Читать книгу Die Sennerin aus der Großstadt - Vroni Müller - Страница 9

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Kurioserweise hieß das gemütliche Dorf am Rande der Alpen wirklich Himmelreich.

„Himmelarm müsste die richtige Adresse sein“, schimpfte einmal der Briefträger Klein, der mal wieder mit Briefen und Rechnungen durch die schöne Landschaft radeln musste.

Die Postverwaltung hatte ihm zwar schon letztes Jahr ein E-Bike in Aussicht gestellt, aber das hatte er empört von sich gewiesen.

„Wenn ich die paar Hügel nicht mehr radeln kann, dann gehe ich zum Amtsarzt, und der soll mich in den Ruhestand versetzen. So weit kommt es noch, dass ich mir einen Motor unter den Hintern schieben lasse“, schnaubte er damals, beschwerte sich aber trotzdem munter weiter über seine anstrengende Tätigkeit.

Auf der Hauptstraße, also eigentlich der einzigen Straße, die quer durch die Ortschaft führte, erblickte Briefträger Klein die in den letzten Jahren deutlich geschrumpfte Gestalt von Oma Rosi.

„Na, Rosi, auf dem Weg zum Bahnhof? Kommt Selma wieder für das Wochenende heim? So ein braves Mädel!“, rief er und winkte zum Gruß, ohne eine Antwort zu erwarten.

Rosi sah dem auf seinem Fahrrad enteilenden Briefträger nach. Allerdings eher sorgenvoll als fröhlich. Natürlich freute sie sich über die treuen Besuche ihrer Enkelin. Zudem war es für sie in ihrem fortgeschrittenen Lebensalter nicht mehr so leicht, die täglichen Dinge zu erledigen. Natürlich kochte sie für sich selbst, und die paar Schritte zum Dorfladen schaffte sie problemlos, wenn auch mit einer kleinen Rast zwischendurch, gern bei einem Gläschen von einem der selbst hergestellten Stärkungstränke der Frau Oberbichler. Diese experimentierte unentwegt mit Pflanzen aus den Gärten Himmelreichs und servierte den guten Stammkunden und -kundinnen gern mal einen Probierschluck aus ihrer Hexenküche, wie sie ihr eigenes Hinterzimmer oft nannte.

Doch wenn es an anstrengendere Dinge ging, wie das Auslüften der schweren Federbetten oder eine Komplettreinigung des Hauses mit dem Staubsauger, da war sie über die jungen Hände Selmas und den Tatendrang der Enkelin sehr froh. Natürlich hätte auch jeder im Dorf ihr gern hilfreich zur Seite gestanden, wenn sie nur ein Wort hätte fallen lassen, doch dazu war sie wirklich stolz.

Allerdings hätte Rosi sich auch sehr gefreut, wenn Selma ihr Glück in der Großstadt gefunden hätte und die Besuche seltener geworden wären. Wie jede Dame fortgeschrittenen Alters träumte sie von – in ihrem Fall – Urenkeln, kleinen Kindern, die ihr den Lebensabend versüßen würden. Ganz selbstverständlich hatte sie sich nach dem tragischen Tod ihres Sohnes und der immer freundlichen Schwiegertochter der kleinen Waise angenommen, doch die tägliche Sorge um ein kleines Kind, für das sie nun vollumfänglich verantwortlich war, unterschied sich doch deutlich von den Freuden des gelegentlichen Kinderhütens.

Zu Anfang hatte Rosi sich oft erkundigt, wie es denn war in der großen Stadt, ob Selma schon Freunde gefunden hat, wie die Arbeitskollegen waren, ob sie viel unternimmt, doch Selmas Antworten waren stets sehr einsilbig gewesen. Alsbald hatte Rosi dann die Hoffnung aufgegeben, dass ihr mit glühenden Augen und rosigen Wangen von jungen Männern berichtet werden würde. Selma erwähnte nie irgendwelche Verehrer, obwohl sie so ein hübsches Ding war.

Rosi schaute auf die Bahnhofsuhr, die auf dem schäbigen Gebäude aus den fünfziger Jahren klebte wie ein Abziehbild. Der Bahnanschluss war ein Relikt, ein Überbleibsel aus dem 19. Jahrhundert, als es noch keinen Individualverkehr abseits der Pferdekutschen gab, aber die Bevölkerung der Stadt die Freuden und Annehmlichkeiten des Landlebens entdeckt hatte. Mit großer Freude und in Scharen kamen damals die sogenannten Sommerfrischler zum Wochenende oder gar zum Urlaub in die unberührte Welt rund um das Dorf Himmelreich. In den dunklen Zeiten der Kriegsjahre des letzten Jahrhunderts waren es dann die vor den Bomben schutzsuchenden Münchner, die aus der zerstörten Stadt flohen. Nach dem Krieg hamsterte man bei den Bauern auf dem Land Lebensmittel, um die karge staatliche Versorgung aufzubessern.

Seit man aber für wenige Euro mit Vollpension um die ganze Welt fliegen konnte, ließen sich fremde Gesichter immer seltener in der Gegend sehen. Die zahlreichen Pensionen und die privaten Zimmervermietungen rentierten sich nicht mehr und stellten den Betrieb ein. Mit dem Zug wollte schon gleich gar niemand mehr anreisen, und so bangten die Himmelreicher, wie die Dorfbewohner sich selbst nannten, stets um ihre Bahnstrecke. Es gab schon längst keinen Schalterbeamten oder gar Bahnhofsvorsteher mehr. Nur noch einen Ticketautomaten, den man selbst bedienen und dabei hoffen musste, dass er auch funktionierte. Die täglichen Halte waren auf einmal abends, einmal morgens eingedampft worden. Nicht mehr lange, dann würde man vermutlich auch diese streichen.

Rosi war etwas zu früh dran, denn sie kalkulierte immer ein paar Minuten mehr ein für den Weg. Man wusste ja nie, wem man noch für eine anregende Unterhaltung unterwegs begegnete.

Doch heute war niemand weit und breit zu sehen, der Rosi die Wartezeit vertrieben hätte. So widmete sie sich dem Aushangkasten mit den neuesten Meldungen aus dem Dorf. Hier wurde angekündigt, wann der Mülltag war oder ob jemand eine Aushilfe suchte. Belanglose Meldungen im Trubel der hektischen Welt, doch für das Dorf Himmelreich besser als jede Tageszeitung. Immer brandaktuell.

„Na, schauen wir mal nach, was so ansteht die nächsten Tage“, sagte Rosi in breitem Bayrisch zu sich selbst.

Eine Brille brauchte sie zum Glück nicht, was sie auf den fast täglichen Genuss von Karotten zurückführte, falls jemand sie diesbezüglich lobte. Interessiert studierte sie den Aushang der örtlichen Trachtengruppe, die auf ihre öffentlichen Auftritte und Proben in den bevorstehenden Frühlingsmonaten hinwies. Einmal wöchentlich traf man sich im Gemeindehaus und schuhplattelte, was das Zeug hielt. Vielleicht konnte sie zur Abwechslung der täglichen Routine mal dort vorbei gehen. Es war immer unterhaltsam, die jungen Menschen bei der jahrhundertealten Tradition der alpenländischen Tänze zu sehen. Die kostbaren Dirndlkleider und die großen Hüte, die in dieser Region zur Tracht der Damen gehörten, wurden zwar nur bei den offiziellen Terminen und nicht im Training getragen, aber schön anzusehen waren die rhythmischen Bewegungen der Formationstänzer allemal.

Der nächste Zettel informierte über die Zeiten des Gottesdienstes. Den brauchte Rosi nicht, da sie sonntags immer die Predigt besuchte. Man hatte zwar auch hier Abstriche machen müssen, denn der Pfarrer betreute mittlerweile mehrere Ortschaften, aber man hatte immerhin mit Pater Karol einen dauerhaften Seelsorger im Ort. Der polnischstämmige Mann hatte sich nach seiner Versetzung in den kargen Landstrich fernab der Vorzüge einer städtischen Gemeinde zwar erst akklimatisieren müssen, wurde nun aber hoch geschätzt. Er hatte trotz seiner rudimentären Vorkenntnisse in Nullkommanichts Deutsch gelernt. Bei seinen Besuchen in der Erzdiözese schmunzelte man zwar immer über den starken bayrischen Dialekt, den ihm der Umgang mit seinen Himmelreichern und den Bürgern der umliegenden Ortschaften eingebracht hatte, aber es war ein liebevolles Schmunzeln.

Unser bayrischer Pole, so nannten ihn die Gläubigen im Dorf anerkennend.

Der dritte Aushang jedoch ließ Rosi ihre Stirn in tiefe Falten legen.

Sennerin gesucht stand da in großen Lettern in einer nicht ganz arbeitsrechtlich korrekten Form, die eine geschlechtsneutrale Formulierung voraussetzte.

Die Sennerin aus der Großstadt

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