Читать книгу Die Sennerin aus der Großstadt - Vroni Müller - Страница 7

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„Mädel, du brauchst mal mehr Abwechslung.“

Der fröhliche Spruch von Oma Rosi schwebte Selma immer noch im Hinterkopf. Sie hatte ein hartes Jahr hinter sich. In München zu arbeiten, das war stets ihr Traum gewesen, doch niemand hatte ihr im Vorfeld erzählt, wie schwer es in der Großstadt war, Kontakt zu finden. Zudem ging fast ihr gesamtes Gehalt für die Miete ihres winzigen Zimmerchens drauf, das sie nicht als Wohnung bezeichnen wollte. Ein Wohnklo traf es eher.

Außer dem kleinen Balkon hatte ihre Unterkunft nichts Schönes. Wenn Oma Rosi bei den Wochenendbesuchen ihrer geliebten Enkelin versuchte, etwas über die neue Heimat herauszufinden, wich Selma mit einem Themenwechsel aus. Was hätte sie auch berichten sollen über ihre eintönigen Abende, die aus etwas TV und Aufräumen bestanden? Die Kollegen in der renommierten Kanzlei waren alle nett, natürlich. Doch mehr als oberflächliche Worte hatte sie nicht bekommen im letzten halben Jahr. Sie freute sich immer noch wie ein kleines Kind auf den Freitagmittag, wenn sie mit ihrer abgenutzten Reisetasche, die noch ein Geschenk ihrer Eltern gewesen war, gleich direkt von der Arbeitsstelle zum Ostbahnhof aufbrechen konnte, um bis zum Sonntagabend in die schöne Voralpenwelt fahren zu können. Als ob ein schwerer Eisenring von ihrer Brust genommen würde. Ihre Oma stand stets zuverlässig zur vereinbarten Ankunftszeit des Zuges am Bahnsteig und sah sie fröhlich aus ihren mittlerweile trüben Augen an. Zu Fuß ging das ungleiche Paar dann zum kleinen, aber peinlich sauberen Haus mit den blauen Fensterläden, das Selma immer noch ein warmes Zuhause war.

„Du bist mir Abwechslung genug“, sagte sie dann stets und tätschelte ihrer Großmutter, die sie die letzten Jahre so liebevoll großgezogen hatte, die faltigen Hände.

Mit zwölf Jahren hatte Selma der schwerste Schlag getroffen, den ein Kind ereilen kann. Ihre geliebten Eltern waren bei einer fürchterlichen Naturkatastrophe ums Leben gekommen. Es war dies der erste Urlaub gewesen, den sich die fleißigen Leute geleistet hatten, und dieser endete so tragisch, wie es nur in schlechten Romanen oder im echten Leben passieren kann. Über die Weihnachtstage war es zu einer enormen Springflut des Meeres gekommen, die das gesamte Leben in der kleinen Küstenstadt ausgelöscht hatte. Aus der Ferne zurück kamen nur zwei Särge, die von einer minderjährigen Waise und ihrer Oma Rosi entgegen genommen und auf dem heimatlichen Friedhof bestattet wurden.

Oft waren Selmas heiße Tränen auf die schlichte Grabstelle getropft, die von einem schlichten Kreuz aus Schmiedeeisen in traditioneller Form geschmückt wurde. Mit unermüdlicher Sanftmut war sie von ihrer Großmutter aber immer unterstützt und durch die gesamte Schulzeit begleitet worden. Blickte sie zurück auf ihre Kindheit, dann hätte sie diese trotz des schweren Verlustes stets als glücklich bezeichnet. Behütet von guten Feen.

Nach dem Schulabschluss war es allerdings schwer gewesen, eine Lehrstelle in dem kleinen Ort zu finden. Mittlerweile fuhr auch nur noch zweimal pro Tag ein Zug in die nächstgrößere Stadt, sodass die junge Frau sich in der Großstadt nach einer Zukunft im Beruf umschauen musste. Das würde wohl auch langfristig so bleiben, denn die jungen Leute zogen verstärkt aus der entlegenen Region in die Landeshauptstadt, die so viel mehr Amüsement und Zerstreuung bieten konnte. Und natürliche eine gesicherte Arbeitsstelle.

Hier im Dorf, das musste Selma sich früh eingestehen, gab es nur Bauernhöfe. Natürlich suchten auch diese stets Arbeitskräfte, doch der Bedarf an fleißigen Händen, die sich dem harten und gar nicht so romantischen Bedingungen in der Landwirtschaft stellen wollten, wurde schon seit Jahren mit Saisonarbeitern aus dem europäischen Ausland gedeckt. Diese kamen dann in großer Zahl in die ihnen fremde Umgebung und reisten nach dem Einbringen der Ernte freundlich grüßend, aber als Fremde wieder ab. Der Kontakt zur einheimischen Bevölkerung beschränkte sich zumeist auf einige freundliche Worte und nette Grüße, wenn man sich denn mal über den Weg lief. Zu den Dorffesten erschienen die fleißigen Hilfskräfte zwar, blieben aber meistens unter sich.

Selma liebte Tiere. Nichts war beruhigender als der Blick in die treuherzigen Augen einer Kuh. Sie liebte es, durch die Gebirgswelt zu streifen und den Kühen zuzusehen, die unbeirrt von der politischen Weltlage oder der schlechten Laune der Menschen ihre Runden auf den steinigen Almwiesen drehten. Ob es regnete oder die Sonne auf sie herab schien, wichtig war den gemächlichen Tieren mit den charakteristischen Flecken auf dem Fell nur ausreichende Nahrung. Selma beeindruckte immer wieder, wie zartfühlend die großen Nutztiere mit ihrem nassen Maul die winzigsten Pflänzchen entdeckten und mit ihren Zähnen abzupften. Auf den kargen und nicht besonders fruchtbaren Wiesen der Umgebung, die zudem noch durch die starken Höhenunterschiede nicht leicht zugänglich waren, wurden neben den widerstandsfähigen Kühen auch Schafe und Ziegen gehalten. Besonders die Ziegen waren wahre Kletterkünstler. Vielleicht hielten sich manche auch für eine Mutation der heimischen Steinböcke, deren Zahl leider sehr dezimiert worden war. Doch so sehr die junge Frau all die schönen Seiten ihrer Heimat liebte, so sehr stand nach dem Schulabschluss doch für sie fest, dass sie eine Lehre im Büro absolvieren wollte.

Wie hoch die Anforderungen dort sein würden und wie einsam Selma durch die Betonwüste der Großstadt schlendern würde, das war aber doch überraschend, als sie ihre ersten Tage in der Landeshauptstadt verbrachte. Selbstverständlich war München wunderschön. So erzählten es ihr natürlich immer alle Menschen, von denen sie nach ihren Plänen für die Zukunft gefragt worden war. Schließlich machten Tausende von Gästen dort Urlaub, wo sie zukünftig leben würde. Sie musste sich selbst oft genug eingestehen, dass sie beispielsweise begeistert die Berichte über das gemütliche Biergartenleben oder die prachtvollen Geschäfte Münchens verfolgte.

In der Realität war sie überrascht, wie dicht gedrängt die Menschen an den verklebten Biertischen saßen und an einem fettigen Hähnchen, hier Hendl genannt, kauten. Sie selbst hatte sich ein Radler in einem Maßkrug geholt und mit Mühe auf einer Bierbank Platz gefunden. Die angebotenen Speisen sahen in ihren Augen alle nicht appetitlich aus, sodass sie sich an eine Laugenbrezel klammerte, die fliegende Händler aus großen Körben für einen unfassbaren Preis an die munteren Zecher verkauften.

Vielleicht wäre sie, wenn dieser Abend positiv verlaufen wäre, noch einmal hingegangen, aber sie saß eine oder zwei Stunden an ihrem Tisch, ohne auch nur im Geringsten mit den anderen auf der Bank ins Gespräch zu kommen. Lag es an ihrer Schüchternheit? Hätte sie auch mal was fragen sollen oder einfach ungefragt mitplappern sollen? Doch das war gar nicht ihre Art, und sie wäre sich doof vorgekommen, mit Wildfremden einfach so über Gott und die Welt und ihre Alltagsprobleme zu plaudern.

Die sensationellen Einkaufsmöglichkeiten, die die Bewohner aus ihrem Dorf so sehr lobten, hatten Selma ebenso ernüchtert. In der wahrhaft riesigen und langen Fußgängerzone reihte sich ein großes Geschäft an das andere, jedes lobte das eigene Warenangebot über den grünen Klee, und das am besten noch in leuchtenden Großbuchstaben. In Menschentrauben schoben sich die Kaufwilligen mit ihren sperrigen Einkaufstaschen von einer Ladentür zur nächsten. Das überreiche Angebot erschlug Selma fast.

Wenn man es etwas exklusiver haben wollte, dann musste man in eine der edlen Boutiquen in der Maximilianstraße gehen, wo sich die ganz großen Namen der Modewelt mit dezenten und wohlklimatisierten Geschäfte ansiedelten. Dort huschten die ausländischen Gäste der naheliegenden Nobelhotels mit ihren goldenen Kreditkarten oder die gut betuchten Damen der Münchner Gesellschaft durch die großen Glastüren, die zumeist ein Sicherheitsmann öffnete. Niemals im Leben, selbst wenn Selma es sich von ihrem schmalen Gehalt hätte leisten können, hätte sie es gewagt, in diese Welt der berühmten Designer einzutreten.

Natürlich waren sie schön anzusehen, die edlen Modelle, die an klapperdürren Schaufensterpuppen kunstvoll arrangiert waren. Doch wenn sie sich vor Augen hielt, wie ihr Chef oder ihre Kolleginnen reagieren würden, wenn sie in diesen extravaganten Schöpfungen im Büro erscheinen würde –, da musste sie selbst schmunzeln. Das meiste aus diesen Kollektionen war einfach nicht alltagstauglich. Hauchdünne und empfindliche Stoffe, gewagte Schnitte, die man vermutlich nur im Stehen und nicht im Sitzen tragen konnte, ohne zu viel vom Intimbereich preiszugeben, das war nicht ihre Welt.

Manchmal wurde Selma von den Dorfbewohnern gebeten, am Wochenende doch dies und das mitzubringen, da vor Ort die einzige Auswahl darin bestand, im kleinen Tante-Emma-Laden oder gleich beim Bauern direkt zu kaufen oder eben in die nächstgrößere Kreisstadt, 15 Kilometer entfernt, zu fahren. In den letzten Monaten aber war die bisher so entlegene Gegend mit einem äußerst leistungsfähigen Internetanschluss ausgestattet worden, sodass jeder auch in der entlegensten Berghütte online bestellen konnte. Ein paar Tage nach dem anonymen Klick im weltweiten Netz kamen selbst die exotischsten Lieferungen durch den örtlichen Postboten Paul an. Der ächzte zwar manchmal, was die Leute nur alles bestellen würden, doch Selmas Rucksack für die Heimfahrt zu ihrer geliebten Oma wurde spürbar leichter.

Oma Rosi hatte nie verlangt, dass Selma an den Wochenenden heimfuhr, doch die junge Frau konnte sich gar nichts anderes oder gar Schöneres vorstellen, als die freien Stunden mit ihrer Großmutter in dem kleinen Haus am Dorfrand zu verbringen. Wie aus einem alten Märchen sah das kleine Zuhause aus. Hinter einer cremefarbenen Fassade verbargen sich niedrige Zimmer mit geringer Deckenhöhe. Das Badezimmer war mit bunten Kacheln aus den Siebzigerjahren eventuell nicht mehr ganz zeitgemäß, und die Küche glänzte nicht durch moderne Elektrogeräte, aber all das hatte Selma nie gestört. Die zwei Schlafzimmer, in denen sie und ihre Großmutter ihre eigenen Königreiche hatten, waren mit Bett und Schrank fast schon überfüllt. Das Ensemble, das heutzutage vermutlich bei den meisten Eigentümern einen massiven Umbaudrang ausgelöst hätte, wurde komplettiert durch ein winziges Wohnzimmer, in dem eine Couch und ein alter Röhrenfernseher die Abende des seltsamen Gespannes abrundeten.

Was hatte ihre Oma gearbeitet, bevor sie sich in Vollzeit um die Waise Selma gekümmert hatte? Das war eine Frage, die sich kurioserweise zum ersten Mal stellte, als die junge Frau gerade wieder einmal den Zug bestieg, um am Freitag rasch die hektischen Menschen der Großstadt hinter sich zu lassen.

Der schrille Pfiff des Zugführers am Bahnsteig, bevor er schnell in den Wagen sprang, hörte sich in Selmas Ohren an wie eine Melodie der Glückseligkeit. Ab ins Himmelreich!

Die Sennerin aus der Großstadt

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