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Anreise zu den Totenkopfschwärmern

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Also nun wieder Mexico.

Fünf Monate waren vergangen und diesmal landete er nicht in Cancun, sondern in Mexico City.

Im Herbst.

Erntezeit.

Kürbiszeit.

Tag der Toten Zeit.

Nein. Zeit der Toten.

Er nahm den Überlandbus am folgenden Morgen.

Mexico City nach Morelia, vom Terminal Central de Autobuses del norte mit dem Überlandbus dreihundert Kilometer westlich. Dann weiter mit einem der lokalen Busse.

Wie damals hatte er auch dieses Mal keine Unterkunft im Voraus gebucht, sondern wollte in der Stadtmitte von Patzcuaro wohnen und nicht allzu fern von Beas Großvater.

Wie er der Einladung auf dem Flug nochmals entnommen hatte, wohnte dieser im Zentrum nahe der Kathedrale.

Die mexikanischen Überlandbusse sind bequemer als man denkt. Klimaanlage, verstellbare Sitze, genügend Beinfreiheit und sogar eine Toilette im rückwärtigen Teil. So schaffte Javier die erste Etappe der Reise nach Morelia in weniger als fünf Stunden und äußerst stressfrei.

Mit etwas Glück sehe ich vielleicht jetzt mal einen dieser Lucha Filme von denen Bea erzählt hat, mit etwas mehr Glück vielleicht aber auch nicht, dachte er beim Einsteigen.

Er schmunzelte bei dem Gedanken.

Der Fernseher im Bus, montiert über dem Sitz des Fahrers, blieb schließlich dann doch still, was ihm das Ohropax ersparte, das er bei solchen Reisen, zumeist wegen nerviger Sitznachbarn immer dabeihatte und ihn die Landschaft genießen ließ.

Und es war wirklich eine beeindruckende Landschaft hier in Zentralmexiko. Leider hatte es diese Gegend in letzter Zeit zu einigen Reisewarnungen in Europa gebracht, denn die Straßenkriminalität und die vielen Morde hier oben schienen komplett außer Kontrolle geraten zu sein, wenn man den Presseartikeln in der Heimat glauben durfte.

Man sprach von über zwanzigtausend Morden im Quartal in dieser Region und die Dunkelziffer dürfte um einiges höher sein, dachte Javier.

Dunkelziffer, schräges Wort dachte er dabei.

„Ob das hier auch auf die Traditionen zurückzuführen war?“, fragte er sich.

„Die Leichtigkeit mit der man ein Leben auslöschte“.

Er würde Bea darauf ansprechen, denn die hatte ja in Sachen, was die hiesige Tradition anbelangte eigentlich immer eine kluge Antwort parat.

So zog die Landschaft an ihm vorbei.

Mal Pinienwälder, mal Kiefernwälder, unterbrochen von beeindruckenden Haciendas, dazwischen rosafarbener Sandstein oder auch schon wieder gebirgige Felsbrocken.

Die Fahrt ging rauf und runter. Immer so um die zweitausend Höhenmeter.

Viele Naturreservate gab es hier.

Er hatte von einem ganz besonderen gelesen.

Dem „Reserva de la Biosfera Mariposa Monarca El Rosario“, wo Millionen von Monarch Schmetterlingen ihr Winterquartier hielten, bevor sie im Frühling wieder nach Kanada aufbrachen.

Das musste wirklich beeindruckend sein. All diese wunderschönen Tiere umherflatternd zu sehen, oder im Takt auf den Blättern der Pflanzen mit ihren Flügeln auf und ab wedelnd.

Leider hielt der Bus dort nicht an, aber er hätte jetzt auch keine Zeit gehabt, das Reservat zu besuchen und schließlich kamen die ersten Monarche auch erst im November dort an.

Dafür war er zu früh.

Hatte er eigentlich Schmetterlinge im Bauch, weil er Bea wiedersehen würde?

Hätte Sie Schmetterlinge im Bauch?

Was dachte er darüber?

„Ich glaube schon“, sagte er sich, und war sich nicht ganz klar, wen von beiden er damit meinte.

Wie hatte jemand so schön gesagt, es war nicht wichtig, dass die Schmetterlinge da waren, sondern dass sie auch in Formation flogen.

Wie dem auch sei, seine Gedanken flogen schon wieder weiter und auch nochmal zurück zu den hiesigen Schmetterlingen.

Er erinnerte sich an eine Vorlesung am philosophischen Kolleg an der Universität Valencia:

Darin hatte es geheißen, dass der Schmetterling archetypisch gesehen das Symbol des Todes war.

Des Todes und auch das Symbol der Transformation.

Der Veränderung.

Der Veränderung vom Hässlichen zum Schönen.

Interessant.

Dem Übergang der Form der Raupe, die mühsam durchs Leben kroch in eine neue Form, die beschwingt und um vieles leichter umherfliegen konnte.

Die Raupe das Leben, der Schmetterling das Nachleben.


„So betrachtet war der Tod ja dann nicht das Schlechteste, was einem wiederfahren konnte“, dachte er leicht amüsiert.

„Aber was war dann nach dem Schmetterling?

„War auch der Tod endlich?“

Gute Frage.

War ihm damals im Kolleg nicht eingefallen, die Frage.

Passiert ja oft, dass die besten Fragen einem immer erst nachher in den Sinn kommen.

Und hier oben also waren gleich mehrere hundert Millionen Schmetterlinge auf einmal anwesend.

Welche Zeichnung hatte der Monarchfalter eigentlich?

Am Ende einen Totenkopf?

Interessanter Gedanke.

Er fuhr zum Dia de los muertos im Oktober und einen Monat später kamen im November die ersten Schmetterlinge hier in den Wäldern an.

Und hatten die Fischer in Patzcuaro nicht sowas wie Schmetterlingsnetze zum Fischen verwandt.

Das hatte er doch in einer Broschüre am Flughafen gelesen.

Dem einzigen Ort auf der Welt, wo es diese Fangmethode gab?

Schluss jetzt mit der ganzen Symbolik beschloss er.

Er würde Bea fragen.

Zu beiden Fragen.

Was wusste sie über die Schmetterlinge hier und was war mit ihren eigenen Schmetterlingen?

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Bea erklärte ihm später, dass jedes Kind hier über die Monarchfalter in den Bergen Bescheid wüsste:

„Die kommen ja seit Jahrhunderten her.“

„Die Wissenschaft kümmert sich schon seit Jahrzehnten darum mehr über die Schmetterlinge und besonders die Monarchen hier zu erfahren.“

Heute weiß man zumindest schon mal so viel:

Nach der Paarung sterben alle Männchen hier in den Bergen um Morelia und Patzcuaro. Doch man weiß heute, dass ihre toten Körper dann immer noch voller Sexuallockstoffe sind. Diese Pheromone sind chemische Substanzen die noch über einen langen Zeitraum und eine lange Strecke wirken können. Komisch nicht?

Und wenn die Schmetterlinge einige Generationen später wiederkommen folgen die Weibchen der Spur dieses Geruches.

Das erklärt, warum die Monarchfalter seit Ewigkeiten, Jahr für Jahr wieder genau diese Berge hier finden.“

„Und wie sieht er aus, der Monarch?“, fragte Javier.

„Orange Schwarz. Ungefähr so groß wie meine Handfläche“, sagte sie und hielt ihm ihre dann doch eher kleine Handfläche vor die Augen.

„Die hängen in großen Trauben aufeinander und überwintern so.“

„Aber der hat jetzt keine Totenkopfzeichnung, der Monarch, oder?“, fragte Javier.

Sie lachte.

„Nein, das wäre schon krass. Er ist einfach schön gezeichnet. Orange Grundfarbe und schwarze Ränder und schwarze Gliederungen, bisschen weiß dabei.“

Und meinte nebenbei:

„Der mit der Totenkopfzeichnung ist der Totenkopfschwärmer.“

„Der kommt nur in Afrika und Mitteleuropa vor“, fuhr sie fort.

Woher wusste sie sowas alles?

„Hättest mir also einen mitbringen können. Aber keine Sorge, mein Großvater ist zwar kein Schmetterling, aber auch ein Totenkopfschwärmer in ganz eigenem Sinne.“

Und lachte dabei. Da klang sehr viel Sympathie mit aus diesem Lachen.

Eine Enkelin, die ihren Großvater, wie schrullig er auch sein mochte, liebte.

Er war gespannt auf Señor Trujillo.

„Wichtigste Nahrungsquelle des Totenkopfschwärmers sind die Nester der Bienen, in die die Falter eindringen, um Honig und Nektar zu saugen. Auffällig ist, dass die Arbeiterinnen der Bienen den Faltern gegenüber keine Aggressivität zeigen. Mit Hilfe von chemischen Substanzen, genauer gesagt, der Produktion von vier verschiedenen Fettsäuren, und jetzt kommts, im genau gleichen Mischungsverhältnis wie es die Bienen haben, gelingt es dem Totenkopfschwärmer die eigentlichen Bewohner des Nestes zu täuschen. Dadurch, dass die Falter den gleichen Geruch wie die Bienen haben, werden sie deshalb nicht als Eindringlinge erkannt und auch nicht angegriffen oder vertrieben. Der Falter kann sich so ungestört im Nest der Bienen volltrinken. Wahnsinn, oder?“, las sie ihm abschließend noch aus einem eigenen Biologiebuch vor.

„Er ist also quasi unsichtbar, obwohl ihn ständig die Gefahr umgibt entdeckt zu werden. Das ist aber anstrengend.“

„Alles Gewöhnung denke ich.“

– Sozusagen ein `Falscher Fuffziger`, ein Mitglied einer Gruppe, der dort nicht wirklich hingehörte.

Die Natur bot schon eigenartige Phänomene.

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An vielen Stellen am Straßenrand wurde natürlich auch das örtliche Kunsthandwerk den Vorbeifahrenden angeboten.

Dies hier war die alte Handelsstraße für Silber und Gold gewesen.

Irgendwo hatte er gelesen, dass hier auch die üppigen Bodenschätze in den vergangenen Zeiten hin zur Küste abtransportiert worden waren.

Auf den Weg gebracht in sein Heimatland.

Von den spanischen Eroberern, die hier wie fast überall in Lateinamerika ihre Spuren, blutige, aber auch schöne, hinterlassen hatten.

Heute fand man hier große Ansammlungen von fein gehämmerten Bronzevasen am Straßenrand, kunstvoll verzierte Sandsteinblöcke und natürlich viel Keramik. Tassen, Teller, Vasen und der Großteil davon bunt verziert.

Orange und Gelb als die vorherrschende Farbe.

Der größte Bevölkerungsanteil bestand hier in Zentralmexiko immer noch aus indianischen Vorfahren und die hielten natürlich die Tradition hoch.

Eine schöne Tradition.

In Morelia angekommen musste er einmal umsteigen.

Der lokale Bus von Morelia nach Patzcuaro war da schon spannender als der bequeme Überlandbus.

Weit aufgereiht waren die gelblackierten typisch amerikanischen Schulbusse, dicht nebeneinanderstehend. Er hatte sich in der angrenzenden Markthalle noch mit Maiskolben, Fajitas und einer Coke eingedeckt und schlenderte jetzt an den Rückseiten der Busse entlang. Nummer 11 war sein Bus.

Und hatte er sich eben noch lustig gemacht über die verschiedenen Aufkleber auf den jeweiligen Bussen, die allesamt Comicfiguren darstellten, so musste er jetzt bei dem Aufkleber seines Busses laut lachen.

Da waren gewesen Speedy Gonzales (da wollte er sicher nicht mitfahren, war das doch bestimmt auch des Fahrers Einstellung zu Geschwindigkeit und Draufgängertum), der Roadrunner (ob das besser war?), Bugs Bunny, Daffy Duck, viele Tweetys und, man staune, auch ein „Schweinchen Dick“ Bus (mit dem Bus würde es wahrscheinlich gemütlich werden und auch Essen gereicht. Bei dem Gedanken musste er wieder schmunzeln) ... und auch die ein oder andere Lucha Maske der Peleones Kämpfer.

Und sein Bus?

An seinem Bus klebte mit einem herausfordernden satten Grinsen und zwei rauchenden Pistolen in den Händen der rotbärtige Yosemite Sam.

Der Sam, der in den Comicfilmen immer auf alles und jeden schoss und keinerlei Verhandlungen mochte oder Kompromisse einging.

Ach du Scheiße, sein Busfahrer also war Fan von Yosemite Sam.

Garniert mit einem satten Comiclaut Aufkleber drunter, der nur aus zwei Lauten bestand „Roaaaar, Roaaaar“

Auf Caye Caulker war das Motto `Go slow` gewesen, in Costa Rica `Viva la Vida`, Lebe das Leben, und hier am Busbahnhof von Morelia war es `Arriba, Arriba, Andale, Andale` – Schnell, Schnell, Vorwärts, Vorwärts.

Gut, dass sie nach Patzcuaro nicht über irgendwelche schrägen Passtrassen fuhren würden.

Sein Leben war ihm lieb.

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Der Bus nahm einen kleinen Umweg.

Kurz vor Patzcuaro bog er nochmal von der Nationalstraße ab, um mehreren Passagieren, zwei davon vollbepackt mit Hühnern in Tragenetzen und etlichen anderen Utensilien, den Nachhauseweg zu erleichtern.

Und um auch das fällige Trinkgeld des Fahrers zu verbessern.

Bei Tzintzuntzan fuhr er den Seeweg entlang, vorbei an Ichupio, Tarerio nach Cucuchuchu. Hätte man ihm vor seiner Abreise all diese Ortsnamen aufgezählt, dann hätte er bestimmt wieder an einen Comic gedacht, Yosemite Sam vom Heck des Buses ließ grüßen, doch all diese Dorfnamen kamen schlicht und einfach aus der Purepecha Sprache.

Und von Cucuchuchu aus konnte man mitten im See liegend die Insel Janitzco sehen.

Jene Insel, die in der Nacht des Dias de los muertos mit hunderten Kleinbooten von den Einheimischen angesteuert, drapiert mit einer Kerze im Bug. Als Ziel hatten alle diese Ruderer und Insassen den malerisch gelegenen Friedhof der Insel im Sinn, denn dort fand in dieser Nacht, wie immer an diesem Daum, ein gemeinsames fröhliches Fest für die Toten statt.

In Tzintzuntzan gab es darüber hinaus eindrucksvolle Ruinen. Ganz in schwarz und sehr geheimnisvoll lagen sie da im gerodeten Gras.

„Na, wenn man Chichen Itza oder Tikal gesehen hat, ist das hier aber jetzt nicht der Bringer“, dachte Javier.

Aber eigentlich hatte er in dieser Gegend überhaupt nicht mit solchen alten Kulturstätten der Azteken gerechnet.

„Es gibt doch immer wieder Überraschungen“, sprach er leise vor sich hin.

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Lewis, einer der Teilnehmer des Abends bei Esteban Trujillo meinte später in einer kurzen Pause zu ihm, „die Purepecha Indianer hätten ihren Mittelpunkt des Reiches früher nach Tzintzuntzan verlegt, da wäre eine Verteidigung gegen die Azteken einfacher gewesen.“

„Ach so, ja, da bin ich mit dem Bus vorbeigekommen, das waren diese kleinen dunklen Stätten. Ich dachte das wäre von den Azteken.“

Ach nein,“ meinte Lewis daraufhin, „nicht alles ist immer aztekisch oder von den Maya oder Inkas hier.“ Er hatte diese überhebliche Art des Besserwissers, die seinem Gegenüber spüren ließ, dass er nicht viel von ihm hielt.

„Den Purepecha zum Beispiel ist es gelungen nie von den Azteken geschlagen zu werden, obwohl diese angeblich so viel stärker waren und erst als die Spanier kamen haben sie sich ergeben, da man nicht wie die Azteken ausgeplündert werden wollte. Ich denke, die hatten so manches Geheimnis zu bewahren, das nicht entdeckt werden sollte.“

„Gold?“

„Wer weiß? Gold kann man verstecken. Gerade in dieser Gegend hier. Aber vielleicht hatten die eher Interesse den gesamten Ort als Ganzes zu bewahren?“

„Wir werden es nicht rausfinden, Lewis“ und damit schloss Javier damals ihr kurzes Gespräch.

Sie kamen an dem Abend auch nicht mehr dazu dies weiter zu verfolgen.

Heute wusste Javier, nachdem er dies nach all seinen Eindrücken seiner Reise nachgeforscht hatte, dass anders als die Azteken die kupfersteinzeitlichen Purepecha bereits Kenntnisse in der Waffenfertigung mit Metall hatten.

Das machte sie für die Azteken natürlich zu gefährlichen Gegnern.

Als die spanischen Eroberer 1525 nach Michoacan kamen, ergab sich der Führer der Purepecha, Tangaxuan II. kampflos. 1530 begann Nuño de Guzmán, einer der brutalsten Eroberer unter den Einwanderern, das Land auszuplündern und ermordete Tangaxuan II. Danach flohen große Teile der Purepecha in die Berge und nahmen auf Ihrer Flucht natürlich alles Wertvolle mit.

Aufgrund dieser Erfahrung mit den spanischen Eroberern begannen sie eine bis dahin nicht gekannte Versteckkultur ihrer wichtigsten Reliquien.

Nun wurde nicht mehr ein Vorzeigeritual zelebriert, sondern man verfiel auf das reine Erzählen und dem Berichten an die Nachkommen, dass es diese Gegenstände tief in der Mutter Erde gäbe.

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