Читать книгу Der Klangwandler - Volker M. Plangg - Страница 3

1. OHNMACHTEN

Оглавление

Nachdem Vallier also kurz hintereinander zum zweiten Mal ohnmächtig geworden war, kam er wieder langsam zu sich. Er registrierte zwei ihm unbekannte Gestalten, die sich an ihm zu schaffen machten. Er hatte einen kalten feuchten Lappen auf der Stirn und einer der beiden rot gewandeten Sanitäter – als solche konnte er sie mittlerweile erkennen – hatte ihm eine Manschette um den Oberarm gelegt und maß offenbar den Blutdruck. Es roch ziemlich intensiv nach Erbrochenem und das peinliche Gefühl, welches sich kurz vor seiner zweiten Ohnmacht seiner bemächtigt hatte, trat erneut zutage.

Er registrierte, dass eine Reinemachefrau schimpfend heran schlurfte und die von ihm verursachte Katastrophe beseitigte. Außerdem bemerkte er große Mengen von Menschen um ihn herum, die ihn teilweise anstarrten, oder – von den Ereignissen offensichtlich unberührt – hin und her gingen, Stühle rückten, Lampen andrehten und begannen, alle mögliche Musikinstrumente auszupacken und sich einzuspielen.

„Natürlich“ schoss es Vallier durch den Kopf. Er lag im Orchestergraben des Festspielhauses Baden-Baden, jetzt fiel es ihm wieder ein. Er war als Chefdirigent seines Theaters die 600 Kilometer hierher gereist, um mit dem Solistenensemble, dem Chor und seinem Orchester in einem dreitägigen Gastspiel Jacques Offenbachs fantastische Oper Hoffmanns Erzählungen aufzuführen. Und heute sollte die Premiere stattfinden.

Wie immer vor Vorstellungsbeginn hatte er etwa eine Stunde zuvor den Orchestergraben betreten, um nach dem Rechten zu sehen. War an seinem Arbeitsplatz und an den Arbeitsplätzen der Musiker alles in Ordnung? Seine Partitur, sein Taktstock sowie ein kleines schwarzes Handtuch auf seinem Dirigierpult, die Noten der Musiker auf deren Pulten? War die Beleuchtung so sorgfältig installiert, dass ausreichend Licht vorhanden war, gleichzeitig aber niemand davon geblendet wurde? Waren die Podeste, welche die unterschiedliche Spielhöhe der Orchestergruppen regulierten, plangenau aufgebaut und war der Orchestergraben in die richtige Höhe hochgefahren? Eigentlich konnte er sich auf seine Orchesterwarte verlassen, aber einmal war ihm passiert, dass auf seinem Dirigentenpult zu Beginn einer Vorstellung eine falsche Partitur gelegen hatte, wahrlich keine angenehme Situation. Spätestens seitdem hatte er sich seinen kurzen Kontrollgang angewöhnt.

Er war also an sein Pult getreten, hatte die drei Stufen zu seinem Podest erklommen und seinen Blick über den noch leeren, schummrig beleuchteten Orchestergraben schweifen lassen, als er den Konzertmeister – sein bester Mann am ersten Pult der ersten Geigen - hereintreten sah, der wohl in der gleichen Absicht wie er selbst den Orchesterraum aufgesucht hatte

„Herr Vallier“ rief der Konzertmeister, als er ihn sah. „Herr Vallier, darf ich Sie kurz sprechen?“

„Natürlich“ antwortete Vallier, stieg von seinem Podium und machte ein paar Schritte auf den Konzertmeister zu. Dabei geriet er durch die zahlreichen Beleuchtungskabel, die am dunklen Boden lagen ins Stolpern und knallte mit seinem Kopf mit voller Wucht an die Kante eines Notenpultes. Er musste augenblicklich das Bewusstsein verloren haben, war dann kurz erwacht, um wieder ohnmächtig zu werden.

Jetzt kümmerten sich also die beiden Sanitäter um ihn. Eben wurde eine Krankentransportliege herein gebracht und die beiden schickten sich an, ihn auf die Liege zu heben.

„Stopp“ rief Vallier, „mir geht’s schon wieder besser. Hören Sie auf damit, ich möchte aufstehen.“ Der eine der beiden Sanitäter versuchte, ihn am Aufstehen zu hindern, aber Vallier ließ sich nicht aufhalten und erhob sich mühsam. Drei, vier Musiker eilten ihm zu Hilfe und schließlich stand er wieder aufrecht. Er spürte ein bisschen Blut an seinen Lippen, zückte ein Taschentuch und tupfte das Blut ab. Dabei bemerkte er, dass an seiner Hose ein großer Riss auf Kniehöhe klaffte, sein Knie arg verschrammt war und ebenfalls blutete.

Unsicher tappte er durch das Halbdunkel des Orchesterraums, den Blicken der Musiker ausgesetzt, Richtung Ausgang. Die Sanitäter stützten ihn dabei und redeten ihm zu, er möge sich ins Krankenhaus zum Röntgen fahren lassen. Natürlich war das völlig ausgeschlossen, denn ein Blick auf seine Uhr hatte ihm verraten, dass es nur noch etwa zwanzig Minuten bis zum Beginn der Vorstellung waren. Wäre er zuhause, an seinem Theater gewesen, hätte er die Aufführung für sich abgesagt und einen seiner Assistenten gebeten, für ihn zu dirigieren. Hier war dies aber nicht möglich, da er der einzige Dirigent vor Ort war. Das Festspielhaus war mit über zweitausendfünfhundert Menschen ausverkauft. Das festlich gekleidete Premierenpublikum strömte bereits voller Vorfreude in den strahlend hell erleuchteten großen Saal und nahm die Plätze ein.

Vallier wankte also – nach wie vor gestützt von den Sanitätern – in seine Garderobe. Ächzend setzte er sich in den gemütlich gepolsterten Ledersessel und schloss die Augen. Ihm war nach wie vor übel. Vor ihm drehte sich alles und wieder spürte er, wie das Blut an seinem Gesicht herunter lief. Die Sanitäter baten ihn, seine Hose auszuziehen und begannen, ihn zu verarzten. Sie reinigten und desinfizierten seine Abschürfung am Knie und behandelten die kleine Platzwunde knapp oberhalb des linken Mundwinkels.

„Sind Sie gegen Tetanus geimpft, Herr Vallier?“ fragte ein Sanitäter. Vallier hatte keine Ahnung. „Nicht dass ich wüsste“ antwortete er. „Beim letzten Mal hab’ ich’s aber auch überlebt.“

Zumindest sein Sarkasmus hatte sich wieder eingestellt.

„Dann müssen Sie sich sofort im Krankenhaus impfen lassen“ meinte der andere Sanitäter. „So etwas kann böse enden.“

„Na, Sie sind gut“ erwiderte Vallier. „In einer Viertelstunde beginnt die Premiere. Ich kann jetzt nicht weg und die Leute stundenlang warten lassen.“

Die Sanitäter empfahlen Vallier, die Impfung nach der Aufführung nachzuholen und legten ihm einen Zettel vor, auf dem zu lesen war, dass er freiwillig auf die weitere Behandlung verzichtete, er über die Folgen seiner Verweigerung aufgeklärt worden und er demnach für etwaige Folgeschäden selber verantwortlich war. Vallier unterschrieb das Papier und die beiden Sanitäter verließen seine Garderobe.

Vallier fühlte sich schrecklich elend. Er kramte in der Außentasche seines schwarzen Aktenkoffers, in der er seit jeher allerlei nützliche Dinge aufbewahrte: Bleistifte, Spitzer, Büroklammern, Manschettenknöpfe, Schnürsenkel, Aspirin, Früchteriegel, Ersatzlesebrillen, Pfefferminzbonbons. Nach einigem Suchen fand er seine Kreislauftropfen, die er immer wieder brauchte, denn er war sehr wetterfühlig und besonders die süddeutsch-österreichische Föhnwetterlage vertrug er denkbar schlecht. Er erinnerte sich an eine Begebenheit von vor ein paar Jahren, als er bei einem Gastspiel in Bayern mitten in der Orchesterprobe sein Dirigentenpult hatte verlassen müssen, weil er befürchtete, jeden Moment ohnmächtig zu werden.

Jetzt zählte er dreißig Tropfen in ein Wasserglas ab und trank.

Vallier blickte auf die Uhr. Noch zehn Minuten! Schwerfällig begann er, seine Arbeitskleidung - einen schwarzen Frack, den er hasste – aus der Verhüllung zu schälen und sich umzuziehen.

Es klopfte an der Tür und der Intendant des Festspielhauses trat ein. Er war mittlerweile von Valliers Unfall unterrichtet worden.

„Wie geht’s Ihnen, Herr Vallier?“ fragte er. „Sie sehen nicht gut aus. Werden Sie dirigieren können?“

„Na, es wird mir wohl nichts anderes übrig bleiben. Oder haben Sie eine andere Idee?“ entgegnete Vallier ein wenig patzig.

„Nun, wir können den Beginn der Vorstellung noch um etwa eine Viertelstunde verzögern. Würde Ihnen das etwas nützen?“

„Unbedingt“ meinte Vallier, „ich bin noch ein wenig zittrig auf den Beinen.“

„Gut, dann werde ich das so veranlassen. Gute Besserung und toi-toi-toi.“ Damit verließ der Intendant Valliers Garderobe.

Vallier war weiterhin ziemlich übel. Zudem brach ihm der Schweiß aus allen Poren, denn der klobige Frack war denkbar unbequem. Es war ein strahlender, sehr warmer Frühsommertag gewesen und auch jetzt – abends – war die Temperatur noch ungewöhnlich hoch. Er schlüpfte in seine schwarzen Lackschuhe und begann, die Schnürsenkel zuzubinden, als ihm plötzlich wieder schwindlig wurde. Verzweiflung stieg in ihm hoch. Er hatte keine Ahnung, wie er die Vorstellung überstehen sollte. Unmöglich konnte er absagen und die Leute nach Hause schicken aber genauso unmöglich würde er in dieser Verfassung dirigieren können.

Mit zittrigen Händen versuchte er, die weiße Schleife um den steifen Hemdkragen zu legen. Dabei blickte er in den Spiegel und erschrak vor seinem eigenen Antlitz. Der Intendant hatte recht: er sah grauenvoll aus. Seine Gesichtsfarbe war aschfahl und ging bereits ins Grünliche über, eine dünne, eingetrocknete Blutbahn zog sich vom Mundwinkel bis zur Kinnspitze. Unter den Augen furchten sich zwei tiefe Tränensäcke.

Er öffnete die Garderobentür und rief nach einer der Garderobieren. Nach wenigen Augenblicken erschien eine der Damen.

„Herr Vallier, was haben Sie denn gemacht?“ rief sie erschrocken und begann sofort, sein Gesicht zu säubern und ihm seine weiße Schleife um den Hals zu binden, was ihm bei seinem Selbstversuch vorhin nicht geglückt war. Dann fönte sie seine schweißnassen Haare und brachte sie wieder in Facon.

Die Lautsprecherstimme der Inspizientin forderte das Ensemble nunmehr auf, die Plätze einzunehmen: „Die Damen und Herren des Orchesters bitte in den Orchestergraben, die Damen und Herren des Opernchores und alle Solisten auf die Bühne. Herr Vallier bitte.“

In dem Moment, als er seinen Namen hörte und ihm die Unausweichlichkeit seiner Situation heftig ins Bewusstsein kam, breitete sich in Vallier ein Gefühl der Panik aus. Unmöglich würde er das Kommende überstehen. Ihm war speiübel, schwindelig, er fürchtete eine erneute Ohnmacht und konnte sich kaum auf den Beinen halten. Dabei hieß es doch immer, jedermann sei ersetzbar! Genau das wünschte er sich jetzt. Sich einfach hinlegen zu dürfen und sich auszuruhen!

Die Garderobiere hielt ihm ein Glas Wasser hin und drängte ihn, einen Riegel Schokolade zu essen. „Gegen Unterzuckerung“ meinte sie. Vallier aß widerwillig und machte sich, auf die Garderobiere gestützt, auf den Weg zur Bühne. Neugierige und mitleidvolle Blicke begleiteten ihn, denn natürlich hatte sich sein Zustand mittlerweile herumgesprochen.

Der Intendant erwartete ihn auf der Bühne.

„Wird’s denn gehen?“ fragte er sorgenvoll.

„Ja, ich wüsste nicht, was ich jetzt lieber täte“ knurrte Vallier und machte eine abwehrend-beruhigende Handbewegung. Er versuchte, sich zu konzentrieren. Schließlich gab ihm die Inspizientin das Zeichen, dass es losgehen könne.

„Toi-toi-toi“ flüsterten ihm dutzende von Stimmen zu, als er sich auf den Weg zum Orchesterraum machte, nach wie vor begleitet und gestützt von der braven Garderobiere, der er, so nahm sich Vallier heftig vor, später unbedingt ein Dankesgeschenk machen musste.

Er blieb vor der Eingangstür zum Orchestergraben stehen. Dort wurde er von einem der Orchesterwarte erwartet, der durch den Türspalt in den Saal spähte. Sobald das Saallicht erloschen und erwartungsvolle Stille eingetreten war, öffnete er die Tür. Vallier gab sich einen Ruck und betrat den Orchesterraum. Applaus brandete auf. Er erklomm sein Podium, verneigte sich in Richtung Publikum, begrüßte den sorgenvoll dreinblickenden Konzertmeister mit Handschlag und ließ den Blick über sein Orchester gleiten. Für einen Augenblick vergaß er seine Übelkeit. Alle waren da. Er genoss jedes Mal diesen Anblick. Etwa 70 schwarz gekleidete Menschen – die Damen in langen Abendkleidern, die Herren in Fräcken wie er selber – blickten ihn tatendurstig an, willens, ihrem Beruf nachzugehen. So liebte er es. Die Musiker mussten – bildlich gesprochen – auf den Vorderkanten ihrer Sessel sitzen, bereit, das Beste zu geben. Nichts war im Moment wichtiger, als genau das, was jetzt geschehen würde.

Vallier hob den Taktstock und gab den Einsatz zur kurzen Ouvertüre. Während er dirigierte fühlte er, wie es ihm langsam besser ging. Sein Kreislauf begann wieder zu funktionieren. Die Ablenkung durch die Musik, die Konzentration auf und die Anstrengung durch das Dirigieren schienen ihm gut zu tun. Nach etwa fünfundzwanzig Minuten war er wieder fast der Alte: hochkonzentriert, schwungvoll, federnd und ganz bei der Sache. Einsätze gebend und mit der linken Hand die Lautstärke formend versuchte er, den großen musikalischen Bogen herzustellen, die Musik dadurch verstehbar zu machen, und mit den Sängern und Instrumentalsolisten zu atmen und dem Chor den Text vorzusprechen.

Auf der Bühne indes wurden die tragischen Liebesgeschichten Hoffmanns erzählt: seine Liebe zur unerreichbaren, pomphaften Opernsängerin Stella, zur anmutig-puppenhaften Olympia, zur schwindsüchtigen, fiebernden. Sängerin Antonia und zur Liebe heuchelnden Edelhure Giulietta. Der erste Teil des Abends ging mit dem Tod der durch Hoffmann und ihre tote Mutter zum Gesang verführten Antonia zu Ende. Heftiger Applaus setzte ein und während die Saallichter angingen, verließ Vallier sein Dirigentenpodium und begab sich in seine Garderobe.

Ein Blick in den Spiegel verriet ihm, dass es ihm tatsächlich wieder viel besser ging. Trotzdem fühlte er sich noch nicht hundertprozentig wieder hergestellt. Seine Hände zitterten nach wie vor, es war ihm immer noch ein wenig übel und er litt unter der großen Hitze. Vallier trank ein Glas Mineralwasser und aß noch ein Stück Schokolade, was ihm vorhin ganz offensichtlich gut getan hatte.

Der Intendant klopfte an die Tür und erkundigte sich nach seinem Befinden.

„Wir haben einen Ihrer Kollegen aus Karlsruhe aufgetrieben, der bereit wäre, für Sie jetzt weiter zu dirigieren“ sagte der Intendant. „Soll ich dies veranlassen?“

„War ich denn so schlecht? Aber nein, vielen Dank, das ist nicht nötig“, antwortete Vallier. „Ich fühle mich soweit ganz gut. Bitte richten Sie dem Kollegen meinen herzlichen Dank für das freundliche Angebot aus.“

Nach zwanzig Minuten, während derer mehrere Male Ensemblemitglieder an seine Tür geklopft hatten, um sich zu erkundigen, wie es ihm gehe, war die Pause zu Ende und es konnte weitergehen. Wieder wurde er mit lautem Beifall begrüßt, als er den Orchestergraben betrat. Die Hitze, die in dem Raum herrschte, war beinahe unerträglich. Er verbeugte sich, drehte sich zum Orchester um und machte beruhigende Gesten, als er die fragenden Blicke der Musiker bemerkte.

„Alles in Ordnung“ flüsterte er dem Konzertmeister zu. Der nickte beruhigt. Vallier hob den Stab und der zweite Teil begann.

Am Anfang lief alles bestens. Der sogenannte „Giulietta-Akt“ beginnt mit der berühmten Barkarole und spielt in Venedig. Gondeln waren auf der Bühne zu sehen, San Marco, die Rialto-Brücke. Die Solisten sangen und spielten, dass es eine Freude war, das Orchester musizierte engagiert, der Chor sang exakt und wohlklingend.

Kurz vor dem berühmten Septett gab es eine kurze Dialogpause. Vallier wischte sich mit seinem kleinen schwarzen Handtuch, welches zu seiner dirigentischen Grundausstattung gehörte, den Schweiß von der Stirn und blickte zufrieden in die Runde. Manche Musiker lächelten ihn an, manche wichen seinem Blick aus. Vallier seufzte. Es war ihm bewusst, dass die meisten Dirigenten bei den Chören und Orchestern nicht beliebt waren. Schließlich besteht die Aufgabe von Dirigenten unter anderem darin, erwachsene, eigensinnige und selbstbewusste Künstler auf einen Kurs zu bringen, was manchmal nicht ohne korrigierende Kritik abläuft. Dabei ist es ganz entscheidend, wie dies geschieht. Hier liegt viel Sprengstoff verborgen. Ein falsches Wort und die Chemie zwischen Dirigent und Ensemble ist vergiftet. Zu seinem großen Bedauern hatte auch Vallier auf diesem Gebiet immer wieder Federn lassen müssen, da half auch sein Sarkasmus nichts. Im Gegenteil, der wurde in solchen Situationen oft missverstanden.

Plötzlich sackte der Konzertmeister zur Seite und knallte mit voller Wucht zu Boden. Erschrocken sprangen ein paar Kollegen auf und eilten ihm zu Hilfe. In diesem Moment erklang auf der Bühne das Stichwort zur nächsten Musik. Vallier hob den Taktstock und gab den Einsatz. Die Musiker der hinteren Reihen, die nicht mitbekommen hatten, was geschehen war, folgten seinem Dirigat, die in den vorderen Reihen – hauptsächlich Musiker, die Streichinstrumente spielten – waren durch das Ereignis so geschockt und abgelenkt, dass sie den Einsatz verpassten. Einige setzten sich blitzschnell nieder, suchten in ihren Noten die richtige Stelle und begannen wieder zu musizieren.

Es klang jämmerlich. Vallier wäre am liebsten im Erdboden versunken. Gleichzeitig aber war er voller Sorge, was mit dem Konzertmeister geschehen war. Zwei Kollegen kümmerten sich um ihn, einer hatte das Handy gezückt und telefonierte.

Das Sängerensemble auf der Bühne kümmerte es offenbar nicht, was im Orchesterraum passierte. Die Vorstellung lief weiter, ungeachtet der falschen Töne, die aus dem Graben schallten.

Der Konzertmeister erwachte nun langsam aus seiner Ohnmacht. Obwohl Vallier sehr auf seine Aufgabe konzentriert war, konnte er aus den Augenwinkeln sehen, wie der Mann sich bewegte, sich auf den Rücken rollte, sich aufstützte und die Augen öffnete.

Das große Septett mit Chor steuerte auf den Höhepunkt zu: ein lange ausgehaltener strahlender Schlussakkord, auf den noch ein kurzer, trockener Orchesterschlag folgte, damit ging diese Szene fulminant zu Ende. Und noch ehe das Publikum auf die beeindruckende Musik durch Applaus hätte reagieren können, ertönte in die Stille hinein aus dem Mund des soeben erwachten Konzertmeisters ein gellendes, langgezogenes, verzweifeltes „AAAAH!!“

Das Publikum musste denken, dies gehöre zur Inszenierung. Die Spannung war geradezu körperlich zu spüren. Keine Hand rührte sich, alle warteten gespannt. Kollegen versuchten, den verstörten, völlig desorientiert um sich schlagenden Konzertmeister zu beruhigen.

Vallier hob geistesgegenwärtig seinen Stab und begann die nächste Musiknummer. Dabei handelte es sich um die sehr leise vorgetragene Melodie der Barkarole, in die verschiedene gesungene Textpassagen verwoben waren, begleitet durch ein paar schwebende Harfenakkorde. In diese zarte Musik ertönte zum zweiten Male des Konzertmeisters „AAAAAH!!!“, nur diesmal noch jämmerlicher, panischer, gellender. Die Solisten auf der Bühne sangen stoisch ihre Partien und ließen sich nicht aus der Ruhe bringen. Vallier liebte sie dafür.

Die Tür zum Orchesterraum wurde aufgerissen und die beiden Sanitäter traten ein. Überrascht erblickten sie den aufrecht auf seinem Podest stehenden Vallier, zogen ihre Achseln hoch und streckten die Arme, mit den Handflächen nach oben, von sich, was wohl heißen sollte: „Was ist denn los? Es geht Ihnen doch gut!?“.

Vallier machte Kopfbewegungen auf den links von ihm am Boden sitzenden, nach wie vor sich panisch gebärdenden Konzertmeister. Die beiden Sanitäter bahnten sich einen Weg durch die Reihen der ruhig musizierenden Orchestermusiker. Die Bodenbretter knarrten laut, einer der Beiden rempelte aus Versehen eine Cellistin an, die vor Schreck ihren Bogen scheppernd fallen ließ, der andere stieß heftig gegen ein Podest, stolperte polternd um ein Haar und fluchte leise.

Der Konzertmeister beruhigte sich gottlob langsam. Mühsam rappelte er sich mit Hilfe seiner beiden Kollegen hoch und verließ, von den Sanitätern gestützt, den Orchesterraum. Vallier war schon wieder schweißgebadet. Dies war wohl dem soeben erlebten brenzligen Ereignisses geschuldet, aber auch sicherlich der enormen Hitze, die im Orchesterraum herrschte. Wahrscheinlich war das der Grund für die Ohnmacht des Konzertmeisters gewesen.

Langsam ging die Vorstellung zu Ende. Vallier war’s schon wieder ein wenig mulmig zumute, aber vermutlich meldete sich bloß sein leerer Magen zu Wort.

Nach dem rauschenden Schlussapplaus für die Solisten, den Chor, das Orchester und auch für ihn persönlich eilte er in seine Garderobe und schälte sich aus dem klatschnassen Frack. Wie er das Ding hasste! Er musste sich endlich einmal ernsthaft beraten lassen, ob es denn nicht eine komfortablere Alternative gab. Dieses Kleidungsstück, in dem man wie ein Pinguin herumlief, war einfach nicht mehr zeitgemäß. Bei Routinevorstellungen trug er für gewöhnlich seinen Smoking, der war luftiger und bequemer, allerdings ebenfalls ziemlich altmodisch. Diesen Eindruck versuchte er aufzulockern, indem er allerlei bunte Fliegen dazu trug. Er hatte mittlerweile mehrere Dutzend zur Auswahl. Das Ensemble hatte seinen Hang zu den bunten Dingern längst erkannt und beschenkte ihn damit mit Vorliebe zu Premieren. Dies ließ sich Vallier gerne gefallen, obwohl es ihm jedes Mal ein wenig peinlich war, dass er dem allgemein verbreiteten Theaterbrauch des Sich-gegenseitig-Beschenkens zu Premieren nicht frönte, aber er konnte nicht jedes Mal das gesamte Ensemble beglücken.

Vallier suchte sein Handy und wählte die eingespeicherte Nummer seines Konzertmeisters. Wie erwartet hob niemand ab. Er vermutete, dass der Mann gerade im Krankenhaus behandelt wurde.

Nach einer ausgiebigen Dusche erneuerte er das Pflaster in seinem Gesicht, zog sich ein weißes Hemd an und band sich trotz der nach wie vor herrschenden Sommerschwüle eine Krawatte um. Als Hose wählte er die seines Smokings, den er ersatzweise neben seinem Frack bei Vorstellungen immer mit sich führte. Die freundliche Garderobiere hatte versprochen, sich um den Riss in seiner Alltagshose zu kümmern. Aber wahrscheinlich würde er sie erst morgen Abend wiederhaben können. Das war ihm egal, denn im Hotel hatte er natürlich noch ein paar Ersatzkleidungsstücke dabei.

Vallier hängte seinen Frack zum Auslüften an den Schrank. Morgen und übermorgen würden noch zwei Vorstellungen stattfinden. Er schlüpfte in sein Sakko und verließ die Garderobe. Eine solche Premiere hatte er wahrhaftig noch nie erlebt. Es wurde ihm schon wieder ganz anders, wenn er an seinen Unfall dachte, wenige Minuten vor der Premiere. Und dann die Sache mit dem Konzertmeister! Nein, so etwas durfte nicht wieder passieren!

Der Intendant hatte zu einer Premierenfeier im Foyer des Festspielhauses eingeladen. Vallier hatte selten Lust, solche Veranstaltungen zu besuchen, aber jemand in seiner Stellung musste sich dort – zumindest kurz – sehen lassen. Wie immer war die Räumlichkeit brechend voll. Prominenz – oder was sich dafür hielt – aus Politik, Wirtschaft und Verwaltung war anwesend, aber auch viele Menschen, die zuvor als normales Publikum die Aufführung miterlebt hatten.

Ein Fernsehteam arbeitete sich mit gleißenden Scheinwerfern durch die Menge. Die Reporterin führte kurze Interviews und das Catering-Personal bot auf Tabletts wahlweise Sekt oder Orangensaft, frisch gezapftes Bier, Wein oder Wasser an.

Als Vallier das Foyer betrat, brandete Applaus auf. Sofort stürzte sich das Fernsehteam auf ihn. Dies hasste er besonders. Unter normalen Umständen hatte er kein Problem, die rechten Worte zu finden. Aber in dieser Situation, wenn Scheinwerfer und Fernsehkameras auf ihn gerichtet waren und er – oft auch provozierend gestellte – Fragen zu beantworten hatte, verließen ihn oft seine Schlagfertigkeit und sein Hang zum Sarkasmus.

„Herr Vallier“ sagte die Reporterin. „Sie als Dirigent sind bei einer Opernvorstellung ja vom ersten bis zum letzten Moment dabei. Wird Ihnen denn nie langweilig dabei und wie fanden Sie die heutige Aufführung?“

„Äh, ja also“ stotterte Vallier, irritiert durch die beiden Fragen, die eigentlich nichts miteinander zu tun hatten. „Äh, nun, langweilig wird mir bei einer Aufführung eigentlich nie, dazu gibt es viel zu viel zu tun und dafür ist meine Aufgabe auch viel zu spannend. Und ja, ich von meiner Warte aus bin sehr zufrieden mit der Leistung von Chor, Orchester und Ensemble und hoffe, dass wir den Erwartungen dieses renommierten Hauses entsprechen konnten. Die Akustik ist ausgezeichnet und die Immobilie als solche ausgesprochen stilvoll und originell. Darüber hinaus...“

„Herr Vallier“ unterbrach ihn die Reporterin. „Wie geht es Ihrem Konzertmeister?“

Vallier wunderte sich. Woher wusste sie das denn schon wieder?

„Er wird meines Wissens gerade jetzt im Krankenhaus durchgecheckt. Ich hoffe, sein Schwächeanfall ist lediglich auf die große Hitze zurück zu führen, die im Orchestergraben herrschte. Ich wünsche ihm von dieser Stelle aus herzlich gute Besserung.“

„Herr Vallier, vielen Dank für dieses Gespräch und noch viel Erfolg für die weiteren Aufführungen.“

Vallier bedankte sich artig und verabschiedete sich.

Na bitte, das war doch ganz gut gegangen. Keine provokanten Fragen, kein peinliches Herumstottern seinerseits. Oder war die erste Doppelfrage doch als Provokation gemeint? Hatte die Reporterin die Aufführung gar langweilig gefunden? Vorausgesetzt, sie hatte sie überhaupt gesehen. Na egal jetzt, er fand, er hatte sich passabel geschlagen. Er nahm ein Glas Mineralwasser von einem Tablett und trank es leer.

Der Intendant schlug mit einem Löffel an ein Glas. Bevor er das Büffet eröffnete, würde er eine – hoffentlich kurze – Rede halten und sich beim Publikum und bei den Künstlern bedanken. Diese waren mittlerweile alle eingetroffen, manche von ihnen beklatscht wie Vallier zuvor.

Der Intendant redete lange. Er sprach über die Entwicklung der deutschen Theaterlandschaft im Allgemeinen und die Entwicklung des Baden-Badener Festspielhauses im Besonderen. Er gab einen Rückblick über die bald zu Ende gehende Spielzeit und einen Ausblick auf die kommende Saison, wobei er zum Ausdruck brachte, wie sehr er sich freue, in etwa einem Jahr Valliers Ensemble aufs Neue begrüßen zu dürfen. Die Leute applaudierten, worauf der Intendant begann, die Sänger der heutigen Premiere einzeln vorzustellen. Die Zeremonie nahm kein Ende und Vallier spürte, wie ihm schwindlig wurde. Er musste nach all dem Erlebten dringendst etwas essen, sonst würde ihm bald wieder schlecht werden. Gerade wurde der Sopranistin applaudiert. Jetzt würde er gleich an der Reihe sein.

In dem Moment wurde ihm schwarz vor Augen und er fiel wie ein Stein zu Boden.

Der Klangwandler

Подняться наверх