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2. Transformationen in Wittenberg und Zürich

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Dissonanzerfahrungen

Letztlich bilden die beschriebenen Polaritäten den Hintergrund für die Dissonanzerfahrung eines Martin Luther (1483–1546) oder eines Huldrych Zwingli (1484–1531). Beide wuchsen in dieser spätmittelalterlichen Glaubenswelt auf, die nicht eindimensional gestaltet war, sondern eine Vielfalt von Möglichkeiten bot. So wird man für Martin Luther annehmen dürfen, dass ihm innere Frömmigkeitsformen eigentlich erst in dem Kloster der Augustinereremiten in Erfurt begegnet sind, in welches er 1505 nach einem Gelübde eingetreten war, das er bei Stotternheim nahe Erfurt angesichts eines schweren Gewitters aus Angst vor einem plötzlichen Tod getan hatte. Möglicherweise hat ihm das Gelübde auch in willkommener Weise den Weg eröffnet, einen ohnehin zuvor schon gehegten Plan zu verwirklichen, an dessen Erfüllung ihn sein ehrgeizig auf eine Karriere des Sohnes ausgerichteter Vater hatte hindern wollen. Es liegt nahe, dass die Prägungen, die Luther im monastischen Umfeld erfuhr, in hohem Maße von mystischer, innerlicher Frömmigkeit gekennzeichnet waren. Einzelne spätere Äußerungen lassen erahnen, dass er im Kloster starke spirituelle Erfahrungen, bis hin zu Entrückungen gemacht hat, bedeutsamer aber war die beständige geistliche Begleitung durch Novizenmeister und andere Geistliche des Ordens.

Die wichtigste Gestalt wurde für ihn dabei Johann von Staupitz (gest. 1524), der sich mühte, interne Konflikte zwischen dem besonders strengen observanten Flügel der Augustinereremiten, der sich als eigene Kongregation verselbstständigt hatte, und dem Hauptstrom des Ordens durch eine Vereinigungspolitik auszugleichen. Jüngere Forschungen (Hans Schneider) sprechen dafür, dass Luther nie, wie früher angenommen, zu dieser Politik in Opposition stand. Damit wäre der Gedanke, er sei 1510/11 aus Protest gegen Staupitz nach Rom gereist, hinfällig. Die Reise hätte wohl später (1511/12) und aus anderem Anlass stattgefunden. Im einen wie im anderen Fall wurde er danach, von Staupitz protegiert, Professor für Theologie an der jungen, humanistisch geprägten Universität Wittenberg. Seinen allgemeinen Auftrag zur theologischen Lehre setzte er in der Weise um, dass er hauptsächlich biblische Vorlesungen hielt, zunächst über die Psalmen, dann 1515/16 über den Römerbrief, 1516/17 über den Galaterbrief, danach den Hebräerbrief, und ab 1518 noch einmal über die Psalmen. Die dichte Überlieferung lässt seine Vorlesungstätigkeit in dieser Zeit gut nachvollziehen, dennoch ist die Debatte über Luthers reformatorische Entwicklung bislang zu keinem eindeutigen Ergebnis gekommen.

Stichwort

Debatte über Luthers reformatorische Entwicklung

Für Außenstehende mag die Energie, mit der Theologen und Theologinnen über Zeitpunkt und Inhalt von Luthers reformatorischer Entdeckung streiten, nicht immer nachvollziehbar sein. Hintergrund hierfür ist, dass sich mit ihr in hohem Maße reformatorische Identität verbindet. Die ältere Forschung hat in der Regel, angeleitet vor allem durch Luthers sogenanntes Großes Selbstzeugnis von 1545 (WA 54, S. 179–187), zwischen einer Frühdatierung des Ereignisses in die Zeit der ersten Vorlesungen einerseits, einer Spätdatierung in die Zeit 1517/18 andererseits geschwankt. Der bei beiden Datierungen vorausgesetzte punktuelle Charakter des Geschehens ist schon allein durch die Beobachtung des Umstands, dass sich ein plötzlicher Durchbruch an den zeitgenössischen Quellen nicht festmachen lässt, infrage gestellt worden. Hinzu kommt, dass andere Quellen wie Luthers Begleitscheiben zur Erklärung seiner Ablassthesen (WA 1, S. 525–527) seine eigene Schilderung eines plötzlichen Durchbruchs als Erzählmuster erkennen lassen. So neigen jüngere Beiträge dazu, auf die Annahme eines punktuellen Ereignisses zu verzichten und entweder viele solche einzelnen Durchbrüche (Hamm) oder eine kontinuierliche Transformation spätmittelalterlicher Gedanken zu reformatorischen anzunehmen (Leppin).

Quelle

Luthers Rückblicke a) 1518 im Begleitschreiben zu den Resolutiones aus: KThGQ III, S. 21

Ich erinnere mich, ehrwürdiger Vater, dass bei Deinen so anziehenden und heilsamen Gesprächen, mit denen mich der Herr Jesus wunderbar zu trösten pflegt, zuweilen das Wort „Buße“ gefallen ist. Es erbarmte uns des Gewissens vieler und jener Henker, die mit unerträglichen Geboten eine Beichtvorschrift (wie sie es nennen) vorlegen. Dich aber nahmen wir auf, als ob Du vom Himmel herab redetest: dass wahre Buße allein mit der Liebe zu Gerechtigkeit und zu Gott beginne. Was jene für das Ziel und die Vollendung der Buße hielten, das sei vielmehr der Anfang. Dieses Dein Wort haftete in mir „wie der scharfe Pfeil eines Starken“, und ich fing an, es der Reihe nach mit Schriftstellen zu vergleichen, welche von der Buße lehren. Und das war eine überaus angenehme Beschäftigung. Denn von allen Seiten kamen Worte auf mich zu, fügten sich ganz dieser Auffassung ein und schlossen sich ihr an. Das Resultat war: Wie es früher in der ganzen Schrift nichts Bittereres für mich gab als das Wort „Buße“ (freilich verstellte ich mich eifrig vor Gott und versuchte eine vorgespiegelte und erzwungene Liebe zu zeigen), kann mir jetzt nichts süßer und angenehmer in die Ohren klingen als das Wort „Buße“. Denn dann werden die Gebote Gottes süß, wenn wir erkennen, dass sie nicht bloß in Büchern, sondern in den Wunden des geliebten Heilands gelesen werden müssen.

Quelle

1545 in der Vorrede zu den lateinischen Werken aus: KThGQ III, S. 22

Inzwischen war ich in diesem Jahr zum Psalter zurückgekehrt, um ihn von neuem auszulegen, im Vertrauen darauf, dass ich geübter sei, nachdem ich St. Pauli Brief an die Römer und Galater und den an die Hebräer in Vorlesungen behandelt hatte. Ich war von einer wundersamen Leidenschaft gepackt worden, Paulus in seinem Römerbrief kennenzulernen, aber bis dahin hatte mir nicht die Kälte meines Herzens, sondern ein einziges Wort im Wege gestanden, das im ersten Kapitel steht: „Die Gerechtigkeit Gottes wird in ihm (d.h. im Evangelium) offenbart“ (Röm 1,17). Ich hasste nämlich dieses Wort „Gerechtigkeit Gottes“, das ich nach dem allgemeinen Wortgebrauch aller Doktoren philosophisch als die sogenannte formale oder aktive Gerechtigkeit zu verstehen gelernt hatte, mit der Gott gerecht ist, nach der er Sünder und Ungerechte straft. (…) Endlich achtete ich in Tag und Nacht währendem Nachsinnen durch Gottes Erbarmen auf die Verbindung der Worte, nämlich: „Die Gerechtigkeit Gottes wird in ihm offenbart, wie geschrieben steht: ‚Der Gerechte lebt aus dem Glauben‘ (Hab 2,4).“ Da habe ich angefangen, die Gerechtigkeit Gottes als die zu begreifen, durch die der Gerechte als durch Gottes Geschenk lebt, nämlich aus Glauben; ich begriff, dass dies der Sinn ist: Offenbart wird durch das Evangelium die Gerechtigkeit Gottes, nämlich die passive, durch die uns Gott, der Barmherzige, durch den Glauben rechtfertigt, wie geschrieben steht: „Der Gerechte lebt aus dem Glauben“.

Luthers reformatorische Entwicklung

Jedenfalls ist erkennbar, dass der Anstoß für Luthers theologische Neuorientierungen, die sich anfänglich noch ganz innerhalb des breiten Spektrums spätmittelalterlicher Möglichkeiten bewegten, von Staupitz kam, der ihn schon recht früh auf die Zentralstellung Jesu Christi als des gnädigen und heilbringenden Herrn hingewiesen und dies allen angsterfüllten Vorstellungen von Gott, wie Luther sie in seinem Elternhaus kennengelernt hatte, entgegengestellt hat. Diese Christozentrik, die später zur reformatorischen Formel Solus Christus verdichtet wurde, prägte bereits Luthers erste Vorlesung, in der er die Psalmen ganz auf Christus hin deutete. Dies war ihm Ausdruck des historischen Sinns der Schrift, der zugleich Elemente dessen aufnahm, was man im mittelalterlichen vierfachen Schriftsinn als allegorisch oder typologisch verstanden hatte: die Deutung biblischer Einzelaussagen auf christliche Glaubensüberzeugungen. In dem längst vielfach umgewandelten mittelalterlichen Standardmodell kannte man außerdem einen moralischen, auf die einzelnen Glaubenden bezogenen, und einen eschatologischen (endzeitlichen) Sinn. Luther hob in einer kreativen Weiterführung des moralischen Sinns, das pro me des biblischen Textes hervor: die Ausrichtung auf den glaubenden Menschen, zu dessen Heil die biblische Lehre bestimmt ist. Damit glitten ihm Predigt und wissenschaftliche Auslegung der Bibel zu einer einzigen Aufgabe der Verkündigung ineinander. Das gab seinen Vorlesungen ihre besondere Eindringlichkeit. Mit der Römerbriefauslegung begann die intensive Auseinandersetzung mit Paulus, dem Kirchenvater und Ordenspatron Augustin (354–430) und mystischen Texten. Diese Einflüsse standen nicht gegeneinander, sondern bestätigten sich gegenseitig. Die Lektüre Johannes Taulers gab Luther die Möglichkeit, die angemessene Haltung des Menschen im Angesicht Gottes neu zu verstehen: Aus seiner monastischen Tradition war ihm deutlich, dass ein Mönch nur in Demut und Buße vor Gott treten könne, von Tauler lernte er, dies als eine Lebensprägung wahrzunehmen, die nicht spezifisch monastisch, sondern gemeinchristlich war. Paulus und Augustin gaben ihm die Möglichkeit, dies in einer klaren Begrifflichkeit zu fassen. Immer mehr formte sich bei ihm so die Überzeugung, dass das Heil dem Menschen sola gratia, allein aus Gnade, zukomme. Um 1516/17 dürfte dieser Gedanke für ihn Festigkeit gewonnen haben, der sich in unterschiedlichen Schattierungen auch bei vielen maßgeblichen mittelalterlichen Denkern findet, von Luther aber, angestoßen durch seine Lektüre Augustins und der Mystiker, vor allem in Auseinandersetzung mit dem biblischen Text geformt wurde.

Vor dem Hintergrund der beschriebenen Polaritäten des späten Mittelalters wird rasch deutlich, dass Martin Luther sich an Überzeugungen orientierte, für die die innerliche Gottesbegegnung im Vordergrund stand – allein schon der starke Einfluss, den die Mystik auf ihn hatte, steht hierfür. Als er, wohl 1515, in der Anfangszeit seiner Römervorlesung, Johannes Tauler las, folgte er möglicherweise einer Anregung von Staupitz, jedenfalls teilte er damit ein verbreitetes Interesse des Kreises um seinen Mentor. Er selbst intensivierte dies sogar noch. Als ihm die Theologia deutsch unterkam, in der er große Nähen zu Tauler sah, veröffentlichte er sie 1516 zunächst noch unvollständig, zwei Jahre später folgte eine vollständige Edition. Auch in den Predigten dieser Zeit lässt sich die intensive Auseinandersetzung mit der innerlichen Frömmigkeit der Mystik beobachten, weniger unter dem Gesichtspunkt der Suche nach einer mystischen Vereinigung mit Gott oder Christus als im Blick auf die Bußtheologie. Schon bei Tauler ließ sich lernen, dass eine rechte, vor Gott gebrachte Reue, möglicherweise die sakramentale Buße ersetzen könne, dass also bei wahrer contritio die anderen Teile – confessio und satisfactio – sich erübrigen konnten. Diese antisakramentale Spitze bewegte Luther dann vor allem in der Auseinandersetzung mit dem Ablasswesen. Hierfür wurde um die Jahrhundertwende in regelrechten Ablasskampagnen geworben. Eine davon hatte Albrecht von Brandenburg, Erzbischof von Magdeburg und Mainz, angestoßen. Dabei verbanden sich in einer Weise, die Luther zunächst so noch nicht bewusst war, Ablasswesen und wirtschaftliche Interessen: Der Ablass, den Johannes Tetzel eintrieb, sollte, so wurde es verkündet, dem Bau des neuen Petersdoms dienen. Doch ging nur die Hälfte direkt zu diesem Zweck nach Rom. Der Rest war dazu gedacht, die Schulden beim Haus Fugger in Augsburg abzutragen, die Albrecht hatte aufnehmen müssen, um den päpstlichen Dispens zu bezahlen, den er brauchte, um entgegen dem kanonischen Recht zwei Bistümer in seiner Hand zu vereinigen. Für Luther war nicht diese moralisch zweifelhafte Verquickung entscheidend, sondern die theologische Verkehrung, die er in der Ablasspredigt schon im Grundsatz sah. Ganz auf der Linie der innerlichen Frömmigkeitstradition, in der er stand, hielt er in seinen berühmten Thesen gegen den Ablass, die er wohl nicht per Thesenanschlag veröffentlichte, wohl aber am 31. Oktober 1517 an Albrecht und an den für Wittenberg zuständigen Bischof von Brandenburg Hieronymus Schultz (gest. 1522) sandte, fest, dass Buße in der Umkehr des ganzen Menschen bestehe.

Stichwort

Thesenanschlag

Luthers Mitarbeiter Georg Rörer und der Kollege Philipp Melanchthon erzählten seit den Vierzigerjahren des 16. Jahrhunderts, dass Luther seine Thesen gegen den Ablass im Stile der üblichen Disputationsankündigungen an den Türen der Wittenberger Kirchen (Melanchthon erwähnte nur die Schlosskirche) angeschlagen habe. Dies prägte über Jahrhunderte hinweg das protestantische kulturelle Gedächtnis und wurde vielfach bildlich umgesetzt. 1961 aber hat der katholische Kirchenhistoriker Erwin Iserloh eine heftige, gelegentlich neu aufbrandende Debatte ausgelöst, indem er die Historizität dieses Ereignisses infrage stellte. Fest steht, dass Luther selbst nie von einem solchen Thesenanschlag berichtet hat und im Gegenteil stets versicherte, dass er seine Thesen gegen den Ablass erst herausgebracht habe, nachdem er den Bischöfen Zeit zur Antwort gelassen habe. Da auch eine Disputation, wie sie auf eine öffentliche Ankündigung binnen Wochenfrist hätte folgen müssen, ausgeblieben ist, spricht einiges für die Annahme, dass ein Thesenanschlag, wie ihn die vergleichsweise späten Zeugnisse behaupten, nicht stattgefunden hat.

Quelle

Die ersten beiden Thesen gegen den Ablass aus: KThGQ 37

1. Unser Herr und Meister Jesus Christus wollte, als er sprach: ‚Tut Buße‘ usw., dass das ganze Leben der Gläubigen Buße sei. 2. Dieses Wort kann nicht in Bezug auf die sakramentale Buße (d.h. auf Sündenbekenntnis und Genugtuung, die durch das Priesteramt vollzogen wird,) verstanden werden.

Damit war die Polarität von innerer und äußerer Frömmigkeit mit besonderer Schärfe auf den Punkt gebracht. Auch wenn Luther in den weiteren Ablassthesen ein rein verinnerlichtes Bußverständnis von sich wies, da ja die Änderung des Lebens auch äußere Auswirkungen haben musste, hatte er mit seinen Ausführungen deutlich gemacht, dass eine konsequente Betonung der innerlichen Frömmigkeit, wie sie tief in einem Teil spätmittelalterlicher Frömmigkeit verankert war, geeignet sein konnte, das System sakramentaler Heilsvermittlung, das tragend für mittelalterliche Kirchlichkeit war, infrage zu stellen. Dass diese Infragestellung des herkömmlichen Gnadensystems dauerhaft und immer grundsätzlicher wurde, macht den eigentlich reformatorischen Charakter der spezifischen Transformation spätmittelalterlicher Theologie bei Luther aus. Im Herbst 1517 war diese Konsequenz aber noch keineswegs zwingend.

Es dürfte genau das Ineinander herber Kritik an einer gegenwärtig verbreiteten Praxis und tief reichender theologischer Begründung gewesen sein, das den rasanten Erfolg der Ablassthesen ausmachte: Sie wurden vielfach abgeschrieben, bald auch mehrfach gedruckt, und es entstand eine weitreichende Debatte, von der Luther nahezu überrollt wurde. Öffentliche Wirkung beruht vielfach nicht einfach auf der Radikalität von Neuem, sondern gerade auf einer Mischung aus Vertrautheit und Neuheit – dieses Bedürfnis wurde durch die Ablassthesen und die ihr folgende Publizistik Luthers rasch und erfolgreich bedient.

Zwingli

Während sich also Luthers Entwicklung sehr einleuchtend vor dem Hintergrund der spätmittelalterlichen Tendenz zu affektiver Verinnerlichung erklären lässt, gehört die andere bedeutende Ursprungsgestalt der Reformation, Huldrych Zwingli eher zu jenen, die der veräußerlichten Frömmigkeit die rationale Durchdringung der Glaubensinhalte entgegenstellten. Typisch für viele humanistisch geprägte Persönlichkeiten hatte er sich in seinen ersten Jahren als Pfarrer – ab 1506 in Glarus – für Belange der Schweizer Nation gegen den Verkauf von Söldnern an fremde Herren („Reislaufen“) engagiert. Seine Lektüre war vorwiegend vom Humanismus, aber auch vom spätmittelalterlichen Scotismus geprägt. Die Form, in der er ihm begegnete, stand zwischen den großen Schulrichtungen der Via antiqua und der Via moderna, welche vorwiegend aufgrund einer unterschiedlichen Einordnung der Allgemeinbegriffe voneinander abwichen (Universalienstreit): Während die Via moderna diese tatsächlich lediglich als Begriffe (Konzeptualismus) oder gar als bloße Benennungen (Nominalismus) verstand, sah die Via antiqua in ihnen tatsächliche extramentale Realitäten, unterstellte also beispielsweise, dass es eine allgemeine Menschennatur nicht allein im Verstand gebe, sondern dass diese allen einzeln existierenden Menschen real vorgegeben sei. Die auf Duns Scotus (gest. 1308) zurückgehende Denkrichtung des Scotismus konnte sich auf die eine oder andere Seite schlagen. Für den jungen Zwingli war freilich nicht so sehr diese Frage von Bedeutung, sondern eher eine Grundlehre, die den Scotismus durchzog: die nämlich vom unendlichen Gegensatz zwischen Schöpfer und Geschöpf, die bei Zwingli im Laufe seines Lebens zunehmend den Gedanken in den Vordergrund treten ließ, dass es nichts Irdisches geben könne, das in der Lage ist, Gott zu erfassen. Eine erste inhaltliche Füllung für diesen Gegensatz gewann er durch die Auseinandersetzung mit dem Humanismus. In dessen platonisch inspirierter Philosophie wurde ohnehin sehr stark der Unterschied von Geist und Materie betont, mit einer klaren Präferenz für alles Geistige. Zwinglis reformatorische Entwicklung brachte ihn zu einer Theologie, die immer stärker die Differenz wahrer Religiosität gegenüber ihren Veräußerlichungsformen betonte, welche er als bloßen Ausdruck von Geschöpflichkeit und Materialität sah.

Stichwort

Zwinglis reformatorische Entwicklung

Wie bei Luther, so ist auch bei Zwingli die Frage nach seiner reformatorischen Entwicklung höchst strittig. Traditionell neigen reformierte Forscher aus der Schweiz eher dazu, die Unabhängigkeit Zwinglis von Luther zu betonen, während deutsche Lutheraner eher von einem starken Einfluss des deutschen Reformators auf den Schweizer ausgehen. An diesem scheinbar kleinen Problem hängt auch die Frage, ob es einen einzigen Ursprung der Reformation gegeben habe oder deren mehrere. Die Einsicht in die Bedeutung von Scotismus und Humanismus für Zwingli unterstützt die Annahme seiner Eigenständigkeit. Allerdings dürfte seine intensive Wahrnehmung Luthers seit Ende 1518 ihm Mut gegeben haben, seine Reformanliegen voranzubringen. Der Einfluss Luthers auf Zwinglis reformatorische Entwicklung ist also weniger kausal als katalysatorisch zu verstehen.

Ähnlich wie bei Luther hat sich Zwinglis reformatorische Theologie erst allmählich, zum Teil auch erst durch die Auseinandersetzungen entwickelt, in die dieser geriet. Großen Eindruck machte dabei auf ihn Erasmus von Rotterdam (gest. 1536), der bedeutendste Vertreter des nordalpinen Humanismus. Durch seine Edition des griechischen Neuen Testaments hatte er auch auf Luther starken Einfluss ausgeübt, mit Zwingli kam es sogar zu einer persönlichen Begegnung, die dessen Neigung zum Humanismus nachhaltig bestärkte. Die entstandene brisante Mischung wurde spürbar, als Zwingli am 1. Januar 1519 die einflussreiche Stelle eines Leutpriesters am Zürcher Großmünster antrat. Schon der Beginn auf dieser Stelle zeigt humanistisches Gepräge, denn Zwingli ersetzte die übliche Predigt nach einzelnen, aus dem Zusammenhang gerissenen Perikopen durch eine lectio continua, in der er zunächst fortlaufend das Matthäusevangelium, dann die Apostelgeschichte auslegte. So wurde das humanistische Prinzip, auf die Quellen zurückzugreifen, unmittelbar umgesetzt. Inhaltlich führte das Gespür für die Unterscheidung von Innerlichem und Äußerlichem bei Zwingli rasch zu einer Kritik an den Ablasspredigten des Franziskaners Bernardino Samson. Auch die übliche Heiligenverehrung und der Glaube an das Fegefeuer wurden Gegenstand seiner Kritik, allerdings auch soziale Missstände, vor allem das Zehntnehmen. Auf der Kanzel des Großmünsters entstand so ein Programm, das gewichtige Stücke spätmittelalterlicher veräußerlichter Frömmigkeitspraxis infrage stellte, ohne dass man doch von einer grundsätzlichen Bestreitung des Kirchensystems insgesamt sprechen könnte. Eine solche wurde aber immer mehr zu einer Denk- und Handlungsmöglichkeit, je stärker sich die Ereignisse in Deutschland zuspitzten.

Die Reformation

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