Читать книгу Philosophisches Taschenwörterbuch - Voltaire - Страница 24

CERTAIN, CERTITUDE – Gewiss, Gewissheit

Оглавление

»Wie alt ist Ihr Freund Christoph?« »Achtundzwanzig Jahre. Ich habe seinen Ehevertrag und seinen Taufschein gesehen, ich kenne ihn seit seiner Kindheit; er ist achtundzwanzig Jahre alt, ich habe die Gewissheit, ich bin mir gewiss.«

Kaum habe ich die Antwort dieses Mannes vernommen, der sich dessen, was er sagt, so sicher ist, und von zwanzig anderen, die dasselbe bestätigen, da erfahre ich, dass man aus geheimen Gründen mit einem einzigartigen Trick Christophs Taufschein vordatiert hat. Diejenigen, mit denen ich gesprochen hatte, wissen davon noch nichts; sie haben immer noch die Gewissheit von etwas, das nicht so ist.

Hätte man vor der Zeit von Kopernikus die Leute auf der ganzen Welt gefragt: »Ist die Sonne heute aufgegangen, ist sie untergegangen?«, so hätten alle Leute geantwortet: »Wir sind uns dessen ganz sicher«; sie waren sich sicher und sie befanden sich dennoch im Irrtum.

Die Zauberei, das Wahrsagen, Wahngebilde sind in den Augen aller Völker lange Zeit die sicherste Sache auf der Welt gewesen; welche unabsehbar große Menge von Menschen hat alle diese schönen Dinge gesehen und war sich deren sicher! Heute hat diese Gewissheit ein wenig nachgelassen.

Ein junger Mann, der mit dem Studium der Geometrie beginnt, sucht mich auf. Er ist erst bis zu der Definition von Dreiecken gekommen. »Sind Sie sich nicht sicher«, so frage ich ihn, »dass die drei Winkel eines Dreiecks so groß wie zwei rechte Winkel sind?« Er erwidert mir, er sei sich dessen nicht nur keineswegs sicher, sondern er habe sogar noch nicht einmal eine klare Vorstellung von diesem Lehrsatz. Ich beweise ihn ihm, so wird er sich seiner ganz sicher und wird es sein Leben lang bleiben.

Hier gibt es eine von den anderen sehr unterschiedliche Gewissheit; diese waren nur Wahrscheinlichkeiten und entpuppten sich bei näherer Untersuchung als Irrtümer, doch die mathematische Gewissheit ist unwandelbar und ewig.

Ich existiere, ich denke, ich empfinde Schmerz, ist all dies ebenso sicher wie eine geometrische Wahrheit? Ja. Weshalb? Deshalb, weil diese Wahrheiten nach dem gleichen Prinzip bewiesen sind, dass eine Sache nämlich nicht gleichzeitig sein und nicht sein kann.* Ich kann nicht gleichzeitig existieren und nicht existieren, empfinden und nicht empfinden. Ein Dreieck kann nicht gleichzeitig eine Winkelsumme von hundertachtzig Grad haben, was zwei rechten Winkeln entspricht, und sie nicht haben.

Die physische Gewissheit meiner Existenz, meines Empfindens und die mathematische Gewissheit sind also von gleichem Wert, obgleich sie von verschiedener Art sind.

Mit der Gewissheit, die durch den Augenschein begründet ist oder durch übereinstimmende Berichte, wie sie uns Menschen erstatten, ist es nicht dasselbe.

»Aber«, wird man mir entgegenhalten, »sind Sie sich nicht sicher, dass Peking existiert? Haben Sie keine Stoffe aus Peking bei sich zu Hause? Haben Sie etwa nicht Menschen aus verschiedenen Ländern und verschiedener Meinung, die heftig gegeneinander geschrieben haben, aber alle in Peking die Wahrheit predigten, haben die Sie nicht der Existenz dieser Stadt versichert?« Darauf antworte ich, dass es mir äußerst wahrscheinlich erscheint, dass es damals eine Stadt Peking gab, ich aber nicht mein Leben verwetten möchte, dass diese Stadt existiert. Hingegen würde ich, wann immer man mich fragte, mein Leben dafür einsetzen, dass die drei Winkel eines Dreiecks genauso groß sind wie zwei rechte Winkel.

Man hat in der Enzyklopädie eine sehr amüsante Geschichte abgedruckt; man behauptet dort, dass ein Mensch sich ebenso sicher, ebenso gewiss sein müsste, dass der Marschall von Sachsen wiederauferstanden ist, wenn ganz Paris ihm das erzählt, wie er sich sicher ist, dass der Marschall von Sachsen die Schlacht von Fontenoy* gewonnen hat, wenn ganz Paris es ihm sagt. Sehen Sie sich doch bitte diese wunderbare Argumentation an; ich glaube ganz Paris, wenn man mir etwas erzählt, das allem Anschein nach möglich ist, also muss ich den Parisern auch glauben, wenn man mir etwas erzählt, das weder dem Anschein nach noch physikalisch möglich ist.

Allem Anschein nach hat der Autor dieses Artikels seinen Spaß haben wollen, und der andere Autor, der am Ende dieses Artikels in Begeisterung gerät, schreibt gegen sich selbst und wollte auch lachen.*

Philosophisches Taschenwörterbuch

Подняться наверх