der Erstauflage bereits ein Vertreter der nordamerikanischen Diaspora-Theologien prominent vertreten. Diese Grenzüberschreitung zwischen den Dritte-Welt-Theologien und der nordatlantischen theologischen Welt erschien wegen der inhaltlichen Überlappungen der schwarzen Theologie in den USA und Südafrika unumgänglich. Es galt, eventuelle Abhängigkeitsverhältnisse zu klären. Cone selbst hat bereits auf der Panafrikanischen EATWOT-Konferenz in Accra, Ghana 1977 seine Diasporasituation und „Doppelidentität“ als schwarzer US-Amerikaner und Nachkomme afrikanischer Sklaven thematisiert.29 Umgekehrt hat Alan Boesak, eine der zentralen Figuren der südafrikanischen Schwarzen Theologie sich in seiner Kampener Dissertation intensiv mit Cones theologischem Denken auseinandergesetzt. Der Cone-Schüler Dwight Hopkins ist dann den anderen Weg gegangen, „Back to Africa“.30 Hopkins wählt Kultur und Politik als die beiden Foci seiner Untersuchung, die den bisherigen Begegnungen nachspürt und Interviews mit zentralen Vertretern der beiden Bewegungen in den USA und Südafrika auswertet. Er kommt ebenfalls zu dem Schluss, dass sich die schwarze Theologie Südafrikas bei näherem Hinsehen als verwandte, aber durchaus eigenständige Bewegung erweist.31
Neben James Cone waren auch Virgilio Elizondo und George Tinker als kontextuelle Theologen aus den USA früh in die Arbeit von EATWOT involviert, auch wenn ihr Diaspora-Status lange umstritten war. Für die Hispanic- bzw. Latinx-Theologen, wie sie sich heute gerne selbst bezeichnen, sowohl mexikanischer als puertoricanischer Abstammung, konnte Elizondo jedoch früh verdeutlichen, dass sie doppelt kolonisiert worden seien, erst durch die Spanier im 16. Jh. und dann im 19. Jh. ein zweites Mal durch die USA. Sie sind nicht immigriert, sondern die USA haben ihre Grenzen verlegt und sie vereinnahmt. Bereits in Galilaen Journey hat Elizondo auch einen eigenständigen Beitrag zur Christologie geliefert.32 Jesus ist ein Grenzlandbewohner, womöglich Sohn eines Soldaten der römischen Besatzungsmacht, wie er später spekuliert.33 Damit wird Jesus wie in anderen kontextuellen Christologien auch zum Repräsentanten der eigenen Identität, in diesem Fall der Mestizaje. Als exemplarisch für den theologischen Bezugsrahmen der Diaspora-Theologien kann das Buch des koreanisch-amerikanischen Theologen Jung-Young Lee gelten, der ähnlich wie Elizondo Jesus als marginalisierten Mann beschreibt.34
Die Determinanten von Jesu Marginalität, Klasse, ökonomischer, politischer, sozialer und ethnischer Orientierung haben ihn zur marginalen Person par excellence gemacht, deshalb sollten die Geschichten über die Inkarnation aus der Perspektive der Marginalität interpretiert werden (79; vgl. 97).
Dass selbst Tink Tinker als Repräsentant der indigenen Völker und ethnischen Minderheiten von EATWOT als US-Amerikaner ausgegrenzt wurde, obwohl ihre Vorfahren nur knapp dem Genozid durch die weißen Eroberer entkommen sind und sie die Anerkennung als eigene Nationen fordern, zeigt einen blinden Fleck in der Wahrnehmung der ersten Generation kontextueller Theologen auf. Weder die indigenen Völker und ethnischen Minderheiten noch die Frauen waren zunächst im Blick. Die nativ-amerikanische Theologie schwankt denn auch zwischen christlichem Glauben und der Rückkehr zur traditionalen Religion. Es gibt Ansätze, Jesus Christus als Trixter, der subversiv ist und Grenzen überschreitet, oder Maismutter (Corn Mother), die Leben spendet bis hin zur Selbstaufopferung, zu inkorporieren.35 Insgesamt ist allerdings eher die Gotteslehre als die Christologie zum Bindeglied zwischen den beiden religiösen Bezugssystemen geeignet. Das Argument ist dann wie in der Afrikanischen und asiatischen Theologie, dass Gott von Anbeginn in der Schöpfung und damit immer auch schon in dem jeweiligen Kontext präsent ist, neu hinzugekommen von „außen“, zumeist im Zuge des kolonialen Projektes des Westens, ist dann die Botschaft von Jesus Christus. Die Rede vom kosmischen Christus wiederum transzendiert diese Sichtweise, da sie auch Jesus Christus als immer schon gegenwärtig denkt.
Die Diaspora-Theologien sind auf ihre Herkunftsländer in Afrika, Asien und Lateinamerika in unterschiedlichem Maß bezogen, entwickeln gleichzeitig aber ein eigenes Diskursfeld, das ein Desiderat der Forschung ist. Eine Lücke, die ich bald mit einer Einführung in die kontextuellen Theologien der USA zu schließen hoffe. Die Schnittmenge mit den Christologien des globalen Südens ist bei der Schwarzen Theologie am größten, insofern sind die Diaspora-Theologien durch die Aufnahme von James Cone adäquat repräsentiert.
Andere Geschlechter
Die brennendste Frage bei der Abgrenzung meiner Referenzgruppe war, ob ich ein Kapitel über die Christologie von Frauen aufnehmen sollte. Ich hatte letztendlich mit dem Verweis darauf, dass die erste Generation kontextueller Theologie tatsächlich noch „Männersache“ war und die Frauen sich ihren Platz erst mühsam erkämpfen mussten, verzichtet. Ich war überzeugt, dass schon zur Zeit der Abfassung die Theologie von Frauen aus dem globalen Süden in ihrer Kreativität und Produktivität die Männer bereits abgehängt hatte und es einer eigenen Monographie bedurft hätte, um diesem Reichtum gerecht zu werden. In der Diaspora haben sich unterdessen die Womanist- und Mujerista- bzw. Latinx-Theologien etabliert.
Die Frauen aus den Ländern des globalen Südens und ihrer Diaspora haben inzwischen ihren eigenen Weg zwischen der westlichen feministischen Theologie weißer Frauen und den kontextuellen Theologien ihrer Landsmänner gefunden.36 Sie beschäftigt dabei nicht so sehr die soteriologische Frage westlicher Feministinnen, ob ein männlicher Erlöser Frauen erlösen kann, sondern für sie ist Jesus ein Mann, der solidarisch mit den Frauen als den ‚Unterdrückten der Unterdrückten‘ ist. Dies wird jetzt im neu hinzugekommenen § 13 weiter ausgeführt. Dabei lege ich den Akzent auf die Frage von Gemeinsamkeiten und Unterschieden. Die Christologie der großen alten Männer erscheint dadurch im Spiegel einer jungen selbstbewussten Theologinnengeneration.
Die von mir seinerzeit angemahnte wissenschaftliche Aufarbeitung und Rezeption im westlich akademischen Diskurs ist, von Ausnahmen abgesehen, wie bei ihren männlichen Kollegen ein Desiderat geblieben.37 Nach dem feministischen Aufbruch im Westen und dem „Aufbruch im Aufbruch“ der Theologinnen im globalen Süden verläuft die Diskussion inzwischen durch LGTBIQ-Theologien noch wesentlich ausdifferenzierter. Ähnlich wie bei den Diasporatheologien gilt auch für letztere, dass die Christologie ein generatives Thema unter anderen ist. Die vielen Gesichter Jesu Christi sind allerdings oft auch noch im Halbschatten der Identitätsdiskurse verborgen.
Andere Formen
Die christliche Kunst Afrikas, Asiens und Lateinamerikas konzentriert sich wesentlich auf das Christusbild, Maria, die Mutter Jesu und Darstellungen des Lebens Jesu.38 In dem ikonographischen crossover zwischen verschiedenen religiösen Symbolsystemen, in denen die Künstler, selten Künstlerinnen, beheimatet sind, ergeben sich eigenständige Christologien, die oft Tiefendimensionen interkulturell-religiöser Wechselwirkungen erschließen, derer das Wort nicht mächtig ist. Ich habe das im Buch exemplarisch durch fünf kontextuelle Christusdarstellungen vergegenwärtigt und inzwischen in vielen Aufsätzen und einer Monographie zur christlichen Kunst in Indonesien, meinem neben Südkorea zweiten Feldforschungsschwerpunkt in Asien, weiter verfolgt.39 Ein groß angelegtes Kompendium zur christlichen Kunst in interkultureller Perspektive soll folgen. Der neueste Trend der Glokalisierung dieser Kunst hat dazu geführt, dass die Bilder in säkularen Galerien ausgestellt und Teil der globalen Kunstwelt werden. Dadurch wird das klassische Kontextualisierungsparadigma gesprengt. Auch wenn das Ziel nicht mehr eine kirchliche Kunst ist, tragen die Kunstwerke doch zu einer Erneuerung der religiösen Ikonographie bei.
Ein Blick voraus
Ist die Ausgangsvoraussetzung meines Buches, dass die Frage Jesu „Wer sagt Ihr, dass ich sei?“ von jeder Generation in jedem Kontext neu beantwortet werden muss, heute noch zutreffend? Oder sind die Möglichkeiten irgendwann durchgespielt? Eine meiner zentralen Thesen war, dass die generativen Themen kontextabhängig unterschiedlich gewichtet und einer relecture unterzogen werden. In Situationen von Armut und Unterdrückung entfaltet die Kreuzestheologie neue Relevanz. Gleichzeitig verschiebt sich der Akzent aber vom „Sterben für“ zum „Sterben mit“. In der Harmatologie werden Konzepte der „strukturellen Sünde“ und der sinnedagainstness eingeführt, ohne dass die „Sündhaftigkeit“ des Einzelnen infrage gestellt wird. In einer präsentischen Soteriologie wird die Leidensgegenwart Gottes in Jesus Christus zur Annahme der Armen und Unterdrückten auch kontrafaktisch zu ihren Lebensumständen. Dieses Identifikationsangebot schafft dem Schrei nach Gerechtigkeit Resonanzraum.
Im postkolonialen Zwielicht erscheint Jesus als Ahne, avatar, bodhisatva oder guru. Kulturell-religiös fremde Lehrer- und Mittlergestalten werden transparent für die christliche Heilsbotschaft. Der Akzent liegt dann eher auf dem Christus victor und einer theologia gloriae. Die Rückkehr der weißen Jesusdarstellungen des 19. Jh. in den Pfingstkirchen Afrikas, Asiens und Lateinamerikas – heute oft als billige Massenreproduktionen aus China – lässt ihn demgegenüber als kolonialen „Wiedergänger“ erscheinen. Ist dies ein Durchgangsstadium, nachdem ähnlich wie auch in der evangelikalen Lausanner Bewegung die Kontextualisierungsdebatte neu geführt werden muss?40 Oder verblasst die „gefährliche Erinnerung“ dauerhaft zugunsten des Wohlstandsevangeliums?
Dann wird das Jesusbild unweigerlich zum Markenzeichen einer Religion, die sich dem globalen Konsumkapitalismus verschrieben hat. Im Westen ist dieses hybride Stereotyp, ein orientalisierendes Erscheinungsbild des Juden Jesus mit dem Gesicht eines weißen Mannes, trotz anhaltender Säkularisierung noch stets gegenwärtig. Doch scheint die Christologie längst zugunsten eines liquiden Theismus verblasst. Übrig bleibt der Mensch Jesus, der immer noch Gegenstand diverser Filme und Bücher unterschiedlicher Qualität ist, die aber größtenteils außerhalb kirchlicher Kontexte oder gar theologischer Seminare entstehen. Die Frage „Wer sagt ihr, dass ich sei“ droht anscheinend ohne den kontextuellen Druck und die biographische Betroffenheit, mit der sich die hier vorgestellte erste Generation kontextueller Theologen an ihr Werk christologischer Dekonstruktionen und Rekonstruktionen gemacht hat, zu verhallen. Die kontextuellen Theologien würden dann in ein Zeitalter der Epigonen eintreten, das die westlich akademische Theologie schon des Längeren lähmt.
Insofern hat das Buch auch nach 20 Jahren noch nichts von seiner theologischen Relevanz verloren. Zwar haben sich die Kontexte ebenso wie die theologischen Existenzen verändert, aber die Frage sozialer Gerechtigkeit gerade in ihrer Intersektionalität von race, Klasse und Geschlecht sowie die Herausforderungen des kulturell-religiösen Pluralismus haben sich seither eher zugespitzt und zerrütten inzwischen auch die nordatlantischen Gesellschaften. Weder konfessionelle Selbstimmunisierungsstrategien und theologischer Regress des traditionellen kirchlichen und theologischen Establishments noch der Tanz um das goldene Kalb der Anhängerinnen und Anhänger des Wohlstandsevangeliums des „nächsten Christentums“ (Philip Jenkins) sind darauf geeignete Antworten.
Kwok Pui-Lan und Jörg Rieger haben mit ihrem Manifest Occupy Religion41 den Finger in eine offene Wunde gelegt. Es gilt, das befreiende Potenzial der Religionen zurückzugewinnen und sie aus den Klauen des neoliberalen Konsumkapitalismus zu befreien. Die gefährliche Erinnerung an das Leiden Jesu und seine Identifikation mit den Opfern der Geschichte ebenso wie die Gegenwart des Auferstandenen Christus in den Kulturen, auch in der Begegnung mit der Weisheit anderer Religionen sind das Diskursfeld christologischer Rede im 21. Jahrhundert. Die hier porträtierte erste Generation kontextueller Theologen hat uns hierfür nicht nur den Weg bereitet, sondern ist uns als Avantgarde in vielem immer noch voraus.