Читать книгу Die Sennerin aus der Großstadt - Vroni Müller - Страница 13
ОглавлениеRosi las sich die kargen Worte ohne viele Schnörkel noch einmal durch.
„Soso, dann will der Peter wirklich nicht mehr auf die Alm“, murmelte sie vor sich hin, ganz in Gedanken versunken.
Den alten Griesgram tolerierte das gesamte Dorf manchmal nur mit äußerster Willensanstrengung. Er hatte, so lange man denken konnte, ein Haus an der Hauptstraße, das ihm eine verhuschte, farblose Ehegattin auf Vordermann brachte. Zwei Kinder hatte man auch miteinander, wobei man sich anhand der offensichtlichen Lieblosigkeit zwischen den Eheleuten durchaus fragen konnte, in welcher Nacht des Rausches diese wohl entstanden sein mögen. Sobald die Kinder das Schulalter verlassen hatten, machten sie sich auch gleich auf in die nächstgrößere Stadt und wurden nur an wenigen Tagen wieder im Dorf gesehen, wo sie eher die Mutter als den Vater zu besuchen schienen.
Mit großen Reichtümern war diese Familie nie gesegnet gewesen, aber wenn einem das Eigenheim gehörte, dann reichte der saisonale Job auf der Alm durchaus. Die Frau des Teilzeitsenners ging zudem in mehreren Geschäften putzen und sorgte damit sicher ebenfalls für das Auskommen der kleinen Familie.
Kaum hatte Rosi ihre eigentlich mehr für sich als für Außenstehende gesprochenen Worte ausgestoßen, da dröhnte es fröhlich in ihrem Rücken: „Richtig, der Peter will nicht mehr, und ich bettle jetzt nicht mehr weiter. Ich suche jemand Neuen. Du willst nicht zufällig auf die Alm?“
Erschrocken drehte Rosi sich um und sah in das freundliche Gesicht des Großbauern Sepp Kerner, der sich unbemerkt zu ihr gesellt hatte.
„Ach, Sepp, wenn die Knochen noch wollen würden, warum nicht?“, kicherte Rosi schelmisch.
Man schüttelte sich respektvoll die Hände zur Begrüßung. Sepp riskierte einen kritischen Blick auf die rüstige Dame, die ihn trotz der angeblich so morschen Knochen noch sehr kokett anlächelte.
„Holst du deine Enkelin vom Bahnhof ab? Müsste gleich kommen, der Bummelzug aus München mit Haltestellen an jeder Milchkanne“, lachte er.
„Genau, Selma verbringt ihr Wochenende mal wieder mit mir statt mit einem jungen Mann im Bett – oder wo immer junge Menschen sich heutzutage vergnügen“, war Rosis Antwort, nicht ohne einen kleinen Anflug an Selbstmitleid.
„Sei doch froh, dass sie so eine treue Seele ist. Gefällt es ihr immer noch nicht besser in der großen Stadt?“
„Nein, sie welkt dahin in der städtischen Umgebung. Ich bin sicher, gäbe es nur die geringste Chance, hier Geld zu verdienen, dann wäre sie sofort wieder in unserem Himmelreich“, antwortete die betagte Dame mit einem Seitenblick auf das Stellenangebot.
„Vielleicht will sie ja Sennerin werden“, stieg Sepp sofort auf die Steilvorlage ein.
„Muss man denn dafür eine bestimmte Ausbildung haben? Unsere Selma ist zwar sehr naturverbunden, aber gelernt hat sie nur diesen Bürokram. Büroassistentin oder wie man das offiziell nennt.“
„Also, die Bewerber haben mich noch nicht überrannt bisher.“ Er überlegte kurz. „Nein, ich denke, eine gute Portion gesunder Menschenverstand und ein Händchen für Tiere und Gäste, das müsste genügen. Da oben kann es aber natürlich auch mal sehr einsam sein. Und die Besucher kann man sich nicht aussuchen, was ja letztendlich dazu geführt hat, dass mir der Peter den Dienst und auch gleich die Freundschaft aufgekündigt hat. Ich war gerade noch mal bei ihm, aber seine Frau, das arme Ding, musste mich mit sichtlichem Unbehagen an der Haustür abfertigen. Nicht einmal reingebeten wurde ich. Jetzt mag ich nicht mehr betteln. Vielleicht findet sich jemand, der mehr wert auf den Job legt.“
So grantig kannte Rosi den ansonsten sehr gutmütigen und nachsichtigen Bauern gar nicht. Senner Peter musste es sich wirklich gründlich verdorben haben mit seiner seltsamen Art.
„Wirst du Selma fragen?“, drängte Sepp, als er die typischen Ankunftsgeräusche des nahenden Zuges hörte.
„Ich kann nichts versprechen, aber ich erzähle ihr auf jeden Fall davon“, antwortete sie und strebte in Richtung der winzigen Ankunftshalle.
„Dann schon einmal danke dafür. Selbst wenn nichts daraus wird“, grüßte Sepp zum Abschied und ging in die entgegengesetzte Richtung zum Parkplatz.
Rosi hörte fast nicht mehr zu, so sehr freute sie sich schon auf ihren Sonnenschein. Mit enormem Getöse ratterte die alte Zuggarnitur, neuere setzte man auf dieser unbedeutenden Strecke nicht mehr ein, auf dem Gleis heran, um mit einem herz- und ohrenzerreißenden Quietschen zum Stehen zu kommen. Rosi presste ihre große Tasche etwas fester an ihre dicke Jacke. Da erblickte sie ihre Enkelin, und ihre Augen strahlten. Frohsinn und Heiterkeit kehrten für sie zurück. Auch wenn es nur für das Wochenende war.
Selmas Herz jubilierte. Schon Minuten vor der prognostizierten Ankunft drängte sie sich an die Tür zum Ausstieg, um im Vorübergleiten die heimelige Berglandschaft zu bewundern. Da sah sie ihre geliebte Oma, die einzige Bezugsperson, die ihr das böse Schicksal gelassen hatte, am Bahnsteig stehen. Dick eingemummelt, um sich gegen die immer noch herrschende raue Witterung in den ersten Wochen des Jahres zu schützen, aber den Blick neugierig und erwartungsfroh auf den Zug gerichtet. Kaum waren die schweren Wagen zum Stillstand gekommen, wuchtete die junge Frau mit viel Energie die sperrige Tür auf und setzte ihren Fuß auf den geliebten Heimatboden. Mit ihrem Rucksack auf dem Rücken eilte sie auf Rosi zu und umarmte diese stürmisch.
„Omi!“
„Selma!“, schallte es über den Bahnsteig, was die anderen Reisenden, die hier die Bahn verließen, mit aufrichtiger Freude die schöne Szene betrachten ließ.
„Komm, gehen wir erst mal heim“, sagte Rosi nach der stürmischen Begrüßung und hakte sich bei ihrer Enkelin ein, die sie mit ihrer schlanken Gestalt um zwei Köpfe überragte.
„Gern doch, liebe Omi. Und dann kaufen wir uns ein paar feine Sachen für das Wochenende.“
Plaudernd zogen die letzten zwei Untermosers die Dorfstraße entlang. Selma erzählte ein bisschen Klatsch und Tratsch aus dem Büro, wobei Rosi wie immer nur weibliche Namen aufschnappte. Da schien sich immer noch kein junger Mann in Selmas Herz geschlichen zu haben. Rosi hingegen berichtete vom Dorfleben. Als sie nach einem kleinen Fußmarsch am Ende der Hauptstraße angekommen waren und Rosi mit Schwung die Tür zum gepflegten Garten aufstieß, wanderte Selmas Blick zur Weißdornhecke am hinteren Rand des Grundstückes. Wie immer flatterten dort Stoffstücke im Wind. Nie würde sie vergessen, wie ihre Oma ihr erzählt hatte, dass das die bösen Feen vom Haus fernhielt. Sogar ein paar Strähnen ihres honigblonden Haares hatte Rosi in die dornigen Zweige geflochten. Aberglauben lebte eben noch auf dem Dorf.
Selma warf ihren Rucksack mit der zu waschenden Wäsche von einer Woche achtlos in der Garderobe auf den Boden. In der Küche lief schon der aromatische Kaffee in die Kanne. Ein echtes Stück Luxus mit einer programmierbaren Kaffeemaschine hatte sie ihrer Großmutter zum Weihnachtsfest geschenkt, sodass die beiden sofort an den Küchentisch wechseln konnten. Selma wusste, dass in der nächsten Woche die Schmutzwäsche ordentlich gewaschen und gebügelt in ihrem Kleiderschrank liegen würde. Ein Relikt aus Kindertagen, um das sie sich nicht weiter kümmerte, obwohl sie doch nun schon längst erwachsen war.
„Tja, da ist nicht viel passiert, hier in Himmelreich“, fasste sie zusammen und nahm einen kräftigen Schluck aus ihrer Tasse. „Mir kommt es immer so vor, als würde ich so viel verpassen hier, und am Ende ist es gar nicht so aufregend.“
Rosi hatte eigentlich auf der Zunge, ihrer Enkeltochter zu raten, sich doch mal mehr auf das Leben in München einzulassen, vielleicht mal ein oder zwei Wochenenden dort zu verbringen, sich zu lösen vom kleinen Kosmos Himmelreich. Aber da sie wusste, dass dies vergeblich sein und schlimmstenfalls den Auftakt der gemeinsamen Zeit verderben würde, schluckte sie ihre Anmerkungen hinunter. Ein Themenwechsel stand an.
„Im Aushangkasten habe ich ein Jobangebot von Sepp Kerner gesehen. Plötzlich steht er höchstselbst hinter mir. Anscheinend hat er noch einmal versucht, seinen Senner Peter zu überzeugen, zum Saisonauftakt wieder die Almwirtschaft zu übernehmen. Aber der ist wohl vollends größenwahnsinnig geworden und lehnt kategorisch ab. Mit was der wohl in Zukunft sein Geld verdienen will? Vermutlich muss die arme Frau einfach doppelt so viel arbeiten, und er steht miesepetrig auf dem Dorfplatz rum“, lenkte sie ab.
Selmas Interesse war geweckt.
„Die Brennbachalm? Die ist im Winter eine Skihütte und im Sommer ein kleines Lokal für Wanderer, oder?“
„Genau, ein bisschen Kaffee und Kuchen, dazu der Ausblick auf Kühe und Ziegen. Überarbeitet hat sich der Peter dort sicher nicht“, schnaubte Rosi.
„Und die Stelle wäre zu haben?“, fragte Selma nach.
Als Rosi das Aufblitzen in den Augen der jungen Frau sah, bemerkte sie ihren Fehler. Das war wirklich keinesfalls ihre Absicht gewesen, ihre Enkelin nach Himmelreich zurück zu lotsen. Was hätte sie hier denn für eine Zukunftsperspektive? Gar keine in dem überalterten Dorf.
„Vielleicht gehen wir jetzt unseren Einkauf bei der guten Frau Oberbichler erledigen? Ich habe schon eine Liste gemacht, was ich alles brauche, um dir deine Leibspeisen zu kochen. Du wirst immer dünner. Das gefällt mir gar nicht. Heute Abend gibt es eine nahrhafte Rindersuppe mit viel Gemüse und Nudeln“, lenkte Rosi das Gespräch in für sie angenehmere Bahnen und zog die handgeschriebene, wirklich lange Einkaufsliste aus der Schublade am hölzernen Küchentisch, den Selma vor vielen Jahren in einem unbeobachteten Moment mit Wachsmalkreide verziert hatte. Die Spuren davon waren heute noch schwach zu sehen. An einsamen Tagen fuhr Rosi mit den faltigen und manchmal steifen Fingern die bunten Umrisse der Kinderzeichnungen nach. Selma hatte nie Grund zu Tadeln oder Strafen gegeben, sondern war ein reiner Quell der Freude in ihrer Schulzeit. Doch an dem Tag der Bemalung des schönen Küchenmöbels gab es zum ersten und zum Glück auch letzten Mal ein ordentliches Donnerwetter von der Oma. Als bei Selma allerdings die heißen Kindertränen einer enttäuschten Seele über die properen Wangen rollten, da war Rosi so gerührt gewesen, dass sie ihrer Enkelin im Dorfladen sofort ein Eis aus der Kühltruhe spendierte.
Kurze Zeit nach dieser Unterhaltung gingen Oma und Enkelin in trauter Harmonie mit einem großen Einkaufskorb bewaffnet die lange Hauptstraße entlang, die in Richtung des Dorfplatzes führte, dessen zentraler Mittelpunkt der schmucke Maibaum und natürlich der Laden von Frau Oberbichler war. In den ansonsten belebten Vorgärten der Nachbarn, in denen eigentlich immer jemand etwas zu werken hatte, befand sich aufgrund der schneidenden Kälte niemand. Ganz Himmelreich schien sich bei angenehmeren Temperaturen in den eigenen vier Wänden verschanzt zu haben. Wie ausgestorben war sogar der Platz in der Mitte des Dorfes. Auf dem Kranz aus Tannengrün, der den Maibaum zu dieser Zeit traditionell bekrönte, lag sogar eine dünne Schicht Raureif, wie Rosi mit einem kritischen Blick bemerkte.
Schnell stieß Selma die Ladentür auf, die einer ganz normalen Haustür verdächtig ähnelte. Wie seit Jahrzehnten ertönte die vertraute Klingel beim Öffnen, die mangels regelmäßiger Kundschaft Frau Oberbichler notfalls aus dem Garten oder der Wohnung im ersten Stock lockte, wenn sie sich nicht im Geschäft aufhielt.
„Grias eich!“, schallte es den beiden Damen auch schon in typischer bayrischer Herzlichkeit entgegen, als sie kaum den Fuß in das Ladeninnere gesetzt hatten.
Das kleine Geschäft war zweckmäßig eingerichtet. Auf nur vier hohen Regalreihen türmten sich all die Dinge, die man eben so brauchte für das Alltagsleben. Die Regale führten zu auf einen Kassenbereich, der mehr einer Kneipentheke ähnelte und hinter dem auf einem bequemen Stuhl, man war ja nicht mehr die Jüngste, Frau Oberbichler thronte. Mit strahlenden Augen fixierte sie ihre zwei Stammkundinnen, wobei sie gerade damit beschäftigt war, die Einkäufe eines anderen Kunden in eine mitgebrachte Tüte zu verpacken.
„Heute ist ja ein Treiben wie im Bienenstock.“ Sie schmunzelte gutmütig.
Der einzige andere Kunde sah aus großen, samtweichen Augen auf die Neuankömmlinge.
„Grüß Gott, Frau Rosi. Hallo, Selma“, war seine Begrüßung.
Der extrem sportlich gebaute junge Mann nickte, wie um seine freundlichen Worte zu unterstreichen. Selma musste einen Moment überlegen, erkannte dann aber ihr Gegenüber sofort.
„Du bist Paul Kerner, oder? Mann, dich habe ich ja lange nicht mehr gesehen“, sagte sie mit Überraschung in der Stimme.
In dem kleinen Ort lief man sich eigentlich ständig über den Weg, und jeder war über jeden genau informiert, doch Paul, dem Sohn von Sepp, war sie wirklich seit mindestens einem oder zwei Jahren nicht mehr begegnet.
„Ach, ich hatte viel zu tun. In den Wintermonaten bin ich ja immer am Skilift, und da gibt es ständig etwas zu tun. Abends braucht man mich auf der Alm, und wenn dann mal eine Minute frei ist, gehe ich selbst zum Skifahren. Aber jetzt ist die Saison fast zu Ende, und ich kann mich öfter im Himmelreich blicken lassen“, war die wortreiche Antwort des jungen Burschen.
Seine blauen Augen schienen sich direkt in Selmas grüne Augen zu versenken. War ihr immer entgangen, wie attraktiv der Bauernsohn eigentlich war? Mindestens 190 Zentimeter geballte Männlichkeit standen da vor ihr, die braungebrannt mit einem breiten Grinsen und der unvermeidlichen Sonnenbrille trotz des eher trüben Nachmittags als Werbebild für die Naturburschengesellschaft hätte fungieren können.