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2. SPEISEFOLGEN

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Als er – zum dritten Mal an diesem Tag – aus seiner Ohnmacht erwachte, lag er in einem Krankenhausbett. In seiner Armbeuge steckte eine Nadel, die aus einem durchsichtigen Nylonbeutel eine klare Flüssigkeit in seinen Blutkreislauf tropfen ließ. Er drehte den Kopf und sah in die Augen seines Konzertmeisters, der sich im Nachbarbett in genau derselben Situation befand, wie er selbst.

„Ah, Herr Vallier“ sagte sein Kollege. „Gott sei Dank sind Sie wieder wach. Wie geht es Ihnen denn?“

Vallier wusste nicht genau, wie er auf diese Frage antworten sollte. Es war ihm leicht übel und er hatte starke Kopfschmerzen. Langsam wurde ihm bewusst, dass er einen Kopfverband trug.

Die Tür ging auf und ein junger, schneidiger Arzt im weißen Kittel trat ein.

„Na, da sind Sie ja wieder“ sagte der Arzt. „Wie fühlen Sie sich?“

„Danke, ich kann nicht klagen, es könnte nicht besser sein, geradezu zum Bäume ausreißen“ grummelte Vallier. „Was ist passiert?“

„Na, Ihren Humor haben Sie jedenfalls wieder, das ist schön“ meinte der Doktor. „Sie sind mitten in Ihrer Premierenfeier ohnmächtig geworden und dabei mit dem Kopf gegen einen Stuhl geknallt. Der Krankenwagen hat Sie hierher gebracht. Sie waren etwa zwei Stunden bewusstlos.“

Zwei Stunden! Vallier konnte es nicht fassen.

„Wir müssen Sie – übrigens auch Ihren Kollegen – über Nacht hierbehalten“ fuhr der Arzt fort und fühlte nach Valliers Puls. „Morgen früh werden wir Ihren Kopf röntgen, Sie haben eine mächtige Beule auf der Stirn. Das soll Ihnen heute ja schon einmal passiert sein. Ein richtiger Unglückstag für Sie beide! Dabei soll es eine großartige Aufführung gewesen sein, wie man mir erzählt hat. Sollten Sie etwas brauchen, dann läuten Sie bitte. Die Klingeln befinden sich seitwärts an den Nachttischen. Die Schwester wird dann gleich kommen. Gute Nacht.“

Vallier wurde langsam bewusst, was geschehen sein mochte. Er war also mitten unter all den Leuten vor laufender Fernsehkamera ohnmächtig geworden. Na toll! Wahrscheinlich würde er sich morgen im Fernsehen bewundern können. Wenn das so war, dann aber bitte mindestens in der Tagesschau oder am liebsten gleich weltweit auf CNN.

Der Arzt hatte recht: was für ein Unglückstag! Allerdings hatte wenigstens die Aufführung recht gut geklappt, da konnte er wirklich stolz und zufrieden sein.

Vallier richtete sich vorsichtig auf und spähte zu seinem Konzertmeister, der ruhig atmend mit geschlossenen Augen auf seinem Krankenlager lag.

„Ist alles in Ordnung mit Ihnen, Herr Matic?“ fragte Vallier.

Aber der antwortete nicht, offensichtlich schlief er tief und fest. Das versuchte Vallier ihm nachzumachen, was jedoch misslang. Aber schließlich überwältigte ihn seine Erschöpfung und er schlief ein.

Frühmorgens wurde er geröntgt und gegen Tetanus geimpft, wozu er überredet werden musste, denn er ließ sich nicht gerne stechen. Nach einer eingehenden Untersuchung wurde er aus dem Krankenhaus entlassen, auch der Konzertmeister durfte gehen.

Vallier ließ ein Taxi kommen und sie fuhren gemeinsam ins Hotel, wo der größte Teil des Ensembles und des Orchesters untergebracht war. Es war noch relativ früh am Vormittag und die meisten Sänger und Musiker befanden sich im Frühstücksraum, wo sie das exzellente Buffet genossen. Beim Eintreten wurden sie mit heftigem Applaus bedacht. Vallier setzte sich an einen freien Tisch. Gefrühstückt hatte er allerdings schon im Krankenhaus. Er wollte seinen Magen schonen und nippte an einer Tasse Tee.

Nachdem er alle Fragen nach seinem Gesundheitszustand beantwortet hatte, stand er auf, um sein Zimmer aufzusuchen, welches er am Tag zuvor bezogen hatte. Er ging zur Hotelrezeption, verlangte nach seinem Schlüssel und kaufte die örtliche Tageszeitung. Vielleicht war bereits eine Kritik erschienen. Vallier gehörte nicht zu den Kollegen, die behaupteten, sie würden keine Kritiken lesen. Er las so gut wie alle Besprechungen, nicht nur jene, in denen er selbst erwähnt wurde. Er fand es einfach interessant, was in der Musik-und Theaterwelt vor sich ging und versuchte deshalb, sich mit der Lektüre von Zeitungsbesprechungen auf dem Laufenden zu halten.

Als Vallier sein Zimmer betreten hatte, nahm er eine ausgiebige Dusche, die er nach all der erlittenen Hitze sehr genoss. Schließlich schmiss er sich in den Hotel-eigenen Bademantel, setzte sich in den gemütlichen Polstersessel und suchte in der Zeitung nach einer Kritik.

Hier! Vallier las stirnrunzelnd den Artikel und es traf ihn fast der Schlag. Einen solchen Verriss hatte er überhaupt noch nie gelesen. Da blieb einem wirklich die Spucke weg! Die Schreiberin – eine Frau Dr. Inga Martens – betitelte die Kritik mit GRÖBER GEHT’S NIMMER. Es folgte eine akribische Aufzählung aller Sänger und Sängerinnen der Hauptrollen. Niemand hatte Gnade vor dem grimmigen Kritikerinnenurteil gefunden, besonders die Hauptdarstellerin, welche die vier Frauenrollen Stella, Olympia, Antonia und Giulietta gestern Abend mit Bravour, Souveränität und Wohlklang gesungen hatte, wurde mit Häme überschüttet.

Sein Dirigat wurde als „grobschlächtig“, „unsensibel“ und „großspurig“ – was auch immer dies bedeuten mochte – bezeichnet, seine Tempowahl sei auf der einen Seite „hektisch“, auf der anderen wiederum „einschläfernd“ gewesen. Außerdem sei es ihm nicht gelungen, den „hölzern singenden, wackeligen“ Chor zusammen zu halten. Das Orchester sei mehrere Male kurz davor gewesen, auseinander zu fallen und hätte ansonsten „lustlos und unmotiviert“ gespielt und „unprofessionellen Lärm an intimen und leisen Stellen“ verursacht. Die Regie hätte vor peinlichen, klamottenartigen Konventionen nur so gestrotzt. Lediglich der Einfall, den Höhepunkt des Septetts im zweiten Akt mit einem markerschütternden Schmerzensschrei einer gepeinigten Seele abzuschließen, hätte einen gewissen Tiefgang spüren lassen. Leider sei diese Idee nicht weitergeführt worden. Kurz: der Intendant solle sich gut überlegen, ob seine Entscheidung, diese „Operntruppe“ in einem Jahr wieder an das Festspielhaus einzuladen, richtig gewesen sei. Schon öfter hätte er keine gute Nase bei seinen Gastspiel-Einladungen bewiesen.

Vallier legte die Zeitung aus der Hand. Er war wie vom Donner gerührt. Also, das war ja wirklich eine Unverschämtheit! Trotzdem musste er ein wenig schmunzeln, als er daran dachte, in welcher Weise die Schreie des armen Konzertmeisters in die Kritikermeinung eingeflossen waren.

Er nahm den Telefonhörer ab, rief die Rezeption an und ließ sich die Zimmernummern der Sopranistin und des Tenors geben. Beiden versicherte er seine hundertprozentige Wertschätzung und riet ihnen nachdrücklich, diese unqualifizierte Kritik nicht ernst zu nehmen. Die beiden freuten sich hörbar über seine Worte, denn natürlich hatten sie den Artikel bereits gelesen und waren dementsprechend geknickt. Die anderen Sänger, den Chor- und den Orchestervorstand würde er heute Abend vor der Vorstellung ansprechen und sie seiner Loyalität versichern.

Kaum hatte er aufgelegt, als sein Handy klingelte. Der Intendant war dran.

„Diese Zeitungsschreiberin versucht seit etwa zwei Jahren, mich los zu werden“ sagte er. „Machen Sie sich nichts aus der Kritik. Sie ist weder gegen Sie noch Ihr Ensemble gerichtet, sondern gegen mich. Ich habe schon oft versucht, mich beim Chefredakteur zu beschweren, aber der beruft sich natürlich auf die Pressefreiheit. Sie werden sehen, die anderen Kritiken werden positiv sein, und das zu recht, denn es war ein grandioser Abend gestern. Eine andere Besprechung ist bereits erschienen. Soll ich sie Ihnen vorlesen?“

Vallier verneinte und bedankte sich für die klärenden Worte. Er verabschiedete sich und legte auf. Auf einmal war er entsetzlich müde. Er legte sich aufs Bett und aktivierte das Fernsehgerät. Gelangweilt zappte er durch die Programme.

Plötzlich sah er sich, wie er am Boden lag. Neben ihm knieten ein paar Menschen, einige beugten sich neugierig über ihn. Aus dem Off erklang die Stimme der Reporterin: „Zu einem dramatischen Zwischenfall kam es gestern Abend bei der Premierenfeier zu Jacques Offenbachs Oper Hoffmanns Erzählungen im Foyer des Festspielhauses. Der Dirigent der Aufführung, Robert Giselher Vallier, brach während der Rede des Festspielhaus-Intendanten plötzlich zusammen. Es wird vermutet, dass die Anstrengung des Dirigierens in Kombination mit der gestrigen großen Hitze zu diesem Schwächeanfall geführt haben. Bereits zuvor hatte der Konzertmeister des Orchesters während der Vorstellung das Bewusstsein verloren. Beide wurden sofort ins städtische Krankenhaus eingeliefert. Die Intendanz des Festspielhauses konnte zum jetzigen Zeitpunkt noch keine Auskunft darüber geben, ob der Dirigent die beiden Folgevorstellungen heute und morgen wird leiten können. Im negativen Falle ist für einen Ersatz gesorgt, sodass die Aufführungen in jedem Falle stattfinden werden. Kenner der Musikgeschichte mögen sich an manche seltsame Begebenheit erinnert fühlen, die sich seit jeher um die Aufführungen der Offenbach-Oper ereignet haben.“

So, Vallier reichte es jetzt. Er konnte von all dem nichts mehr hören. Zu allem Überfluss kam die Fernsehfrau nun auch noch mit dieser ollen Kamelle des angeblichen Fluchs daher, der über Hoffmanns Erzählungen schweben sollte. Dummes Zeug! Gut, das Wiener Ringtheater war 1881 bei der deutschsprachigen Erstaufführung des Werkes bis auf die Grundmauern abgebrannt. Mehrere hundert Tote waren damals zu beklagen gewesen. Und die Pariser opera comique ereilte bei einer Hoffmann-Aufführung 1887 ein ähnliches Schicksal. Seither waren unter den abergläubischen Theaterleuten immer wieder Gerüchte zu vernehmen, dass es bei einem Werk, in dem in nahezu jeder Szene der Satan sein dämonisches Handwerk treibe, nicht verwunderlich sei, wenn solche Dinge geschähen. Vallier glaubte kein Wort von all diesen Hirngespinsten. In welchem Jahrhundert lebten sie denn?

Er schaltete das Fernsehgerät aus, kramte ein Buch aus seinem Koffer, las ein wenig und nickte ein.

Nach zwei Stunden erwachte er und sah auf die Uhr. Fast halb eins! Er erhob sich schwungvoll, ging ins Bad, machte sich frisch und verließ sein Zimmer. Um siebzehn Uhr hatte er in seiner Garderobe im Festspielhaus ein Treffen mit einigen Leuten aus seinem Orchester, dem sogenannten Orchestervorstand, der sich aus sechs Personen zusammensetzte. Es gab immer etwas zu besprechen, organisatorische und künstlerische Dinge. Oft musste Vallier aber auch zwischen den Musikern schlichten. Wenn man jahrelang, oft gar jahrzehntelang nebeneinander sitzend seine Arbeit tat, konnte man sich ganz gehörig auf die Nerven gehen.

Das wusste Vallier und trachtete danach, mit Fingerspitzengefühl und aller gebotenen Rücksichtsnahme anfallende Streitereien und Missverständnisse zu entspannen. Manchmal aber half alles nichts: er musste versuchen, durch eine Anweisung eines Problems Herr zu werden. Dabei war es schon vorgekommen, dass er wider seiner eigenen Überzeugung und Einschätzung eine Einzelperson vor den Kopf stoßen musste, dadurch aber die kollektive Ruhe wieder herstellen konnte.

So zum Beispiel wollte vor ein paar Monaten eine Bratschistin zum wiederholten Male mitten in der Spielzeit Urlaub haben. In einem solchen Fall übernahmen für gewöhnlich die Kollegen und Kolleginnen innerhalb der Gruppe die Dienste des abwesenden Musikers im Rotationsprinzip, was für den Einzelnen allerdings ein gewisses Maß an Mehrarbeit bedeutete. Wenn dies aber oft vorkam und die Angabe des Grundes, weshalb der Urlaub vonnöten sei nicht von allen nachvollzogen werden konnte, wurde es schwierig. Wenn darüber hinaus die betreffende Person auch sonst im Alltag nicht gerade ein kollegiales Verhalten zeigte, kochte die Musikerseele hoch und es bildete sich Opposition, in diesem konkreten Fall gegen die Musikerin.

Diesmal gab die rumänische Bratschistin die Hochzeit ihres Bruders als Grund für ihr Urlaubsgesuch an. Sie argumentierte, sie hätte ihren Bruder vor fünf Jahren das letzte Mal gesehen und wolle deshalb unbedingt an diesem Ereignis teilnehmen. Außerdem wäre ihre Mutter sterbenskrank und man wisse nicht, wie lange sie noch zu leben habe. Vallier wäre bereit gewesen, ihr auch diesen Urlaub zu gewähren, aber die Kollegin war innerhalb ihrer Gruppe unbeliebt. Außerdem glaubte man ihr die Begründung von der sterbenden Mutter nicht, denn genau dieses Argument hatte sie vor etwa drei Monaten schon einmal ins Felde geführt. Damals hatte sie ihren Urlaub telefonisch aus ihrer rumänischen Heimat von sich aus verlängert und war einfach nicht zum abgesprochenen Datum zurück gekehrt, was zu einem Eintrag in ihrer Personalakte geführt hatte. Jetzt hatten die Kollegen und Kolleginnen keine Lust mehr, ihre Dienste zu übernehmen.

Valliers Anweisung lautete ganz klar, dass zu jeder Vorstellung jede Gruppe in der festgelegten Musikerzahl zu spielen hatte. Und nur in Notfällen akzeptierte er Aushilfen aus anderen Orchestern oder der freien Musikerszene, denn diese mochten zwar exzellente Musiker sein, aber sie hatten in der Regel die Proben nicht mitgemacht und waren deshalb immer ein Risikofaktor.

Nachdem die Gruppenkollegen der rumänischen Bratschistin diesmal nicht bereit waren, deren Dienste mit zu übernehmen und Vallier auf die Erfüllung seiner Anordnungen bestand - denn immer ging ihm die Qualität der Aufführungen und Konzerte vor privaten Angelegenheiten, mochten diese auch noch so nachvollziehbar sein - wuchs sich dies zu einem leibhaftigen Konflikt aus. Und Vallier hatte wieder einmal den Schwarzen Peter, denn letztendlich war es seine Entscheidung, der Bratschistin den Urlaub zu gewähren oder nicht.

Er hatte zwar einen Etat zur Verfügung, um – etwa im Krankheitsfalle - Aushilfsmusiker zu engagieren, aber er musste natürlich sparsam und gewissenhaft mit dieser seit Jahren immer weiter gekürzten Geldsumme umgehen, denn die Saison war noch lang und wer konnte schon wissen, was die Spielzeit noch alles mit sich brachte. Unbedingt wollte er vermeiden, zum Saisonende Vorstellungen mit reduziertem Orchester dirigieren zu müssen, bloß weil er mit dem Aushilfsetat zu sorglos umgegangen war. Die Gruppe der Bratschisten anzuweisen, die Dienste der Kollegin mit zu übernehmen, wäre höchst unklug gewesen, weil das unweigerlich zur Konfrontation zwischen ihm und dem Orchester geführt hätte. Außerdem entzog sich dies sowieso seiner Befugnis, denn die meisten Orchester verwalteten sich in Teilen selbst und dazu gehörten auch die Diensteinteilungen innerhalb jeder Gruppe.

Seinen Aushilfsetat wollte er in diesem Falle aber nicht anzapfen. Neben künstlerischen Gründen lag dies daran, weil es Konsens zwischen ihm und seinem Verwaltungsdirektor war, diese Geldsumme tatsächlich nur im Krankheitsfalle oder anderen schwerwiegenden Ausnahmesituationen einzusetzen. Auch wollte er sich in den Augen des Orchesters nicht zum Komplizen der rumänischen Bratschistin machen.

Also entschloss sich Vallier, der Musikerin den Urlaub zu verweigern, innerlich ein wenig den Kopf schüttelnd über die Unkollegialität der Bratschengruppe. Er lud die rumänische Bratschistin und den Orchestervorstand in sein Arbeitszimmer ein und verkündete seine Entscheidung.

Die Reaktion der Musikerin war offensichtliche maßlose Enttäuschung und sie brach in Tränen aus. Sie tat Vallier leid, aber er hatte seine Entscheidung getroffen. Also beendete er diese für alle Anwesenden unerfreuliche Situation und komplimentierte die Musiker aus seinem Zimmer.

Abends vor der Vorstellung klingelte sein Telefon. Die Bratschistin bat ihn flehentlich, seine Entscheidung zu revidieren. Sie habe gerade mit ihrem Bruder telefoniert, ihrer Mutter gehe es wirklich sehr schlecht und es sei das Schlimmste zu befürchten. Vallier hatte diesen Anruf schon erwartet, denn die Musikerin war bekannt dafür, dass sie nicht locker ließ und alles dafür tat, um sich durchzusetzen.

„Frau Radulescu“, sagte er. „ich habe wirklich volles Verständnis für ihre Situation. Aber ich bitte Sie, auch mich zu verstehen. Ihre Kollegen wollen Ihre Dienste nicht übernehmen. Weshalb das so ist, entzieht sich meiner Kenntnis. Jedoch hat dies zur Konsequenz, dass ich Ihnen diesen Urlaub nicht geben kann. Die Aushilfsregel tritt in diesem Fall nicht in Kraft. Bitte einigen Sie sich mit ihrer Gruppe, dann gebe ich Ihnen den Urlaub. Mehr habe ich dazu nicht zu sagen. Jetzt machen Sie es uns beiden nicht so schwer.“

Die Musikerin hörte nicht auf zu bitten und zu flehen. Wieder begann sie zu schluchzen und steigerte sich so in die Sache hinein, dass ihr die Stimme versagte. Gott sei Dank rückte der Vorstellungsbeginn näher und Vallier hatte somit einen Grund, das Gespräch zu beenden.

Von da an war Vallier Luft für die Bratschistin. Sie grüßte ihn nicht mehr und wich seinem Blick aus. Sie saß mit versteinertem Gesicht auf ihrem Sessel und verrichtete ihre Arbeit. Ab sofort sprach sie auch kein Wort mehr mit ihren Kollegen, kam im allerletzten Moment zum Dienst und verließ unmittelbar nach Dienstende das Theatergebäude.

Drei Wochen später starb die Mutter der Musikerin tatsächlich. Vallier griff in seinen Aushilfsetat-Topf und akzeptierte in diesem Fall Musiker aus anderen Orchestern als Aushilfe.

Trotzdem blieb die Bratschistin unversöhnlich, grüßte niemanden, sprach zu niemandem und verrichtete mit regungslosem Gesichtsausdruck ihre Arbeit. Das hielt jetzt schon mindestens sechs Monate an. Vallier war es unbegreiflich, wie sie über einen so langen Zeitraum hinweg ihre Unversöhnlichkeit aufrecht erhalten konnte. So weit er wusste, wohnte sie alleine, ohne Partnerschaft. Hatte die Frau überhaupt Spaß am Leben? Gab es Freude, gute Laune, Fröhlichkeit und andere Dinge für sie, die das Dasein lebenswert machten?

Vallier seufzte. Ähnliche Dinge waren ihm das ein oder andere Mal schon untergekommen, aber in dieser Konsequenz noch nie. Er hoffte, dass die Zeit diese Wunde heilte. Und solange die Frau ihre Arbeit gut tat – und dies war der Fall, denn sie war eine ausgezeichnete Musikerin – konnte und wollte er nichts gegen ihr Verhalten unternehmen.

Jetzt streifte Vallier durch die Baden-Badener Fußgängerzone. Es fiel ihm die überdurchschnittliche Präsenz von Mode- und Schmuck-Edellabels auf, die in ihren Filialen beeindruckende Exemplare ihrer Kollektionen darboten. Und noch etwas fiel ihm auf: nahezu sämtliche Werbeschriften waren auch in russischer Sprache verfasst. Und er konnte jede Menge auffällig gekleidete und übertrieben zurechtgemachte Damen entdecken sowie Herren mit gegelten schwarzen Haaren, dicken Markensonnenbrillen, auffälligen, offensichtlich teuren Uhren und protzigen Ringen, manche sogar mit mehreren davon.

Vallier hatte Hunger und suchte ein Restaurant. Bis spät abends nach der Vorstellung würde er außer einem Stück Obst nichts mehr zu sich nehmen. Das war zwar ungesund, aber es war ihm unmöglich, mit vollem Magen zu dirigieren und somit nun einmal nicht zu ändern.

Er fand ein sehr gut aussehendes italienisches Restaurant und bestellte eines seiner Leibgerichte, Risotto Frutti di Mare. Gerne hätte er ein Glas kühlen trockenen Weißwein dazu getrunken, aber er hatte sich Alkoholverbot auferlegt, wenn er abends dirigierte. Ersatzweise tat es ein Mineralwasser mit einem Stückchen Zitrone auch, gleichwohl bedauerte er seinen Verzicht.

Vallier liebte gutes Essen. In seiner Freizeit war er ein leidenschaftlicher Koch. Besonders die andalusische, italienische und österreichische Küche hatten es ihm angetan. Er investierte viel Zeit und Geld in sein Hobby. Wenn er abends Gäste hatte, schmökerte er schon Tage vorher in seinen zahlreichen, prächtig illustrierten Kochbüchern. Wenn er sich für eine Speisenfolge entschieden hatte, streifte er begeistert durch die Wochenmärkte seines Wohnortes, kaufte frisches Gemüse, knackige bunte Salate, edles, gut abgehangenes Fleisch und fangfrischen Fisch, denn er bemühte sich um ein sehr abwechslungsreiches Menü.

Sorgfältig stellte er die richtige Weinfolge zusammen, machte sich Gedanken um den passenden Aperitif, stellte vorsorglich ein paar Flaschen Bier in den Kühlschrank und war so gut wie den ganzen Tag mit den Vorbereitungen zu seinem Menü beschäftigt. Dies machte ihm immensen Spaß und bot ihm die beste Gelegenheit, von seinem Beruf auszuspannen.

Dabei waren zwei Dinge für ein Gelingen seines Kochvergnügens unabdingbar. Erstens begann jedes seiner Rezepte mit der hochwichtigen - natürlich nicht ernst gemeinten - Empfehlung: „Man gieße ein großes Glas Rotwein in den Koch.“ Und zweitens legte Vallier allergrößten Wert auf die ausgezeichnete Qualität der Kochzutaten, wobei an allererster Stelle die Wahl eines hervorragenden Olivenöles stand. Wenn sein großer Hund, eine prachtvolle Schweizer Sennenhündin, ihn von ihrem Plätzchen aus höchst interessiert bei seinem Tun beobachtete, aus dem Radio klassische Musik oder eine interessante politische Diskussion drang, er an einem Glas köstlichen Rotwein nippte und die Speisen um ihn herum köchelten, schmorten und brutzelten, war er nahe dem Zustand, der allgemein als Glück bezeichnet wird.

Typische Menüzusammenstellungen waren etwa: österreichische Milzschnitten - ersatzweise Griesnockerln - in selbstgemachter, doppelt eingekochter Rinderbrühe, Tafelspitz mit Blattspinat und warmem Apfelkren und als Nachtisch je nach Saison Vanilleeis mit Pfeffer-Cognac-Sauce oder frische Erdbeeren mit einer Creme aus frischen Vanilleschoten, Magerquark und einem kleinen Schuss Himbeergeist. Viel Erfolg hatte er jedes Mal auch mit seiner Biskuit-Marillen-Torte mit gehackten Pistazien. Dazu kredenzte er zu Beginn einen kühlen niederösterreichischen Roten Veltliner – trotz des Namens eine fruchtige, leichte, trockene Weißweinsorte -, zum Hauptgang einen trockenen, leicht gekühlten Zweigelt aus der Steiermark und rundete die Weinpaillette mit einem kräftigen St. Laurent aus dem Burgenland ab. Bei Bedarf servierte er als Digestif Wachauer Zwetschgenwasser oder einen ungarischen Barack. Wahlweise mischte er einen der Schnäpse auch einer Tasse Mokka bei und krönte diese Kombination mit einer Haube Sahne, die nicht verrührt und das Getränk somit durch die Sahnehaube getrunken wurde. In Österreich wird diese Spezialität „Fiaker“ genannt.

Entschloss er sich, andalusisch zu kochen, begann er gerne mit einer kalten Tomatensuppe, der er gekochte Eierscheiben hinzufügte und sie dann mit Serranoschinkenstreifen belegte. Im Herbst wählte er oft eine Kokos-Kürbiscremesuppe nach einem besonderen Rezept aus Sevilla oder eine weiße Mandelsuppe mit Knoblauch und süßen weißen Trauben. Dann ließ er Schweinemedaillons in Zimtsauce folgen. Dazu reichte er grüne Bandnundeln, die er, wenn Zeit war, selber herstellte. Hatte er sich vorgenommen, als Hauptgang Fisch zu servieren, fiel seine Rezeptwahl vorzugsweise auf gebackene Doraden in Zitronen-Sherry-Sauce mit in einem Teig aus Mehl, Orangenblütenhonig und Safran gewälzten frittierten Auberginenscheiben. Gerne beschloss er das Menü mit einem Melonen-Mango-Sorbet oder dünnen Pfannkuchen mit Kastanienpüree und Brandy. Dazu die passenden Weine: Als Aperitif bot sich ein Gläschen trockener Sherry an, wahlweise auch ein kleines Glas Portwein. Zur Suppe kredenzte er einen leichten weißen Malaga noble, zum Fisch-Hauptgang einen etwas kräftigeren Garnacha Blanca oder zum Fleisch einen im Eichenfass gereiften Tempranillo. Zum Dessert entkorkte er eine andalusische Spezialität, den schweren Lagrimae Christi, einen herrlichen roten Malagawein, der halbtrocken ausgebaut wurde und eine echte Rarität war. Bei den allermeisten spanischen Rotweinen war zu beachten, dass sie leicht gekühlt serviert werden mussten, denn die vielbeschworene „Zimmertemperatur“, wie sie Weinkenner von Rotweinen einfordern, bedeutete je nach Lage und Rebe eine Temperatur zwischen vierzehn und achtzehn Grad und in keinem Falle die in Mitteleuropa üblichen zwanzig bis zweiundzwanzig Grad Celsius. Die Temperatur war entscheidend für den Wohlgeschmack des Weines, neben dem Umstand, dass ein Wein atmen und deshalb etwa eine Stunde vor dem Genuss dekantiert werden musste.

Sein italienisches Menü begann mit warmem Ziegenweichkäse auf kurz in Olivenöl gebratenen Zucchinischeiben, überträufelt mit Ahornsirup oder ersatzweise einer Vinaigrette aus dünnflüssigem Lavendelblütenhonig, Balsamicocreme und einem Schuss italienischem Mokka. Es folgte ein Gericht, welches zu Valliers absoluten Lieblingen unter den italienischen Rezepten zählte: die wunderbare sizilianische Pasta con le sarde. Dabei verursachte die Kombination aus frischen Sardinen, Fenchel, Pinienkernen und in süßem Weißwein eingelegten Sultaninen eine Geschmacksexplosion im Mund, die ihm manchmal die Tränen in die Augen trieb. Ab und an hatte er auch schon sein exzellentes Safran-Risotto mit frischen Frutti di Mare zubereitet. Als Dessert reichte er gerne Kastanienpüree mit heißen Himbeeren und Sahne oder die köstliche Gefrorene Kaffeecreme aus Kampanien. Und die Weine: einen sehr kalten, leichten und trockenen Orvieto oder Frascati zur Vorspeise sowie einen samtigen, dunkelroten toscanischen Brunello zum Hauptgang. Bei besonderen Anlässen spendierte Vallier auch einen seiner edlen Barolo-Weine. Zum Dessert schließlich bot er einen schweren, goldgelb leuchtenden Muskateller aus dem Aosta-Tal an. Als Digestif servierte er ein Gläschen Grappa, wovon er mehrere Sorten besaß oder einen flambierten Sambuca mit frischer Kaffeebohne.

Die Zubereitung der Desserts zu all diesen Menüfolgen delegierte er allerdings gerne an seine Ehefrau Ingrid, mit er seit fast zwanzig Jahren verheiratet war. Die Beiden gaben mittlerweile ein ideales Team in vielen Bereichen des praktischen Lebens ab: die Sorge um die Kinder, Behördengänge, berufliche Angelegenheiten und die Haushaltsführung wurden, wenn es irgendwie möglich war, gleichberechtigt aufgeteilt. Ansonsten führte jeder von ihnen ein völlig autonomes Leben. Aber sie versuchten, so viele schöne Dinge wie möglich gemeinsam zu verbringen. Der jährliche Urlaub war zu einem absoluten Pflichttermin geworden und wurde vorzugsweise im Mittelmeerraum und in ihrem Ferienhaus in den österreichischen Alpen verbracht.

Seine Frau war in ihrem Beruf als Kinderärztin sehr engagiert. Sie führte mit einem Kollegen eine Gemeinschaftspraxis, machte Hausbesuche und schrieb Beurteilungen und Expertisen für Behörden und Pharmabetriebe. Durch die starke Beanspruchung durch ihre Berufe musste das Leben des Ehepaares bis ins letzte Detail geregelt sein und Valliers ungewöhnliche Arbeitszeiten oft bis spät nachts, manchmal an sieben Tagen in der Woche, ließen nicht viel gemeinsam zu verbringende Zeit zu, von gemeinsamer Freizeit ganz zu schweigen.

Jetzt bestellte sich Vallier Kaffee zum Nachtisch. Ach ja, gutes Essen! Er musste schmunzeln, wenn er an manch kulinarisches Erlebnis dachte, welches er mit Ingrid schon hatte genießen dürfen. Er erinnerte sich zum Beispiel an einen Restaurantbesuch in New York in einem Lokal, welches er bereits von einem früheren Aufenthalt kannte. Dieses war berühmt – und dementsprechend stark frequentiert – wegen seiner schier unglaublichen Steaks, die alles Dagewesene, was Vallier diesbezüglich jemals erlebt hatte, übertrafen. Sagenhaft wohlschmeckend und butterweich, mit zarter Fettmaserung und daumendick wiesen sie die Größe von mittleren Wagenrädern auf. Man fühlte sich an Dalis berühmte zerfließende Zeituhr erinnert, wenn man sah, wie das Steak weit über den Tellerrand lappte. Dieser Anblick ließ jedem begeisterten Fleischliebhaber das Wasser im Mund zusammen fließen.

Selten hatte er ein solch fassungsloses Gesicht wie jenes seiner Gattin gesehen, als sie dieses Riesensteaks zum ersten Mal gewahr wurde. Trotz bester Vorsätze hatte sie nicht geschafft, dem Megateil zur Gänze Herr zu werden. Zum Schluss schwächelte sie stark und ließ einen Teil bedauernd auf dem Teller zurück.

Vallier bezahlte und verließ das italienische Restaurant. Er spazierte nun ein bisschen durch den Stadtpark und kaufte sich an einem Obststand zwei Bananen und ein paar Aprikosen – Marillen, wie man in seiner österreichischen Heimat sagte. Dann erstand er an einem Kiosk noch zwei weitere Tageszeitungen und schlenderte langsam zum Hotel zurück. Er war etwas müde, der gestrige Tag und die im Krankenhaus verbrachte Nacht steckten wohl noch in seinen Knochen.

Im Hotel legte er sich ins Bett und blätterte in den Zeitungen. In einer der beiden stand eine exzellente Kritik über die gestrige Aufführung. So gut wie alles wurde gelobt, Sänger, Orchester, Dirigent. Lediglich die Regie stieß teilweise auf Einwände, aber im Großen und Ganzen kam auch diese gut weg. Es war ganz normal, dass Kritiker unterschiedlicher Meinung über Regisseure und deren Eingebungen waren. Vallier selbst war die Hoffmann- Inszenierung ein wenig zu bieder, zu konventionell und ohne Überraschungen. Aber wenigstens war die Geschichte schlüssig erzählt und Sänger und Chor waren gut geführt. Der Mann hatte sein Handwerk verstanden und das war mehr, als man über viele Regisseure sagen konnte. Was die Ästhetik anbelangte, waren die Geschmäcker ja bekanntlich verschieden. Vallier freute sich auf die Aufführung heute Abend, schloss die Augen und schlief ein.

Er erwachte knapp vor vier Uhr nachmittags mit einem Brummschädel und leichter Übelkeit. „Wahrscheinlich die Auswirkungen von gestern Abend“ brummte er vor sich hin, nahm eine kalte Dusche, zog sich an, packte seine Siebensachen und machte sich auf den Weg zum Festspielhaus. Sein Brummschädel wurde nicht besser, wahrscheinlich hätte er einfach auf seinen Nachmittagsschlaf verzichten sollen.

Punkt siebzehn Uhr war er am Ziel. Vor seinem Zimmer warteten bereits der Konzertmeister und die anderen fünf Musiker der Sechs-Mann-Delegation des Orchestervorstandes.

„Wie geht es Ihnen, Herr Matic?“ erkundigte sich Vallier. Die Antwort war ein beruhigendes „Danke gut. Und wie geht es Ihnen?“Vallier hatte nach wie vor Kopfschmerzen und immer noch war ihm leicht übel, aber er sagte „Auch mir geht’s prima, vielen Dank“, um niemanden zu beunruhigen, auch sich selbst nicht.Jetzt bat er alle in sein Zimmer. Wieder war es sehr warm und er öffnete ein Fenster.

„Also, meine Herren“, sagte Vallier. „Ich möchte Ihnen die Programme der beiden Zusatzkonzerte im Herbst mitteilen. Ich hoffe, Sie sind einverstanden.“

Er legte jedem der Anwesenden ein Blatt Papier vor, auf dem die einzelnen Programmpunkte aufgelistet waren. An und für sich war es allein die Angelegenheit Valliers und seines Musikdramaturgen, Konzertprogramme zusammen zu stellen. Aber er glaubte, es sei erstens höflicher und würde zweitens dem Betriebsklima nicht schaden, wenn er auch jedes Mal die Meinung des Orchestervorstandes einholte. Das ein oder andere Mal war es sogar schon vorgekommen, dass Gegenvorschläge von Seiten des Orchesters dazu führten, dass er einen Programmpunkt ausgewechselt hatte. Diesmal jedoch wurde sein Vorschlag vorbehaltlos akzeptiert.

Es gab noch ein paar weitere Dinge zu regeln. So stand zum Beispiel der Betriebsausflug bevor und zwei langjährige Orchestermitglieder sollten am Ende der Spielzeit in den Ruhestand verabschiedet werden. Die zwei frei werdenden Stellen waren längst besetzt, aber im Januar würde die Position der ersten Flöte vakant werden, eine äußerst wichtige Angelegenheit, die mit größter Sorgfalt behandelt werden musste. Die Stelle würde in der Fachzeitschrift DAS ORCHESTER ausgeschrieben werden. Für die beiden Vorspieltage waren Termine zu finden, nicht zu früh, damit genügend Zeit für die Interessenten vorhanden wäre, sich zu bewerben, nicht zu spät, um im unwahrscheinlichen Fall, man fände keinen geeigneten Kandidaten, ein zusätzlicher Termin für weitere Bewerber gefunden werden könnte.

Gegen achtzehn Uhr dreißig beendete Vallier die improvisierte Sitzung und machte sich, wie es seine Gewohnheit war, auf, um im Orchestergraben nach dem Rechten zu sehen. Dies war der Fall und Vallier kehrte in sein Zimmer zurück. Er stellte fest, dass er immer noch Kopfschmerzen hatte und kramte in seiner schwarzen Tasche nach einer Aspirintablette. Er löste sie in einem Glas Wasser auf und hoffte auf eine baldige Linderung seiner Unpässlichkeit.

Neunzehn Uhr! In einer halben Stunde würde die Vorstellung beginnen. Er schlüpfte in seinen gereinigten Frack und legte die weiße Schleife um. Dann machte er sich auf in die Maske, um sich die Haare festigen zu lassen, denn er hasste es, wenn ihm die Strähnen ins Gesicht hingen. Zurück in seiner Garderobe aß er eine Banane, obwohl ihm immer noch unwohl war. Dies war ihm rätselhaft. Es war doch hoffentlich mit seinen Frutti di Mare von heute Mittag alles in Ordnung gewesen? Dafür waren jetzt seine Kopfschmerzen fast vollständig verschwunden.

Er hörte seinen Namen durch den Lautsprecher und eilte auf die Bühne zur Inspizientin, die ihn, sobald das Publikum Platz genommen hätte und die Saaltüren geschlossen wären, an seinen Arbeitsplatz im Orchesterraum schicken würde. Er hörte, wie der erste Oboist den Kammerton „A“ anblies, nach dem alle Orchestermitglieder ihre Instrumente einheitlich stimmten. Vallier hatte schon vor ein paar Jahren angeordnet, den Ton von den üblichen 440 Hertz auf 444 Hertz hoch stimmen zu lassen. Dadurch erhoffte er sich mehr Brillanz und Helligkeit des Orchesterklanges.

Jetzt war es soweit. Vor der Tür zum Orchestergraben erwartete ihn bereits der Orchesterwart. Als das Saallicht erlosch, öffnete er die Türe und Vallier strebte seinem Arbeitsplatz zu. Das Publikum applaudierte, er verbeugte sich, reichte dann seinen beiden Konzertmeistern die Hand zum Gruß, wartete, bis absolute Stille eingetreten war, hob seine Arme und das kurze Orchestervorspiel begann.

Die Oper beginnt mit folgendem Szenarium: Der Dichter E. T. A. Hoffmann und seine Anhänger befinden sich im Keller der Weinschenke Lutter & Wegener in Berlin. Alle sind bereits stark angeheitert, Hoffmann selbst ist sturzbetrunken. Während er sehnsüchtig auf seine neue Liebe, die Operndiva Stella wartet, die im Theater nebenan gerade in einer Opernaufführung singt, wird er von seinen Freunden bedrängt, Liebesanekdoten aus seinem Leben zum Besten zu geben. Es ist bekannt, wie schlimm seine zahlreichen Lieben immer geendet haben, trotzdem aber sind die Erzählungen darüber jedes Mal höchst unterhaltsam für die Zuhörerschaft.

Also beginnt Hoffmann zu berichten. Zuerst ist da seine Liebe zu Olympia, der schönen, spröden Tochter des Spalanzani, seines Zeichens besessener Physiker und Erfinder. Hoffmann verliebt sich heftig in sie. Er ist hingerissen von ihrem bravourösen Koloraturgesang und ihren anmutigen Bewegungen und widmet ihr seine schönsten Liebesgedichte. Viel zu spät bemerkt er, dass er sich in einen Roboter – eine Kreation Spalanzanis – verliebt hat. Völlig gebrochen zieht er sich in sein Dichterhäuschen zurück und ersäuft seinen Kummer in einem Meer von Alkohol.

Die Hauptdarstellerin, die sich der enormen Herausforderung, alle vier Geliebten-Rollen an einem Abend zu singen, mit Grandezza und Bravour stellte, gab die schwere Rolle der Olympia wieder mit bewundernswerter Leichtigkeit in der Bewältigung der Koloraturen in Kombination mit den abgehackten, automatenhaften Bewegungen. Vallier war stolz auf sie. Er durfte behaupten, sie entdeckt zu haben, denn dies war ihr erstes Engagement, nachdem sie, wie sie erzählt hatte, zuvor an elf Vorsingen an verschiedenen Theatern teilgenommen hatte und kein Dirigent und kein Intendant sich hatte entschließen können, sie zu engagieren. Diese Tatsache war Vallier unbegreiflich, denn neben der makellosen Stimmführung, die ihre Stimme mühelos über das Orchester strahlen ließ, ließ sie durch ein wunderschönes, warmes Timbre aufhorchen, welches ihm manchmal die Tränen in die Augen trieb. Darüber hinaus war sie eine bildschöne junge Frau mit makelloser Figur und großer Ausstrahlung. Immer erschien sie bestens vorbereitet zu den Proben und es gelang ihr mühelos zur Freude der Regisseure, die von ihr verkörperten Rollenfiguren glaubwürdig, einfühlsam und betörend darzustellen.

Während die Sängerin in der Koloraturarie der Olympia brillierte, spürte Vallier, wie es in seinem Unterleib zu rumoren begann. Aber er schenkte dem keine größere Beachtung, denn er hatte sich auf seine Arbeit zu konzentrieren. Soeben begann die große Chorszene, die das erste Bild beendete. Schließlich, während Hoffmann alleine und durch seinen Kummer gebeugt auf der Bühne zurück blieb, leitete die Musik über in den sogenannten Antonia-Akt.

Dieser handelt von einer an Tuberkulose – Schwindsucht, wie diese Krankheit früher genannt wurde – leidenden Sängerin, die ihre Leidenschaft zum Singen nicht im Zaume halten kann, obwohl ihr Vater Crespel fürchten muss, die Anstrengung des Singens könne sie zu Tode bringen. Unterstützt wird ihre Leidenschaft durch den dämonischen Doktor Mirakel, der durch seine Elixiere und Zaubereien vor Jahren schon ihre Mutter ins Grab gebracht hat. Verführt durch Hoffmann, der sich an ihrem Gesang nicht satt hören kann und ihre tote Mutter, früher selbst eine Sängerin, die ihr als Geist erscheint, missachtet sie alle Warnungen, beginnt zu singen und kann fortan nicht mehr damit aufhören. Dadurch wird ihr Lebensfaden immer dünner und schließlich erlischt ihr Lebenslicht ganz.

Die Musik versucht, diesem dramatischen Geschehen zu folgen und wird gegen Schluss immer leiser, langsamer, inniger und zarter. Bei Antonias Tod verklingt sie schließlich in kompletter Stille.

Dies nachzuzeichnen ist für die Sängerin, das Orchester und den Dirigenten nicht einfach. Die Spannung darf nicht zu früh abgebaut werden und muss sogar über Antonias Todeszeitpunkt hinaus anhalten. Somit wandelt sich Stille zum Höhepunkt des musikalischen Ausdrucks.

Vallier versuchte, sich seiner gestalterischen Aufgabe mit Akribie zu widmen, musste aber zu seinem Schrecken zur Kenntnis nehmen, dass sich die Umwälzungen in seinem Unterleib ungünstig entwickelten. Die Bauchschmerzen nahmen drastisch zu und wuchsen sich zu ausgewachsenen Darmkrämpfen aus. Er begann, heftig zu schwitzen und innerhalb von zwei Minuten war sein Frack völlig durchnässt. Er krümmte sich unter seinen immer stärker werdenden Koliken.

Die Orchestermusiker sahen ihn sorgenvoll an und der Konzertmeister begann, die Führung zu übernehmen. Vallier saß mit geschlossenen Augen in sich versunken auf seinem Dirigentenhocker und bewegte seine Hände in kraftlosen Gesten, völlig darauf konzentriert, die Oberhand über seine Körperfunktionen zu behalten. Währenddessen wurde die Musik immer langsamer, leiser und zarter. Vallier hätte am liebsten vor Schmerzen und wegen der aufkommenden Panik, seinen Unterleib nicht mehr kontrollieren zu können, laut geschrien.

Verzweifelt schickte er Stoßgebete zum Himmel. Nicht auszudenken, was die Folge wäre, würde er jetzt die Kontrolle über sich verlieren. In der Branche würde sich dies wie ein Lauffeuer herumsprechen und sein Ruf wäre aufs Stärkste beschädigt. Überall, wo er als Gastdirigent aufträte, wäre dieses Ereignis in den Köpfen der Musiker präsent und er würde – selbst wenn ihm gegenüber dies niemand ausspräche – mit Häme überschüttet werden.

Natürlich durfte all das auf gar keinen Fall geschehen. Sein Gedärm war jedoch offenbar anderer Meinung. Es meldete sich noch intensiver zu Wort, rumorte, drängte, verkrampfte sich und schmerzte immer heftiger.

Auf der Bühne indes ging der erste Teil des Abends langsam - und wirklich ganz langsam - zu Ende.

Vallier litt Höllenqualen. Endlich hauchte Antonia ihr Leben aus. Es folgte ein kurzes, flottes Nachspiel, dann durfte Vallier sein Pult verlassen.

Ohne den Applaus abzuwarten, rannte er noch im Dunkeln aus dem Orchesterraum, raste die Treppen hoch und sperrte sich für die nächste Viertelstunde im zu seiner Garderobe gehörenden Badezimmer ein.

„Geschafft, Gott sei Dank!“ beglückwünschte er sich. Nichts war passiert. Auch musikalisch hatte soweit alles geklappt und das Publikum dürfte von seinen Nöten nichts bemerkt haben.

Vallier ging es wieder besser. Wahrscheinlich war tatsächlich mit seinen zu Mittag gegessenen Frutti di Mare etwas nicht in Ordnung gewesen. Er kramte in seiner Tasche und holte die zweite Banane hervor. Durch den Genuss erhoffte er sich eine positive Wirkung auf das Verhalten seiner Bauchgegend. Außerdem bemerkte er, dass sowohl seine Übelkeit als auch seine Kopfschmerzen verschwunden waren. Jetzt erklang durch den Lautsprecher die Ankündigung der Inspizientin, dass die Pause zu Ende sei.

Der zweite Teil der Aufführung verlief reibungslos. Der Schlussapplaus war riesig. Als er auf die Bühne zur Verbeugung kam, mischten sich Bravorufe in das Händeklatschen und als die Sopranistin vor den Vorhang trat, um ihren Solo-Applaus entgegen zu nehmen, schwellte der Jubel deutlich an und man hörte zusätzlich unzählige Bravos und Füßetrampeln. Vallier war sehr stolz auf sein Ensemble.

Die Vorstellung am nächsten Tag war wieder ausverkauft und verlief ausnahmsweise einmal ohne Zwischenfall.

Als Resümee dieses Gastspiels konnte man sagen, dass es im Großen und Ganzen sehr erfolgreich verlaufen war. Bis auf den einen schlimmen Verriss waren alle Kritiken positiv bis überschwänglich ausgefallen. Seine und des Konzertmeisters Missgeschicke waren natürlich sehr unangenehm gewesen, hatten jedoch den künstlerischen Erfolg nicht beeinträchtigen können. Nach der Vorstellung feierte Vallier mit einem Teil des Ensembles noch ein wenig in der Kantine des Festspielhauses, zog sich aber früh auf sein Hotelzimmer zurück.

Der Klangwandler

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