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Zweites Gespräch
ОглавлениеZISI
Sie stimmen also zu, dass es ein allmächtiges Wesen gibt, das aus sich selbst heraus existiert und der über Allem stehende Schöpfer der gesamten Natur ist?
GU
Ja, aber wenn er aus sich selbst heraus existiert, kann ihn also nichts einschränken, er ist demnach überall? Er ist also in der gesamten Materie vorhanden, in allen Teilen meiner selbst?
ZISI
Warum nicht?
GU
Ich wäre demnach selbst ein Teil der Gottheit?
ZISI
Das folgt vielleicht nicht daraus. Dieses Stück Glas wird ganz und gar vom Licht durchdrungen, ist es deshalb selbst Licht? Es ist nur Sand, und weiter nichts. Alles ist zweifellos in Gott, denn was allem Leben verleiht, muss überall sein. Gott ist nicht wie der Kaiser von China, der in seinem Palast wohnt und seine Befehle durch seine Kolaos* übermitteln lässt. Sobald er existiert, erfüllt seine Existenz notwendigerweise den ganzen Raum und alle seine Werke, und da er in Ihnen ist, ist das eine beständige Mahnung, nichts zu tun, für das Sie vor ihm erröten müssten.
GU
Was muss man tun, um es noch wagen zu können, sich ohne Abscheu vor sich selbst und ohne Scham vor dem höchsten Wesen anzusehen?
ZISI
Gerecht sein.
GU
Und was noch?
ZISI
Gerecht sein.
GU
Aber die Sekte des Laotse sagt, dass es weder Gerechte noch Ungerechte gibt, weder Laster noch Tugend.
ZISI
Sagt die Sekte des Laotse auch, dass es keine Gesundheit und keine Krankheit gibt?
GU
Nein, einen so einen großen Irrtum äußert sie keineswegs.
ZISI
Der Irrtum, zu denken, es gebe weder die Gesundheit der Seele noch die Krankheit der Seele, weder Tugend noch Laster, ist ebenso groß und noch verhängnisvoller. Diejenigen, die gesagt haben, dass alles das Gleiche sei, sind Monster. Ist es denn das Gleiche, seinen Sohn zu nähren oder ihn auf dem Stein zu zerquetschen? Seiner Mutter Hilfe zu leisten oder ihr einen Dolch ins Herz zu stoßen?
GU
Sie machen mich schaudern, ich verabscheue die Sekte des Laotse; aber es gibt so viele Abstufungen von Recht und Unrecht! Da ist man häufig sehr unsicher. Welcher Mensch weiß genau, was erlaubt oder was verboten ist? Wer kann schon mit Sicherheit Grenzen ziehen, die das Gute vom Bösen trennen? Welche Regel können Sie mir angeben, um sie voneinander zu unterscheiden?
ZISI
Die des Konfuzius, meines Meisters: Lebe, wie du gelebt haben möchtest, wenn du stirbst; behandele deinen Nächsten, wie du willst, dass er dich behandelt.*
GU
Diese Maximen, das gebe ich zu, sollten der Moralkodex der Menschheit sein. Aber was wird mir im Augenblick des Todes daran liegen, richtig gelebt zu haben? Was werde ich damit gewinnen? Wird diese Uhr, wenn sie einst zerstört wird, glücklich sein, die Stunden gut geschlagen zu haben?
ZISI
Diese Uhr fühlt nicht, denkt nicht, sie kann keine Gewissensbisse haben, und Sie haben welche, wenn Sie sich schuldig fühlen.
GU
Doch was ist, wenn es mir gelingt, nachdem ich mehrere Verbrechen begangen habe, keine Gewissensbisse mehr zu haben?
ZISI
Dann wird man Sie umbringen müssen, und seien Sie sicher, dass sich unter den Leuten, die es nicht mögen, wenn man sie unterdrückt, welche finden werden, die Sie außer Stande setzen, neue Verbrechen zu begehen.
GU
So wird also Gott, der in ihnen ist, ihnen erlauben, böse zu sein, nachdem er mir erlaubt hatte, es zu sein?
ZISI
Gott hat Ihnen die Vernunft gegeben, missbrauchen Sie sie nicht, weder Sie noch die anderen. Sie werden nicht nur in diesem Leben unglücklich sein, denn wer hat Ihnen gesagt, dass Sie es dann nicht noch in einem anderen sein werden?
GU
Und wer hat Ihnen gesagt, dass es ein anderes Leben gibt?
ZISI
Auch im Zweifel sollten Sie sich so verhalten, als ob es eines gebe.
GU
Aber wenn ich sicher bin, dass es überhaupt keines gibt?
ZISI
Das beweisen Sie mir erst einmal.