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ÂME – Seele
ОглавлениеKönnte man in seine Seele blicken, so wäre dies eine gute Sache. Erkenne dich selbst ist eine vortreffliche Verhaltensregel, doch Gott allein vermag sie anzuwenden, denn wer außer ihm ist in der Lage, sein eigenes Wesen zu erkennen?
Als Seele bezeichnen wir, was beseelt. Weil unser Verstand beschränkt ist, wissen wir davon kaum mehr. Drei Viertel der Menschheit kommen darüber nicht hinaus und scheren sich nicht um das denkende Wesen, das letzte Viertel sucht, doch hat niemand jemals etwas gefunden, noch wird jemals irgendjemand etwas finden.
Armer Philosoph, du siehst eine Pflanze wachsen und sagst Wachstum oder sogar vegetative Seele.* Du bemerkst, dass Körper sich bewegen und Bewegung erzeugen, und sagst: Kraft; du siehst, wie dein Jagdhund durch dich zu jagen lernt, und da entfährt dir Instinkt, fühlende Seele; du verbindest Vorstellungen miteinander und du sagst Geist.
Aber mit Verlaub, was verstehst du unter den Worten: »Diese Blume wächst«? Aber gibt es ein reales Wesen, das Wachstum heißt? Jener Körper stößt einen anderen an, aber hat er ein von ihm unterschiedenes Wesen in sich, das sich Kraft nennt? Jener Hund bringt dir ein Rebhuhn, aber gibt es ein Wesen namens Instinkt? Würdest du nicht auch über einen Klugschwätzer lachen (und sei er auch der Lehrmeister Alexanders des Großen gewesen), der zu dir sagte: »Alle Tiere leben, also gibt es in ihnen ein Sein, eine substantielle Form, die das Leben ist?«
Wenn nun eine Tulpe sprechen könnte und zu dir sagte: »Mein Wachstum und ich, wir sind offensichtlich zwei miteinander verbundene Wesen« – würdest du die Tulpe da nicht auslachen?
Sehen wir uns zunächst einmal an, was du weißt und worüber du dir sicher bist: nämlich, dass du mit deinen Füßen gehst, mit deinem Magen verdaust, mit deinem ganzen Körper fühlst und mit deinem Kopf denkst. Dann wollen wir sehen, ob allein dein Verstand dir genügend Einsicht verschafft hat und dich – ohne Rückgriff auf Übernatürliches – zu dem Schluss gelangen lässt, dass du eine Seele besitzt.
Die ersten Philosophen, ob es sich nun um Chaldäer oder um Ägypter handelte, sagten: »Es muss in uns etwas geben, das unsere Gedanken hervorbringt, dieses Etwas muss sehr fein sein, es ist ein Hauch, es ist Feuer, es ist Äther, es ist die Essenz von allem, es ist ein flüchtiges Trugbild, es ist eine Entelechie*, es ist eine Zahl, es ist eine Harmonie.« Schließlich, dem göttlichen Platon zufolge,* ist es die Verbindung des Selbst mit dem Anderen. Es sind die Atome, die in uns denken, hat nach Demokrit auch Epikur gesagt. Aber, mein Freund, wie denkt ein Atom? Gib zu, dass du darüber nichts weißt.
Gewiss muss man sich der Ansicht anschließen, dass die Seele ein immaterielles Wesen ist. Doch worin dieses immaterielle Wesen besteht, versteht ihr bestimmt nicht. »Nein«, antworten die Gelehrten, »aber wir wissen, dass es ihrer Natur entspricht, zu denken.« Und woher wisst ihr das? »Wir wissen es, weil sie denkt.«* O ihr Gelehrten! Ich fürchte wohl, ihr seid ebenso unwissend wie Epikur: es entspricht der Natur eines Steins, zu fallen, weil er fällt – aber ich frage euch, was bewirkt, dass er fällt?
»Wir wissen«, fahren sie fort, »dass ein Stein keine Seele hat.« Einverstanden, davon bin ich genauso überzeugt wie ihr. »Wir wissen auch, dass eine Negation und eine Affirmation nicht teilbar, also nicht materiell sind.«* Da bin ich ganz eurer Ansicht. Aber die Materie, die uns im Übrigen unbekannt ist, besitzt auch nicht-materielle Eigenschaften, die nicht teilbar sind. So wird sie von der Schwerkraft gegen ein Zentrum hingezogen, das Gott ihr gegeben hat. Nun hat diese Gravitation keine Teile und ist in keiner Weise teilbar. Die Kraft, die Körper bewegt, ist kein aus Teilen zusammengesetztes Wesen. Das Wachstum belebter Körper, ihr Leben, ihr Instinkt, sind ebenfalls keine Einzelwesen, Wesen, die man teilen kann. Das Wachstum einer Rose, das Leben eines Pferdes, den Instinkt eines Hundes könnt ihr ebenso wenig zerteilen wie eine Empfindung, eine Negation, eine Affirmation. Euer schönes Argument, das ihr aus der Unteilbarkeit des Denkens gewinnt, beweist folglich gar nichts.
Was also nennt ihr eure Seele? Welche Vorstellung habt ihr davon? Ohne Offenbarung könnt ihr in euch nichts anderes annehmen als eine euch unbekannte Kraft, zu fühlen und zu denken.
Und nun sagt mir ehrlich, ob diese Kraft zu fühlen und zu denken dieselbe ist, die euch die Fähigkeit verleiht, zu verdauen und zu gehen? Ihr gebt zu, dass das nicht der Fall ist, denn es wäre vergeblich, wenn euer Verstand zu eurem Magen sagte: verdaue – er würde nichts dergleichen tun, wenn er krank ist; vergebens würde euer immaterielles Wesen den Füßen befehlen, zu gehen – wenn sie die Gicht haben, verharren sie an Ort und Stelle.
Den Griechen war sehr wohl bewusst, dass das Denken oftmals nichts mit dem Zusammenwirken unserer Organe zu tun hat. Den Organen haben sie eine animalische Seele zugewiesen und dem Denken eine feinere, subtilere Seele, ein nous.*
Doch da ist nun diese denkende Seele, die bei tausend Gelegenheiten über die animalische Seele die Aufsicht führt. Die denkende Seele befiehlt ihren Händen zu greifen, und sie greifen. Doch befiehlt sie ihrem Herzen nicht, zu schlagen, dem Blut nicht, zu fließen, dem Verdauungsbrei nicht, sich zu bilden, all dies geschieht ohne ihre Einwirkung: da wären nun zwei recht verlegene Seelen, die recht wenig Herr im eigenen Hause sind.
Diese erste, animalische Seele existiert somit gewiss nicht, denn sie ist nichts anderes als die Bewegung eurer Organe. Gib Acht, o Mensch, denn deine schwache Vernunft liefert dir auch nicht mehr Beweise dafür, dass die andere Seele existiert. Du kannst es allein durch den Glauben wissen. Du wirst geboren, du lebst, du handelst, du denkst, du wachst, du schläfst, ohne zu wissen, warum. Gott hat dir die Fähigkeit zu denken gegeben, wie er dir auch alles Übrige gab, und wäre er nicht gekommen, dich zu der Zeit, die er vorherbestimmt hatte, zu lehren, dass du eine immaterielle und unsterbliche Seele besitzt, so hättest du keinen einzigen Beweis dafür.
Lasst uns nun die großartigen Systeme betrachten, die deine Philosophie über diese Seelen verfertigt hat.
Das eine besagt, dass die menschliche Seele Teil des göttlichen Wesens selbst ist,* das andere, dass sie ein Teil des großen Ganzen ist,* ein Drittes, dass sie seit eh und je erschaffen ist,* ein Viertes, dass sie gemacht und nicht erschaffen ist.* Andere wiederum versichern, dass Gott die Seelen in dem Maße anfertigt, wie man es benötigt, und dass sie zum Zeitpunkt der Begattung eintreten.* »Sie lassen sich in den Samentierchen nieder«, ruft dieser. – »Nein«, sagt jener, »sie bewohnen den Eileiter.« – »Ihr habt alle unrecht«, meint einer, der zufällig dazukommt, »die Seele wartet sechs Wochen, bis sich der Fötus herausgebildet hat, dann besetzt sie die Zirbeldrüse, stößt sie aber auf eine Fehlgeburt, zieht sie sich zurück und wartet auf eine bessere Gelegenheit.« Die letzte Meinung ist, dass das Corpus callosum* ihre Behausung ist, dies ist der Ort, den ihr La Peyronie zuweist; man musste Erster Chirurg des Königs von Frankreich sein, um solcherart über den Aufenthalt der Seele bestimmen zu können. Jedoch war seinem Corpus callosum nicht die gleiche Karriere beschieden wie dem Chirurgen selbst.
Der heilige Thomas sagt in der 75. und den folgenden seiner Quaestiones, dass die Seele eine für sich selbst existierende Form ist, dass sie das Ganze selbst ist, dass sich ihr Wesen von ihrer Kraft unterscheidet; dass es drei vegetative Seelen gibt, nämlich die ernährende, die vermehrende, die erzeugende; dass die Erinnerung an geistige Dinge geistig ist, die an körperliche körperlich; dass die vernünftige Seele ein Gebilde ist immateriell hinsichtlich der Handlungen und materiell hinsichtlich des Seins. Der heilige Thomas hat mit solcher Kraft und Deutlichkeit 2000 Seiten geschrieben, und deshalb ist er auch der Engel der Scholastik.*
Nicht weniger Systeme hat man über die Art gemacht, wie diese Seele fühlt, wenn sie ihren Körper, mit dem sie fühlte, verlassen hat; wie sie hört ohne Ohren, riecht ohne Nase und berührt ohne Hand; welchen Leib sie dann wieder annehmen wird, ob es derjenige ist, den sie im Alter von zwei, oder jener, den sie im Alter von achtzig Jahren hatte; wie das Ich, die Identität der Person, überdauern wird. Wie die Seele eines Mannes, der mit fünfzehn Jahren schwachsinnig wurde und im Alter von siebzig Jahren schwachsinnig starb, an die Gedanken anknüpfen wird, die sie hatte, als er in der Pubertät war. Durch welchen geschickten Kniff findet eine Seele, deren Bein in Europa abgetrennt wurde und die einen Arm in Amerika verlor, dieses Bein und diesen Arm wieder, welche, da sie sich unterdessen in Gemüse verwandelt haben, ins Blut irgendeines anderen Tieres übergegangen sind? Man würde nie ein Ende finden, wollte man von all den Narrheiten berichten, die sich die arme Menschenseele über sich selbst eingebildet hat.
Was allerdings sehr bemerkenswert ist: In den Gesetzen des auserwählten Volkes wird nicht ein einziges Wort über die Geistesnatur oder die Unsterblichkeit der Seele verloren, weder in den Zehn Geboten noch im Levitikus und auch nicht im Deuteronomium.*
Es ist absolut unbezweifelbar, dass Mose den Juden nirgendwo Belohnungen oder Strafen in einem anderen Leben in Aussicht stellt, er spricht nie zu ihnen von der Unsterblichkeit ihrer Seelen, er macht ihnen keine Hoffnung auf den Himmel, droht ihnen nicht mit der Hölle: alles ist vergänglich.
Bevor er stirbt, sagt er zu ihnen in seinem Deuteronomium: »Wenn ihr Kinder und Kindeskinder gezeugt haben werdet und vergesst eure Pflichten, werdet ihr aus dem Land ausgetilgt und werdet unter den Völkern zerstreut werden.«
»Ich bin ein eifersüchtiger Gott, der die Schuld der Väter bis in die dritte und vierte Generation heimsucht.«
»Ehret euren Vater und eure Mutter, damit ihr lange lebt.«
»Ihr werdet zu essen haben, ohne jemals Mangel zu leiden.«
»Wenn ihr fremden Göttern dient, werdet ihr zerstört …«
»Wenn ihr gehorcht, werdet ihr Regen im Frühjahr, Weizen im Herbst haben, Öl, Wein, Heu für euer Vieh, damit ihr esst und satt werdet.«
»Tragt diese Worte im Herzen, an euren Handgelenken, auf eurer Stirn, schreibt sie über eure Türen, damit sich eure Tage vermehren.«
»Tut, was ich euch befehle, ohne etwas hinzuzufügen noch wegzunehmen.«
»Wenn sich ein Prophet erhebt, der Wunderdinge weissagt, und wenn seine Weissagung wahrhaftig ist und was er gesprochen hat, eintritt, und er sagt zu euch: ›Lasst uns fremden Göttern folgen‹, tötet ihn auf der Stelle, und das ganze Volk schlage ihn nach euch.«
»Wenn der Herr euch Völker ausgeliefert hat, erwürgt jeden, ohne einen einzigen Mann zu verschonen, und habt mit niemandem Mitleid.«
»Esst keine unreinen Vögel wie den Adler, den Greif, den Ixion.«
»Esst keine Tiere, die wiederkäuen und deren Klauen nicht gespalten sind wie das Kamel, den Hasen, das Stachelschwein usw.«
»Befolgt ihr all die Gebote, werdet ihr gesegnet sein in der Stadt und auf dem Land, die Früchte eures Leibes, eurer Erde, eures Viehs werden gesegnet sein.«
»Wenn ihr nicht alle Gebote und alle Zeremonien befolgt, werdet ihr in der Stadt und auf dem Land verflucht sein, ihr werdet Hunger und Armut erleiden, werdet an Elend, Kälte, Armut, Fieber sterben. Ihr werdet den Grind, die Krätze, Fisteln bekommen, ihr werdet Geschwüre an Knien und Schenkeln bekommen.«
»Der Fremde wird euch zu Wucherzinsen leihen, ihr werdet ihm nicht auf Wucherzinsen leihen können, weil ihr dem Herrn nicht gedient habt.«
»Und ihr sollt die Frucht eures Leibes essen und das Fleisch eurer Söhne und eurer Töchter«, usw.
Ganz offensichtlich handeln alle diese Verheißungen und Drohungen von nichts als Vergänglichem, und man findet darin kein Wort über die Unsterblichkeit der Seele oder das zukünftige Leben.
Mehrere hochberühmte Kommentatoren haben geglaubt, dass Mose über diese beiden wichtigen Dogmen bestens Bescheid wusste, und sie beweisen dies mit den Worten Jakobs, der, als er seinen Sohn von Tieren verschlungen glaubte, in seinem Schmerz ausrief: Ich werde mit meinem Schmerz in die Grube fahren, ins Inferno, in die Hölle; das heißt: Ich werde sterben, da mein Sohn tot ist.
Sie beweisen es noch mit Passagen aus Jesaja und Hesekiel – aber die Hebräer, zu denen Mose sprach, konnten weder Hesekiel noch Jesaja, die erst mehrere Jahrhunderte danach lebten, gelesen haben.
Es ist völlig unnütz, über Moses verborgene Gefühle zu streiten: Tatsache ist, dass er in seinen Gesetzen, die er dem Volk gab, nie über ein zukünftiges Leben sprach und alle Strafen oder Belohnungen auf das gegenwärtige Leben begrenzt. Wenn er von dem künftigen Leben wusste, warum hat er dann dieses wichtige Dogma nicht ausdrücklich erwähnt? Und falls er es nicht kannte, was war dann der Zweck seiner Mission? Dies ist eine Frage, die viele große Persönlichkeiten stellen. Sie antworten, dass Moses und aller Menschen Herr sich das Recht vorbehielt, den Juden zu einer von ihm bestimmten Zeit eine Lehre zu erklären, die sie während ihres Aufenthalts in der Wüste nicht imstande gewesen seien zu verstehen.
Wenn Mose das Dogma der Unsterblichkeit verkündet hätte, so wäre es nicht von einer der großen Gelehrtenschulen der Juden immerfort bekämpft worden. Die große Schule der Sadduzäer wäre vom Staat nicht zugelassen, nicht mit den erstrangigen Staatsaufgaben betraut worden, und man hätte keine Hohenpriester aus ihrer Mitte gewählt.
Es scheint, als hätten sich die Juden erst nach der Gründung Alexandrias in drei Sekten aufgeteilt: die Pharisäer, die Sadduzäer und die Essener. Der Historiker Flavius Josephus, ein Pharisäer, erklärt uns im 13. Buch seiner Jüdischen Altertümer, dass die Pharisäer an die Seelenwanderung glaubten, die Sadduzäer an den Untergang der Seele mit dem Körper, die Essener – sagt ebenfalls Josephus – hielten die Seele für unsterblich. Ihnen zufolge kamen die Seelen aus den höchsten Schichten der Atmosphäre in luftiger Form zu den Körpern herunter, wo sie von einer gewaltigen Anziehungskraft festgehalten werden, und nach dem Tod bleiben diejenigen, welche guten Menschen angehört haben, jenseits des Ozeans, in einem Land, wo es weder warm noch kalt ist, wo es weder Wind noch Regen gibt. Die Seelen der Bösen kommen in ein völlig entgegengesetztes Klima. Solcherart war die Theologie der Juden.
Derjenige aber, der alleine die ganze Menschheit lehren sollte, verurteilte alle drei Sekten, aber ohne ihn hätten wir niemals etwas über unsere Seele erfahren können, weil ja die Philosophen niemals eine präzise Vorstellung von ihr hatten, und Mose, der einzige wirkliche Gesetzgeber der Welt vor dem unseren, Mose, der mit Gott von Angesicht zu Angesicht sprach und ihn dabei nur von hinten sah, hat die Menschen in einer tiefen Unkenntnis über diesen erhabenen Gegenstand gelassen. Daher ist man sich erst seit siebzehnhundert Jahren der Existenz der Seele und ihrer Unsterblichkeit gewiss.
Cicero hatte nur Vermutungen, sein Enkel und seine Enkelin konnten die Wahrheit von den ersten Galiläern, die nach Rom kamen, erfahren.
Aber vor dieser Zeit und seither auch in der ganzen übrigen Welt, wo die Apostel nicht hinkamen, sagte jedermann zu seiner Seele: Wer bist du, woher kommst du, was tust du, wohin gehst du? Du bist ich weiß nicht was, du denkst und fühlst, aber auch wenn du hunderttausend Millionen Jahre fühlen und denken würdest, wirst du doch niemals aus eigener Erkenntnis, ohne die Hilfe eines Gottes, mehr darüber wissen können.
O Mensch, dieser Gott hat dir den Verstand gegeben, damit er dich gut leite, aber nicht, damit du in das Wesen der Dinge dringst, die er geschaffen hat.