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Javiers Paradies
ОглавлениеMexiko, mal wieder.
Land der Mayas und Inkas.
Der wunderbarsten Traditionen.
Bereits vor einem Jahr war er hier gewesen.
Damals hatte ihn die Riviera Maya gereizt und zugegebenermaßen auch die günstigen Ferienflüge von Madrid aus. Drei Monate Zeit hatte er besessen damals, um mit dem Rucksack umherzureisen und er hatte es offen gelassen wie weit er es von Cancun Richtung Süden und nach Mittelamerika schaffen würde.
„Schaun wir mal“, hatte er zu sich selbst und auch zu seinen fragenden Freunden gesagt.
Vielleicht bis nach Panama. Vielleicht auch nur bis Honduras oder Nicaragua.
Es wurde dann `nur` Belize und Guatemala.
Auch wegen Bea.
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Javier, mittlerweile 33, nutzte damals die Gunst der Stunde, die ihm seine Vertragsauflösung mit seiner Firma nach nur einem Jahr Arbeit gegeben hatte. Im Auflösungsvertrag stand eine sechsmonatige Weiterzahlung des Gehaltes und somit war das nun genau die Antwort auf die Fragen seiner besten Freunde: „Na, wann geht denn unser Weltenbummler wieder auf reisen?“
Vier Jahre lang hatte er keine große lange Rucksackreise mehr gemacht, ganz anders als zu seinen Studentenzeiten, wo er in den Wintersemesterferien immer hart gearbeitet hatte, um dann die Sommersemesterferien mit Reisen zu verbringen.
Damals schon war er äußerst fleißig gewesen in der Abgabe seiner geforderten Hausarbeiten und etliche seiner Professoren hatten immer wieder gestaunt, dass er damit so schnell war. Aber ihm war schnell klar geworden: „Nur in der Studienzeit hast Du viel Zeit, dann leider aber auch wenig Geld und später im normal geregelten Berufsleben hast Du wahrscheinlich ausreichend Geld, dann aber keine Zeit.“
Also nutzte er jetzt die Gelegenheit seines „garden leaves“, um nochmals loszuziehen. `Garden Leave`, Zeit für den Garten, was für eine blumige Umschreibung für einen Rausschmiss.
„Na dann“, waren seine letzten Worte an seine Kollegin Anne, „dann werde ich mich ab jetzt mal um die Blumen kümmern.“ Und beide lachten dabei.
Javier, absolvierter Politikstudent, war eine charismatische Erscheinung. Dunkelblond, mit blauen Augen, die ihm auf Reisen, gerade in die asiatischen und lateinamerikanischen Länder immer interessierte Blicke der Einheimischen einbrachten. Hochstehende Wangenknochen und schlanke Statur. Sommersprossen, die ihm eindeutig von seiner Mutter Marianne vererbt worden waren. Sie hatte ihm als kleinem Jungen immer erzählt, dass diese etwas ganz Besonderes seien. Immer dann auch, wenn die anderen Jungs ihn auf dem Schulhof wieder deswegen gehänselt hatten. Allerdings wuchs er damals für sein Alter recht schnell und so war ihm nicht ganz klar, ob die Beharrung auf der Meinung seiner Mutter gegenüber seinen Mitschülern Eindruck machte oder doch eher seine schon früh ausgewachsene Statur Respekt bezeugte. Jedenfalls hielten sich die gehässigen Sprüche in seiner Gegenwart nicht allzu lange und die Mädels in der Schule und auch später fanden sie laut eigener Aussage toll.
Eins fünfundsiebzig Zentimeter groß war er jetzt bei Abschluss des Wachstums. Stets, auch auf Reisen, gut rasiert und auch mit einer imposanten großen Schulternarbe, die er sich beim Sport als Student im Übermut zugezogen hatte. Er konnte halt schlecht verlieren damals und so hatte er sich die Schulter ausgerenkt bei einem artistischen Fallrückzieher Versuch beim Fußballspielen. Und obwohl die ausgekugelte Schulter und die überstreckten Sehnen innerlich in ihm einen tosenden Schreikrampf verursachten, blieb er äußerlich still und fragte als erstes den herbeigeeilten Betreuer, ob der Ball drin war.
Seine beliebteste Geschichte allerdings dazu war, wenn er denn am Strand nach neugierigen Blicken auf die Schulternarbe danach gefragt wurde immer eine andere.
Sie variierte zwischen einem „Haiangriff im Atlantik vor Biarritz und dem anschließenden Annähen des linken Armes“ bis hin zum „Autounfall an einem entlegenen, unbeschrankten Bahnübergang, wo sein Auto auf den Schienen liegengeblieben sei. Er vom Zug mitgeschleift worden wäre und schließlich von der Feuerwehr nach stundenlangem Warten mit der Kreissäge herausgeschnitten wurde“.
Bis er schließlich nach mehreren Bieren und einigen „Echt, jetzt?“ Zurufen den Zuhörern die seines Erachtens langweilige Story vom Sportunfall beichtete.
Meistens hatte er bis dahin seine Gesprächspartnerinnen so fasziniert, dass dies der bereits gefassten Vertrautheit zu ihm dann auch keinen Abbruch mehr tat und er sich überlegen konnte, wie weit er mit ihr, wenn es eine Dame nach seinem Geschmack war, gehen wollte.
„Man muss Dinge nur richtig darstellen können, um sich interessant zu machen“, meinte er immer auch zu seinen Geschäftspartnern.
Und Eloquenz war ihm zweifelsohne gegeben.
Auch seine valencianischen Freunde bestätigten das.
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Auch Beatrice hatte er diese Geschichten erzählt, als sie ihn das erste Mal am Strand von Caye Caulker auf die lange rosafarbene Narbe an der linken Schulter ansprach.
Denn vor diesem einen Jahr hatte er auf seiner Rucksackreise durch Mexiko, Belize und Guatemala eben diese Beatrice oder besser `Bea` getroffen.
Er wusste es natürlich noch genau.
Sein Reiseplan damals war Tulum-Belmopan-Belize City-Caye Caulker.
Und da saß er nun als `Gringo`, Fremder, im Nachtbus von Tulum nach Belmopan, der Hauptstadt von Belize. Wie alle hatte er wahrlich keine guten Dinge gehört von anderen Backpackern über das Ankommen am dortigen Busbahnhof.
Da war die Rede von Bettlern, Gaunern bis bewaffneten Banditen gewesen. „Überfälle, Abzocke, Antanzen“ waren die Schlagworte in den Geschichten in den einschlägigen Bars der Strandhochburg Tulum an der Costa Maya.
„Passt bloß auf, die sind da unten nicht zimperlich, kein Geld, nix zu Fressen und vollkommen abgedreht durch ihr Ganga! Alle vollkommen zugedröhnt. Am besten ihr geht als Gruppe vom Busbahnhof zum Pier. Da haben sie dann ein bisschen mehr Respekt Euch anzumachen.“
Also hatte man sich im Überlandbus bei diversen Pausen und einer schnellen Zigarette recht schnell miteinander verabredet um die vorgeschlagene Strategie „als Gruppe aufzutreten“ umzusetzen und zusammen weiter nach Caye Caulker zu reisen.
Gesagt – getan. Die Truppe ging geschlossen. Einige von Ihnen eindrucksvoll verbissen guckend vom Busbahnhof bis hin zur Mole. Da, wo die Katamarane zur Überfahrt nach Caye Caulker warteten.
Und sie hatten Erfolg als Gruppe.
Niemand quatschte sie dumm an, obwohl viele Augenpaare sie doch neugierig musterten.
Niemand löste sich so auffällig von der gegenüberliegenden Straßenseite, um sich dann seitlich an `das Opfer anzutanzen`, wie es so schön im europäischen Polizeijargon hieß.
Er liebte diesen Ausdruck, musste er bei der Vorstellung doch immer innerlich schmunzeln und verlor somit auch jeglichen Respekt vor der ankommenden Person, dem antanzenden Gauner.
Er verlor ganz und gar nicht die Vorsicht, nein, nur den Respekt.
Und irgendwie hatte es noch keiner dieser Tänzer auf seinen Reisen geschafft ihm irgendwelche Habseligkeiten zu entwenden.
Er sah sie immer kommen, ob Mann oder Frau, oder besser gesagt, er sah, wie sie sich lösten von der gegenüberliegenden Straßenseite.
Wie ein Schwimmer, der sich vom Beckenrand abstieß.
Bei ihrer Gruppe stieß sich keiner ab.
Hier blieben die Gauner sitzen und warteten scheinbar auf bessere Beute. Eben auf Einzelpersonen, die keinen Ratschlag in einer Bar in Tulum bekommen hatten oder noch besser ein ahnungsloses Backpackerpaar, dass leichtgläubig auf ihren Tanz einging.
„Hola Amigo - „De donde eres?“
„Woher kommst Du?“
„Hola my friend“, sprudelte es dann meist aus dem auftauchenden Kerl als erstes heraus.
Um den Tanz zu eröffnen.
Und dann immer dieser Versuch des ersten Körperkontaktes.
Ätzend. Überall auf der Welt immer dasselbe Schema.
Aber hier in Belize City.
Heute Morgen.
Nichts davon.
Cool!
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Die Konversation innerhalb dieser bunt zusammengewürfelten Truppe war spärlich. Sie waren zu sechst. Fünf Männer, eine Frau, die sie intuitiv in die Mitte nahmen. Eine Zweckgemeinschaft eben, die dann auch nur bis zum Einchecken auf dem Schnellboot hielt. Dann hatte jeder nur noch eines im Sinn.
Wann erschien Caye Caulker am Horizont?
Caye Caulker, ein Traum! Das Paradies!
Ein vorgelagertes Eiland von Belize.
Berühmt unter Backpackern durch seine Bar `Am Split`.
Einer zweistöckigen, notdürftig zusammengeschusterten Hütte, die das eiskalte `Belikin` Bier in Eimern, je acht Bier im Eimer, an die Gäste ausgab, die sich dort vom Nichtstun, vom Tauchen oder von einer großen Ladung Ganga erholten.
`The Split`, weil ein Hurrikan der Stärke fünf vor Jahren über die Insel hinweggefegt war und das sandige Mittelteil auf einer Länge von mehreren hundert Meter einfach mal so mit sich gerissen hatte.
Und so ein Split entstanden war.
Eine Spalte oder ein Riss, wenn man es übersetzen wollte.
Jetzt befand sich hier eine Wasserfurt von mehreren hundert Metern, die gefährliche Strömungen hervorrief und auch ein Jagdrevier für Haie war.
Auch große Haie.
So mancher Idiot, oder waren es lebensmüde Trottel, versuchte ein ums andere Mal die andere unbewohnte Inselseite schwimmend zu erreichen, was oftmals im Desaster endete. Entweder er verpasste das Ufer durch die Strömung und musste dann unter Gelächter der latent unterbesetzten Küstenwacht an einer der kilometerweit entfernten Bojen geborgen werden, wenn er denn eine von denen erreichte.
Oder es fanden sich wie auch immer abgetrennte Körperteile Tage später in den Fischnetzen der Einheimischen.
Hier glaubte mir jeder meine Eingangsgeschichte, was meine Schulter anbelangte.
Gewohnheit macht leichtgläubig.
Allein in der Woche, in der Javier auf der Insel war, wurden zwei Touristen nachhaltig vermisst. Nachhaltig deshalb, weil kurzfristig Vermisste es viele gab.
Das waren die, die nach einem Tag irgendwo wieder aus einem Busch herausgekrabbelt kamen, gerade wieder aufgewacht aus ihren Ganga Träumen oder irgendwelchen magischen Pilzgerichten.
„Nachts schwimmen, nicht gut“, meinten die Einheimischen am Split, „da sind die großen Haie unterwegs.“
Javier hatte schon oft auf seinen Reisen erlebt, wie diese zivilisationsverwöhnten Touris, zu denen er ja eigentlich auch gehörte, sämtliche Vorsichtsmaßnahmen vor Ort in den Wind schlugen.
Was hatte er alles schon gesehen. Leute mit Schlappen im Gebirge. Leute, die ohne Taschenlampe und Karte in Höhlensysteme gingen. Leute, die bei Tiersafaris gegen jede Vernunft das Auto verließen.
Und auch hier auf Caye Caulker meinte der Kapitän, mit dem er eines Tages zum Schnorcheln draußen war, ob er richtig sehen würde am Horizont.
„Was machen denn die da?“, rief er und er zeigte auf zwei fette, rosafarbene Stehpaddlerinnen, die dort bestimmt seit Stunden, erst wohl gedankenverloren, unterwegs waren und nun wohl langsam bemerkten, dass sie viel zu weit hinausgepaddelt waren.
Mann, Mann, Mann, das war doch kein Binnensee hier.
Mädels, seid ihr bescheuert?
„Ohne uns haben die keine Chance zurückzukommen. Bei der Meeresströmung. Keine Chance. Die sieht dann keiner mehr wieder. Der einzige Verleih dieser Dinger ist zwei Stunden westlich von hier. Und nach dieser unbewohnten Busch- und Mangroveninsel dort vorne kommt nix mehr. Nur noch Wasser. Vollkommen crazy die Mädels.“
Wäre unser Boot also nicht zufällig vorbeigekommen, „dann wären die ausgetrocknet auf hoher See“, meinte der Skipper. „Oder später ertrunken, was auch immer… oder beides. Aber zurückgekommen wären die nicht mehr.“
Und half dabei der ersten, die schon schwer nach Sonnenschlag aussah, über die Reling an Bord.
Rückwirkend betrachtet war Javier am meisten schockiert, dass die beiden Frauen sich der Gefahrenlage immer noch nicht wirklich bewusst waren… und wahrscheinlich heute Abend auf den sozialen Medien selbstbewusst und heroisch ihr Abenteuer schildern würden.
Javier hatte da immer so etwas wie einen „Warnkompass“ im Kopf, der ihn abwägen ließ, ob das noch sinnvoll, schon gefährlich oder noch kalkulierbar von den Risiken her sei.
Und das hieß bei `The Split`, never ever, auf die zwischen den Bäumen aufgehängte Schaukel zu steigen und sich laut juchzend in die Strömung zu schaukeln.
Sein Gefahrenkompass funktionierte perfekt, da war er sich sicher!
So leicht brachte er sich nicht selbst in Gefahr.
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