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4. LEIPZIGER ALLERLEI
ОглавлениеEin paar Jahre zuvor war er von einem mitteldeutschen Orchester zu einer Serie von sechs Konzerten eingeladen. Die letzten beiden Konzerte sollten in verkürzter Form im Gewandhaus Leipzig als Jugendkonzerte vormittags um neun und um elf stattfinden. Vallier hatte sich die Termine freigeschaufelt, war für die ersten vier Konzerte angereist, hatte die Proben und die Aufführungen geleitet und war dann wieder nach Hause gefahren. Die beiden noch ausstehenden Jugendkonzerte, die er auch selbst moderieren würde, sollten erst in zwei Wochen stattfinden. Zu diesem Zweck wollte er am Abend vor den beiden Konzerten anreisen. Erneute Proben waren nicht nötig, lediglich eine sogenannte Anspielprobe am nächsten Morgen früh um acht war angesetzt, eine ungewohnte und ungemütliche Tageszeit für Theaterleute. Sein Hotelzimmer war in einem schicken Leipziger Hotel vom Direktor des Orchesters vorneweg für ihn reserviert worden und somit alles auf das Beste geregelt.
Als Vallier mit seinem Auto beim Hotel eintraf, wusste man aber nichts von einer Reservierung. Außerdem war das Hotel ausgebucht und man konnte ihm deshalb leider kein Zimmer anbieten. Vallier versuchte den Orchesterdirektor anzurufen, aber dessen Handy war ausgeschaltet. Was tun?
Der freundliche Hotelportier versuchte, bei anderen sich in der Nähe befindenden Hotels eine Unterkunft für Vallier zu besorgen, aber alle Möglichkeiten waren ausgebucht. Kein Wunder, denn es war Messezeit.
Mittlerweile war es etwa zwanzig Uhr geworden und Vallier war ratlos. Wieder und wieder versuchte er, den Orchesterdirektor zu erreichen, immer mit demselben negativen Ergebnis. Auch war es nicht möglich, seine Sekretärin anzurufen und sie zu bitten, dass sie von seiner Heimatstadt aus versuchen möge, ihm in Leipzig ein Zimmer zu besorgen, denn sie war sicherlich schon längst zuhause und dort wollte er sie nicht stören.
Schließlich hatte der Hotelportier doch Erfolg. Allerdings hatte er kein Hotel auftreiben können, lediglich eine Pension, und die lag leider etwas außerhalb. Vallier war zwar nicht gerade begeistert, denn er hasste es, schlecht untergebracht zu sein, aber vielleicht hatte er ja Glück und seine Übernachtungsmöglichkeit stellte sich als gar nicht so übel heraus. Außerdem hatte er keine große Auswahl, war hungrig und durstig und wollte dringend duschen. Also sagte er das Zimmer zu, ließ sich von dem netten Portier den Weg erklären, bedankte sich und fuhr los.
Er fuhr und fuhr und entfernte sich immer weiter von der Innenstadt und damit von seinem morgigen Arbeitsplatz. Zu guterletzt verfuhr er sich, weil plötzlich Umleitungen ausgeschildert waren, die dann aber nicht weiterführten. Für einen Orts-Unkundigen war es nicht möglich, sich ohne Beschilderungen zurechtzufinden und sein Auto hatte damals noch kein Navigationssystem. Irgendwann befand er sich in einer schäbig aussehenden, dunklen Wohngegend und er hatte nicht den blassesten Schimmer, wo er war. Kein Mensch befand sich auf der Straße, lediglich etwa alle achtzig Meter verbreitete eine uralte Straßenlaterne ihr funzeliges, orangefarbenes, zur damaligen Zeit typisch ostdeutsches Licht.
Ein alter Mann mit seinem Hund schlurfte vorbei. Vallier öffnete das Fenster und fragte nach dem Weg. Der Mann antwortete nicht und ging wortlos weiter. Vallier wünschte ihm die Gicht an den Hals und versuchte aufs Neue, den Orchesterdirektor anzurufen. Wieder nichts.
Schließlich fuhr er weiter in der Hoffnung, an einem Taxistand oder einer Tankstelle vorbei zu kommen. Es war mittlerweile einundzwanzig Uhr dreißig und seine Laune so ziemlich auf dem Tiefpunkt. Orientierungslos fuhr er durch die dunklen Straßen. Da sah er in der Ferne eine Tankstelle leuchten. Erleichtert steuerte er darauf zu und musste feststellen, dass es sich um eine Münztankstelle handelte und es auch hier weit und breit niemanden gab, den er nach dem Weg fragen konnte. Unter seinen Ärger mischte sich langsam ein Gefühl frustrierter Mulmigkeit. Er musste morgen in aller Herrgottsfrühe aufstehen und würde dann zwei anstrengende Konzerte hintereinander zu bewältigen haben, die er auch noch selbst zu moderieren hatte. Dies war für ihn eine ungewohnte Rolle, die er mangels Routine nicht so gerne übernahm, aber er hatte sich, da es sich um Jugendkonzerte handelte, die ja im Allgemeinen in einer eher lockeren Atmosphäre stattfanden, dazu überreden lassen. Trotzdem hatte er sich die Mühe gemacht, ein Manuskript zu verfassen, welches er bei seiner Moderation, sollte es nötig sein, zu Hilfe nehmen würde.
Seine Frustration wuchs, als er sich bewusst wurde, dass er überhaupt nichts zu essen und trinken dabei hatte, nicht mal eine Flasche Mineralwasser. Denn selbstverständlich hatte er angenommen, er würde, wenn er sein Zimmer in dem schicken Hotel in der Innenstadt bezogen hätte, das Hotelrestaurant aufsuchen, um dort gemütlich und stilvoll zu Abend zu speisen.
Vallier war kein spontaner Typ und es fiel ihm schwer, sich auf überraschende Wendungen einzustellen. Er liebte es, wenn die Dinge im Vorfeld organisiert und geregelt waren und diesmal war ja leider einiges schief gelaufen. Aber es half nichts, er musste diese verflixte Pension finden. Wer weiß, ob die überhaupt noch geöffnet war, wenn er sich so verspätete. Er hatte die Idee, noch einmal im Hotel anzurufen, um sich nach der Telefonnummer der Pension zu erkundigen, denn auf dem Zettel, welcher ihm der Portier ausgehändigt hatte, stand nur die kurze Wegbeschreibung und die Adresse. Gerade, als er im Begriff war, die Nummer zu wählen, fuhr ein Auto vor. Vallier stieg aus und fragte den Fahrer nach dem Weg zu seiner Pension.
Und tatsächlich hatte er Glück. Die Pension befand sich ziemlich in der Nähe und Vallier stand nach fünfzehn Minuten mit seinem Auto vor der völlig dunklen Fassade. Es war mittlerweile fast zweiundzwanzig Uhr. Leider gab es keine Möglichkeit, vor der Pension zu halten, denn sie lag direkt an einer stark befahrenen Ausfallstraße und besaß ganz offensichtlich keinen eigenen Parkplatz. Vallier hoffte aber, gleich um die Ecke in der Seitenstraße parken zu können und bog deshalb in die erste Straße rechts ab.
Er befand sich augenscheinlich in einer Wohngegend. Die geparkten Autos standen dicht an dicht und er fand keine Parklücke. Er fuhr weiter und wollte bei der ersten Möglichkeit wieder rechts abbiegen, aber das Verkehrsschild zeigte ihm an, dass es sich dabei um eine entgegen führende Einbahnstraße handelte.
Also fuhr Vallier weiter geradeaus. Und auch hier dasselbe Bild: Autos Stoßstange an Stoßstange, weit und breit keine Parklücke. Wieder wollte er abbiegen, wieder handelte es sich um eine Einbahnstraße. Vallier fluchte vor sich hin und bog jetzt, weil ihm nichts anderes übrig blieb, nach links ab.
Wenn dies überhaupt möglich war, war diese Straße noch dunkler. Und immer noch keine Parklücke. Vallier war langsam auf hundertachtzig. Das durfte doch alles nicht wahr sein. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als weiterzufahren und auf eine Parkmöglichkeit zu hoffen. Auf diese Weise entfernte er sich allerdings immer weiter von der Pension und das konsequente Einbahnsystem verweigerte ihm die Möglichkeit, sich wieder in die Nähe seiner Unterkunft zu bringen.
Endlich sah er eine Parklücke und stellte sein Auto ab. Er schätzte, dass er sich etwa eineinhalb Kilometer von der Pension entfernt befand. Also packte er nur seine nötigsten Sachen zusammen und ließ seinen Kleidersack mit Smoking, Hemden und Lackschuhen sowie seine Notenmappe mit den Partituren, seinem Moderationsmanuskript und seinen Taktstock im Wagen zurück.
Nach etwa zwanzig Minuten Fußmarsch durch unheimlich dunkle, teilweise völlig verlassen und halb verfallen wirkende, menschenleere Straßenzüge stand er endlich vor der Pension. Die sah wenig einladend aus. Nach wie vor im DDR-Einheitsgrau, mit teilweise abgeblättertem Putz stand sie völlig abgedunkelt und drohend vor ihm.
„Na seavas“ sagte Vallier und verfiel, wie oft in solchen Situationen in seinen österreichischen Heimatdialekt. Er drückte auf die Klingel. Nichts rührte sich. Er klingelte wieder. Warten. Nichts. Klingeln. Warten. Endlich wurde drinnen Licht gemacht und jemand schlurfte den Gang entlang. Die Tür wurde geöffnet und eine etwa siebzigjährige Frau stand vor ihm. „Sie, das geht dann nicht, dass Sie hier erst so spät kommen“ herrschte sie ihn an. „Hier ist ab zweiundzwanzig Uhr Nachtruhe. Sie stören die anderen Gäste.“ „Äh, ja, entschuldigen Sie bitte“ stammelte Vallier verdattert. „Aber ich habe nicht gleich hergefunden und...“ „Haben Sie Alkohol getrunken?“ fragte die alte Dame barsch. „Bitte?“ antwortete Vallier irritiert. „Damit Sie’s gleich wissen, bei uns herrscht Alkohol- und Rauchverbot“ teilte die Dame mit. „Zimmer neun, hier gleich um die Ecke. Und hier eintragen“. Sie deutete auf ein vorgedrucktes Formular und klatschte den Zimmerschlüssel, an dem ein etwa faustgroßer Holzklotz hing, auf den grob gezimmerten Tresen. „Dusche und Toilette am Ende des Ganges, Frühstück von halb sechs bis halb acht. Gute Nacht.“ „Äh, kann ich hier noch irgendwo etwas zu essen oder zu trinken bekommen?“ wagte Vallier zu fragen. „Wir sind eine Pension und kein Hotel“ schnauzte der alte Drachen. „Die nächste Kneipe liegt weiter vorn an der Straße in etwa vierhundert Metern. Aber dass Sie dort noch etwas kriegen, glaube ich nicht. Es ist ja schon nach elf!“ Und mit vorwurfvollem Blick verschwand sie in Ihrer Drachenhöhle. „Na seavas“ sagte Vallier wieder, suchte sein Zimmer und trat ein. Er betätigte den Lichtschalter. „Ach wie hübsch“ brummte er sarkastisch, nachdem sich seine Augen an das trübe Halbdunkel gewöhnt hatten. An den Wänden fleckige Tapeten mit Blümchenmotiv, ein Bett, ein Tisch, ein Plastikstuhl. An der einen Wand klebte ein Landschaftsdruck ohne Rahmen, ein zwei Jahre alter Spruchkalender hing an der anderen. An der Tür waren drei überdimensionale Kleiderhaken befestigt, dem Bett gegenüber befanden sich ein Waschbecken mit einem welligen Spiegel, ein Handtuch, keine Seife, kein Shampoo, kein Zahnputzbecher und natürlich nirgendwo ein Fernsehgerät. Das Zimmer besaß ein Fenster zur Straße, selbstverständlich nicht schallisoliert.
Vallier beschloss, dies alles mit dem ihm eigenen Galgenhumor zu nehmen. Die paar Stunden bis morgen früh würde er überleben. Er konnte sich nicht erinnern, dass er jemals in seinem Leben in einem so schäbigen Zimmer übernachtet hatte, auch in seiner Jugendzeit nicht. Na bitte, eine neue Erfahrung, man musste die ganze Situation einfach mal positiv sehen!
Valliers Magen knurrte hörbar. Ob er sich doch noch auf den Weg zu der Kneipe machte? Aber am Ende kam er dann nicht wieder in die Pension und den alten Drachen wollte er auf keinen Fall noch einmal herausklingeln. Vielleicht hatte seine unergründliche schwarze Tasche etwas Essbares zu bieten?
Vallier kramte darin herum und beförderte eine halbe Tafel Schokolade, drei Traubenzucker und ein paar Kaugummi zutage. Na prima, genau das Menü, das er sich vorgestellt hatte. Aber gut, er neigte ohnehin zum Bauchansatz. Das war doch jetzt einmal ein Anlass, mit Fasten zu beginnen, das konnte wirklich nicht schaden. Allerdings plagte ihn heftiger Durst. Sehnsüchtig dachte er an ein bis zum Rand gefülltes Glas Weizenbier. Ersatzweise drehte er den Wasserhahn auf, worauf sich eine rostig braune Flüssigkeit in das Becken ergoss. Igitt! Da musste ja wochenlang niemand mehr das Zimmer benutzt haben. Jetzt fiel ihm auch die dicke Staubschicht auf seinem Tisch auf.Nein, also wirklich. Eigentlich konnte er hier nicht bleiben, aber er hatte nun einmal keine Wahl, es sei denn, er wollte im Auto übernachten.
Vallier fügte sich ins Unvermeidliche, zog sich aus und legte sich ins Bett. Auweia, sein Rücken würde morgen böse mit ihm sein. Die Matratze war völlig durchgelegen, aber dadurch, dass er in einer tiefen Kuhle lag, konnte er wenigstens nicht aus dem Bett fallen.
Er versuchte noch ein wenig zu lesen und sein Hungergefühl sowie seinen brennenden Durst zu ignorieren. Dann stand er noch einmal mühevoll auf und ließ etwa fünf Minuten den Wasserhahn laufen, bis klares Wasser aus dem Hahn floss. Vorsichtig roch er daran und kostete mit der Zungenspitze. „Scheint in Ordnung zu sein“ dachte er und nahm aus der hohlen Hand ein paar Schlucke, putzte sich die Zähne und legte sich wieder ins Bett.
Natürlich konnte er nicht einschlafen und wälzte sich hin und her, was jedes Mal ein ziemliches Unterfangen war, denn die Grube, in der er lag, wurde dadurch immer tiefer. Außerdem verwurschtelte sich das Leintuch ständig und trug wesentlich dazu bei, dass er nie richtig bequem lag.
Draußen rauschten die Autos vorbei, zwar in einer Häufigkeit, die der späten Nachtstunde entsprach, aber wenn ein Auto kam, schien es Vallier, als ob es mitten durch sein Zimmer fuhr. Irgendwann jedoch schlief er trotz allem ein.
Er erwachte durch heftiges Türenschlagen, lautes Rufen und Singen. Der Uhrzeiger stand auf fünf Uhr. Kreuzdonnerwetter! Wer um Himmels Willen veranstaltete in aller Herrgottsfrühe einen solchen infernalischen Lärm? Nun, offenbar die anderen, alkoholbefreiten Gäste, die sich für ihr Tageswerk fertig machten. Völlig ungeniert riefen sie sich lustige Dinge zu, lachten schallend darüber, diskutierten lautstark und stritten sich. Vallier drückte sich das Kissen über den Kopf, was jedoch wenig half. Es war noch stockdunkel und er machte die Leselampe an. Bei den Lärmenden handelte es sich vermutlich um junge Männer aus irgendeinem osteuropäischen Staat. Vallier verstand kein Wort von dem, was da gesprochen und gebrüllt wurde.Nach etwa einer halben Stunde trat relative Ruhe ein, wenn man von dem langsam anschwellenden Verkehrslärm absah. Die Meute saß jetzt wahrscheinlich beim Frühstückstisch. Vallier nützte diese Pause und huschte in den Duschraum. Immerhin war es jetzt viertel vor sechs und spätestens um halb sieben müsste er ohnehin aufstehen.
Der Gemeinschaftsduschraum sah aus wie nach einem mittleren Hurrikan. Die gebrauchten Handtücher lagen am Boden zerstreut, sich auflösende Seifenreste schwammen auf dem schmierigen Wasserfilm, der den Boden bedeckte. Eine Unterhose ging an einem Haken und es roch ziemlich säuerlich. Angeekelt stellte sich Vallier unter einen Duschkopf und drehte am Wasserhahn. Eine Weile wartete er in der Hoffnung auf warmes Wasser, aber es blieb kalt. Da hatte also die Meute von vorhin die ganze Tagesration von heißem Duschwasser aufgebraucht, vielen Dank auch.
Nolens volens ließ er das kalte Wasser vorsichtig über seinen Kopf und seinen Körper fließen. Na, auf diese Weise wurde er wenigstens wach. Plötzlich wurde die Türe aufgerissen und vier junge Männer stürmten in den Duschraum. Sie unterhielten sich laut und ungeniert, begannen dabei, sich einzuseifen und warfen sich das einzige Seifenstück über Valliers Kopf oder an seinem Körper vorbei gegenseitig zu. Vallier empfand seine Nacktheit vor den jungen Kerlen als peinlich. Zwei von ihnen fingen jetzt spaßeshalber an, miteinander zu rangeln und rempelten ihn dabei so heftig an, dass er beinahe zu Boden gestürzt wäre. Sie entschuldigten sich kurz und machten weiter. Vallier beeilte sich, dass er fertig wurde, trocknete sich mit dem aus seinem Zimmer mitgebrachten Handtuch notdürftig ab und eilte in sein Zimmer. Ziemlich entkräftet von der Wucht so viel jugendlichen Übermutes legte er sich noch einmal ins Bett, um sich aufzuwärmen. Vom Flur dröhnte erneut heftiger Lärm. Offenbar hatte man fertig gefrühstückt und packte jetzt seine Siebensachen. Sobald die Herrschaften abgereist wären, würde er sich in den Frühstücksraum wagen.Nachdem er etwa zehn Minuten Stille abgewartet hatte, stand er auf und machte sich tagesfertig. Ein Blick in den verzerrten Spiegel sagte ihm, dass er nicht gut aussah. Und tatsächlich fühlte er sich reichlich gerädert, da hatte auch die kalte Dusche wenig bewirkt. Aber sei’s drum, er würde spätestens beim ersten Konzert schon wieder auf Touren kommen.
Vallier packte seine Sachen zusammen und ging in den Frühstücksraum. Er war der einzige Gast und nur noch ein einzelnes Frühstücksgedeck befand sich auf einem kleinen Tisch. Es war erst viertel vor sieben und augenscheinlich war er bereits der letzte Frühstücksgast. Du meine Güte, in Ostdeutschland wurde aber früh aufgestanden.
Die alte Frau von gestern schlurfte heran und stellte ihm eine Kaffee-Thermoskanne hin. „Na, Sie sind aber spät dran“ grummelte Sie. „Wenn das mal keinen Ärger mit dem Chef gibt.“Vallier verkniff sich eine Antwort. Er hätte zwar lieber seinen bevorzugten Earl-Grey Tee gehabt, aber er wäre jede Wette eingegangen, dass die Frau nicht einmal wusste, was damit gemeint war. Also unterließ er die Frage und vertilgte ausgehungert zwei Brötchen. Dazu trank er die Thermoskanne leer. Er stand auf und bezahlte die erstaunlich niedrige Zimmerrechnung bei der wortkargen Pensionswirtin.„Haben die polnischen Gastarbeiter Sie arg gestört?“ fragte sie, plötzlich halbwegs freundlich. „Nein, nein“ log Vallier. „Ich war ohnehin schon wach.“ Er nahm sein Gepäck und trat auf die Straße. In knapp einer Stunde würde die Anspielprobe im Gewandhaus beginnen. Das müsste eigentlich zu schaffen sein.
Vallier hatte einen guten Ortssinn und wusste deshalb gleich, wo sein Auto stehen musste. Zielstrebig ging er die Straßenzüge entlang. Es war mittlerweile fast hell geworden und das Leben reihum erwacht. „Erstaunlich, wie viele Menschen so früh schon unterwegs sind“ dachte Vallier, der sonst zu dieser Stunde oft noch schlafend oder Zeitung lesend im Bett zu liegen pflegte. Er bog um die Ecke und sah vielleicht hundertfünfzig Meter weiter vorne sein Auto.Im Näherkommen dämmerte ihm, dass irgendetwas nicht in Ordnung war. Er bemerkte, dass das Fenster hinten rechts weit offen stand und wunderte sich. Hatte er gestern Abend tatsächlich vergessen, alle Fenster zu schließen? Seiner Erinnerung nach hatte er außer dem Fahrerfenster kein anderes geöffnet. Merkwürdig. Er war etwa bis auf zwanzig Meter herangekommen, als er erkannte, dass die Scheibe wohl eingeschlagen worden war.„Nein, bitte nicht“ dachte er und sah sich die Bescherung an.Tatsächlich, der Wagen war aufgebrochen worden und – um Himmels Willen – sein Kleidersack und seine Notenmappe mit all den Partituren, dem Taktstock und seinem Moderationsmanuskript waren gestohlen. Interessanterweise hatten der Dieb oder die Diebe das Autoradio und den CD-Player unberührt gelassen. Die hatten es wohl sehr eilig gehabt.
Vallier versuchte, die Ruhe zu bewahren. Er musste sich jedoch eingestehen, dass er sich in einer unangenehmen, misslichen Situation befand. In knapp zwei Stunden begann das erste der Konzerte, seine Arbeitskleidung war weg, die Partituren, aus denen er dirigierte und seine Moderationshilfe sowieso. Heiliger Bimbam, das würde ja heiter werden.
Er sah auf die Uhr. Er konnte jetzt zwar die Polizei rufen, aber was sollte das bringen? Wahrscheinlich würde dies seine Zeit dauern und er lief dann Gefahr, das erste Konzert zu versäumen, was natürlich völlig ausgeschlossen war. Er beschloss, den Diebstahl erst nach den Konzerten zur Anzeige zu bringen. Vallier rechnete zwar nicht damit, sein Eigentum wiederzubekommen, aber vielleicht war es wegen der Versicherung wichtig, dass er eine Anzeige bei der Polizei erstattete. Er verstaute das Gepäck, startete den Motor und fuhr Richtung Zentrum, was im Gegensatz zu gestern Abend kein Problem war, denn der Weg war prima ausgeschildert.
Gegen zwanzig vor acht kam er beim Gewandhaus an, parkte seinen Wagen auf dem Parkplatz und eilte zum Bühneneingang. „Sagen Sie“ sagte er zum Portier. „Gibt es bei Ihnen im Haus einen Kostümfundus oder so etwas Ähnliches? Oder einen Gewandmeister, wenn wir schon mal im Gewandhaus sind?“ versuchte er zu scherzen, stieß aber nur auf eine versteinerte Miene und Kopfschütteln. „Das hier ist ein Konzerthaus und kein Theater“ grummelte der Mann. Da hatte er natürlich Recht und genau das hatte Vallier befürchtet.
Aber zuerst musste er zur Anspielprobe. Er eilte in das ihm zugewiesene Dirigentenzimmer, deponierte dort seine schwarze Tasche und suchte die Bühne. Dort war bereits das gesamte Orchester versammelt. Auch der Orchesterdirektor war da. Er ging auf Vallier zu. „Guten Morgen, Herr Vallier“ begrüßte er ihn. „Ich hoffe, Sie waren gut untergebracht.“ „Nein“ grantelte Vallier. „Aber darüber reden wir später. Bitte besorgen Sie mir jetzt gleich ein Konzertprogramm, damit ich mich daran erinnern kann, wie die Reihenfolge der einzelnen Musikstücke ist. Mir sind meine gesamten Partituren entwendet worden. Für das Konzert benötige ich von jedem Stück eine Kopie der ersten Geigenstimme. Und nach der Anspielprobe muss ich Sie unbedingt sprechen. Also bleiben Sie bitte in der Nähe.“
Der Orchesterdirektor blickte ungläubig und verdattert, winkte einem Orchesterwart und vermittelte ihm Valliers Wünsche. Drei Minuten später lag das Konzertprogramm auf Valliers Notenpult. Punkt acht. Der Oboist blies sein A und das Orchester stimmte ein. Vallier begrüßte die Musiker und erklärte vorbeugend kurz, was ihm passiert war. Dann wurden drei Stücke angespielt, um die Akustik zu testen, obwohl diese, würde der Saal gefüllt sein, sich wieder gänzlich anders ausnehmen konnte. Schlag acht Uhr zwanzig war die kurze Probe beendet. Die Orchestermusiker verließen die Bühne und Vallier trat auf den Orchesterdirektor zu. „Sie haben gehört, was geschehen ist“ sagte er. „Nicht nur meine Noten sind weg, sondern auch mein Smoking samt Hemden und Schuhen“.
Der Orchesterdirektor hatte auf Valliers Erklärung vor dem Orchester schon reagiert und sich an die Inspizientin gewandt. Während der Anspielprobe hatte sie daraufhin schon ein bisschen im Haus herumtelefoniert und eine freundliche Dame aufgetrieben, die ihm möglicherweise helfen konnte.
Sie wartete bereits bei der Inspizientin auf Vallier und erkundigte sich nach seiner Kleider- und Schuhgröße. Nachdem Vallier sie darüber informiert hatte, zog er sich in sein Zimmer zurück, erstens um sich auf die Schnelle ein paar Notizen für seine Moderation zu machen und zweitens, um sich die einzelnen Programmpunkte vorher noch einmal in Erinnerung zu rufen. Vallier hatte normalerweise kein Problem mit dem Auswendigdirigieren, doch dieses Konzertprogramm hatte er nicht darauf hin trainiert, eben weil er sich dazu entschieden hatte, die Noten vor sich zu haben. Außerdem lag das letzte Konzert mit diesem Programm bereits zwei Wochen zurück und Vallier hatte mittlerweile wenigstens zehn Vorstellungen von mindestens vier verschiedenen Werken dirigiert. Die Stimme der ersten Violine war zwar nur ein jämmerlicher Ersatz für die Partituren, aber als Erinnerungsstütze besser als gar nichts.
Es klopfte an der Tür. Die freundliche Dame von vorhin trat ein, über dem Arm mehrere Hosen und zwei Frackschöße. „Bitte probieren Sie, Herr Vallier“ sagte sie und hielt ihm die erste Hose hin. Zu eng. Auch die zweite war zu eng, die dritte wiederum zu weit. Dafür passte einer der beiden Frackschöße nahezu perfekt. Aber leider waren in der Kürze der Zeit keine dazu passenden Schuhe aufzutreiben gewesen. Vallier musste also seine dunkelbraunen Straßenschuhe anziehen und wählte dazu die Hose, die ihm zu weit war. Gürtelschleifen waren bei diesem Exemplar vom Schneider nicht vorgesehen und Hosenträger keine aufzutreiben. Vallier würde sich also mit der linken Hand die Hose halten müssen, während er mit der Rechten dirigierte. Dass er keinen Taktstock mehr besaß, war nicht so schlimm, schon öfter hatte er das freihändige Dirigieren dem Gebrauch des Taktstockes vorgezogen. Das hing von der Art der Musik ab, die er gerade unter den Händen hatte. Leider hatte die hilfsbereite Dame auch kein Frack- oder Smokinghemd auftreiben können, sodass Vallier sein hellblaues Hemd, was er gerade trug, anbehielt. Dafür hatte sie aber eine – leider etwas zu groß geratene – schwarze Fliege entdeckt, die sie ihm nun umband. So, fertig war der Dirigent. Beim Blick in den Spiegel traf ihn fast der Schlag. So sollte er vor das besonders heikle Publikum der Vierzehn- bis Fünfzehnjährigen treten und sie für klassische Musik begeistern? Also wirklich oberpeinlich! Er glich einer Kreuzung zwischen einem Zirkusclown und einem Pinguin. Dazu diese Hose, die andauernd rutschte, sobald er sie losließ. Er überlegte, ob er nicht einfach in seiner Alltagskluft dirigieren sollte, aber er hatte bloß seine alte, verwaschene Jeans dabei, seinen Pullover und leider kein Sakko. Denn er pflegte beim Dirigieren sofort heftig ins Schwitzen zu geraten und da war ihm ein Jackett doch ganz lieb, um sein klatschnasses Hemd nicht den Augen aller präsentieren zu müssen. Nein, das kam noch weniger in Frage. Übrigens war zum Umziehen auch gar keine Zeit mehr, denn das Orchester saß bereits und würde gleich einstimmen.
Über die Lautsprecheranlage hörte er seinen Namen und er begab sich zum Inspizientenpult. Die Inspizientin guckte ein wenig schief, als sie ihn sah. Herrgott nochmal, war ihm das alles zuwider! In diesem Aufzug und mit rutschender Hose auswendig zu dirigieren und zu moderieren, also ne!
Da fiel ihm ein, dass die Moderation besonders peinlich werden würde. Denn hierfür musste er sich ja in seiner ganzen Pracht von vorne präsentieren, also mit der einen Hand die Hose am Rutschen hindern und in der anderen Hand ein Mikrofon halten. Seinen Spickzettel würde er unter diesen Umständen nicht benutzen können. Auch das noch! „Na seavas“ schoss es ihm wieder durch den Kopf.
In diesem Moment erlöschte das Saallicht. Da keine Stille eintrat, wartete Vallier noch ein paar Sekunden. Die Inspizientin rief ihm von hinten zu: „Gehen Sie, Herr Vallier. Das sind Jugendliche, die geben keine Ruhe.“ Ja, das kannte Vallier schon und er betrat die Bühne. Müder Applaus empfing ihn. Er betrat sein niedriges Podium, verbeugte sich kurz in Richtung Publikum und drehte sich zum Orchester. Er blickte in ungläubige, amüsierte oder peinlich berührte Gesichter. Manche guckten weg, andere lachten ihn an. „Jaja, glotzt ihr nur“ fuhr es ihm durch den Kopf. Er begrüßte den Konzertmeister, hob den rechten Arm und gab den Einsatz zu Tschaikowskys Schwanensee-Ouvertüre.
Als die Musiker bemerkten, dass sich Vallier mit der Linken die Hose hochhalten musste, fingen einige von ihnen nach anfänglicher Fassungslosigkeit während des Spiels an zu grinsen und zu feixen. Dies wirkte auf die anderen ansteckend und beinahe wäre das Stück auseinander gebrochen, weil sich die Orchestermusiker dadurch kaum mehr auf ihre Aufgabe konzentrieren konnten. Das Stück war nach vier Minuten zu Ende. Wieder müder Applaus, Pfiffe, laute Unterhaltung. Vallier steckte seine linke Hand in die Hosentasche. Er hoffte, so wenigstens einen coolen Eindruck auf die jungen Leute zu machen. Mit der anderen griff er zum Mikrofon und drehte sich um. Johlendes Gelächter war die Folge. Vallier wollte mit seiner Moderation beginnen, wollte ein paar Infos über das eben verklungene Werk vermitteln und ein paar Worte über das folgende erzählen. Allein, das war nicht möglich. Die Jugendlichen kriegten sich nicht mehr ein, lachten, johlten, trampelten und pfiffen. Vallier machte ein paar beschwichtigende, Ruhe heischende Gesten und als dies nichts half, drehte er sich wieder zu den Musikern und gab den Einsatz zum nächsten Stück, Webers Aufforderung zum Tanz. Das Stück war recht laut, trotzdem hatte das Orchester keine Chance, gehört zu werden. Die jungen Leute beruhigten sich nicht. Im Gegenteil, das Johlen, Trampeln und Pfeifen steigerte sich, die ganze Veranstaltung drohte zu eskalieren.
Die Musik war zu Ende. Plötzlich ging das Saallicht an und die Türen wurden geöffnet. Die Inspizientin kam auf die Bühne und brüllte „Pause!“ in den Saal. Die ersten Jugendlichen rasten sofort in Richtung der Ausgänge. Vallier und die Musiker verließen die Bühne. Der Orchesterdirektor kam auf ihn zugeeilt und sagte: „Wir haben mit dem Opernhaus kontaktiert, das befindet sich ja nur ein paar hundert Meter von hier entfernt. Die haben uns aus ihrem Fundus je zwei Fräcke und Smokings geschickt. Es hängt alles in Ihrer Garderobe. Bitte ziehen Sie an, was Ihnen passt, dann machen wir weiter.“ Der völlig konsternierte Vallier begab sich in sein Zimmer, wo schon die nette Dame von vorhin auf ihn wartete. Sogleich entschied er sich für einen Smoking. Er war bereits völlig nass geschwitzt und dankbar dafür, dass er frische Sachen anziehen durfte. Alles passte: Hemd, Smoking, Schleife, Schuhe. Wie aus dem Ei gepellt erschien er nach nur wenigen Minuten mit geföhnten Haaren bei der Inspizientin.„Na bitte, geht doch“ bemerkte die trocken und betätigte die Saalglocken als Zeichen, dass das Konzert weitergehen könne.
Als Vallier wieder die Bühne betrat, wurde er erneut mit Gejohle, Pfiffen und Applaus begrüßt. Er wandte sich sogleich an das junge Publikum und erzählte kurz, was ihm heute früh passiert war, worauf er Gelächter und Gejohle erntete. Aber jetzt war die Stimmung nicht mehr so ignorant und negativ wie vorhin. Irgendetwas hatte sich entladen und so war es möglich, den jungen Leuten ein paar Worte über die beiden bereits gespielten und die folgenden Musikstücke zu erklären, ohne dass er unterbrochen wurde.Es folgten die Polowetzer Tänze von Alexander Borodin, ein Ungarischer Tanz von Johannes Brahms, ein Slawischer Tanz von Antonin Dvorak, die Zirkuspolka für einen jungen Elefanten von Igor Strawinsky und als krönender Abschluss die Symphonischen Tänze aus West Side Story von Leonard Bernstein. Besonders mit diesem Werk, dessen Inhalt er in seiner Moderation vorstellte, hoffte er, die jungen Leute zu „kriegen“. Und es gelang. Begeistertes Gejohle zum Schluss, Pfiffe, Trampeln, Applaus. Vallier zog sich in seine Garderobe zurück. Irgendeine gute Fee hatte ihm eine Flasche Mineralwasser und einen kleinen Obstteller mit Trauben, Pflaumen und Bananen hingestellt. Vallier bediente sich dankbar. Was war das für ein schwieriges Konzert unter diesen Umständen und mit den unruhigen jungen Leuten gewesen! Gott sei Dank hatte doch noch alles eine gute Wendung genommen.
Es klopfte an der Tür und der Orchesterdirektor trat ein.„Alles soweit in Ordnung, Herr Vallier?“ fragte er. Vallier bejahte, bedankte sich für die Hilfe bei der Beschaffung seiner Ersatz-Konzertkleidung und bot ihm einen Platz an. „Ich habe gehört, Sie haben gar nicht im Hotel Maritim übernachtet? Wie kam das denn?“ fragte der Direktor. „Na, Sie sind gut“ antwortete Vallier. „Es war überhaupt kein Zimmer für mich reserviert und ganz Leipzig scheint zurzeit ausgebucht zu sein. Mit Mühe und Not konnte ich noch ein Zimmer in einer Pension ergattern. Und fragen Sie mich nicht, wie das war, das wollen Sie gar nicht wissen.“
Der Orchesterdirektor war sichtlich zerknirscht und versprach, der Sache nachzugehen. Er habe die schriftliche Bestätigung in seinem Büro und er werde jetzt sofort seine Sekretärin anrufen, die die Sache auf der Stelle überprüfen würde. Binnen fünf Minuten hatte er die Antwort. Das Zimmer war tatsächlich reserviert gewesen, allerdings auf den Namen des Direktors unter der Adresse seines Büros und mit der Einschränkung, dass der Gast bis achtzehn Uhr im Hotel hätte eingetroffen sein oder im Verspätungsfalle dies der Rezeption hätte telefonisch melden sollen. Ansonsten hatte das Hotel das Recht, das Zimmer weiter zu vermieten. Und genau das war passiert.
Vallier war nun tatsächlich erst so gegen halb acht beim Hotel eingetroffen, hatte allerdings nichts von dieser Einschränkung gewusst, sonst hätte er selbstverständlich sein Zuspätkommen angekündigt. Der Orchesterdirektor nahm die Schuld an der Misere auf sich, die Sache war ihm augenscheinlich schrecklich peinlich.
„Lassen Sie’s gut sein“ tröstete ihn Vallier. „Das ist nun einmal passiert und nicht mehr zu ändern. Ich hab’s überlebt, wenngleich nur knapp, weil ich beinahe den Hungertod gestorben und um ein Haar verdurstet wäre, den Verbalattacken einer eingeborenen Vermieterin, einer lautstarken polnischen Truppe Bauarbeiter sowie einer raublüsternen, aber wenigstens kulturbeflissenen Autoknacker-Bande ausgesetzt war. Jetzt lassen Sie uns noch das zweite Konzert über die Runden bringen und dann wird das Ganze ja doch noch ein gutes Ende genommen haben.“ Er streckte dem Orchesterdirektor die Hand hin als Zeichen, dass die Sache nunmehr erledigt sei. Der ergriff sie und bedankte sich für Valliers Verständnis und Nachsicht.
Auch die jungen Besucher des zweiten Konzerts ließen sich von der Musik – und besonders von den Symphonischen Tänzen - fesseln.
Nachdem Vallier seine Arbeit getan und sich vom Orchester und seinem Direktor freundlichst verabschiedet hatte, fuhr er schnurstracks zur Polizei und meldete den Diebstahl. Anschließend suchte er eine Autoglaserei auf, ließ das Fenster reparieren und war am frühen Abend wieder zuhause. Das waren nun wirklich turbulente vierundzwanzig Stunden gewesen.
Und als Resümee des Ganzen konnte Vallier wieder einmal die besonderen Gepflogenheiten seiner Branche zur Kenntnis nehmen. Obwohl die gesamte Serie von insgesamt sechs Konzerten – trotz des einen misslichen Jugendkonzertes – von Publikum und Feuilleton glänzend aufgenommen worden waren, und er sich bei den Gagenverhandlungen sehr entgegenkommend gezeigt hatte, wurde er von dem besagten mitteldeutschen Orchester nie wieder engagiert. Seine Agentur hatte mehrmals seine Bereitschaft für ein weiteres Dirigat signalisiert, aber alle Bemühungen waren ergebnislos geblieben. Es entstand der Eindruck, dass sich der Orchesterdirektor verleugnen ließ - oder die Agentur erhielt die Auskunft, dass alle Dirigenten für die Konzerte der nächsten beiden Jahre schon engagiert worden wären. Auch im Gewandhaus trat er nie wieder auf.