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3. Priester & Dirne

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Ich hatte im Morgengrauen einen Kessel Wasser gekocht und Haferbrei aufgesetzt. Gerade saß ich mit einem Becher frisch aufgegossenen Tees am Tisch, als auf dem Hof der erste Schuss fiel – ich zuckte derartig zusammen, dass ich mir beide Hände verbrühte. Daraufhin fielen noch elf weitere Schüsse. Gerade tauchte ich meine Hände in kaltes Wasser, als der Fremde – noch mit der Pistole in der Hand –, eintrat, mit an Unhöflichkeit grenzender Knappheit nickte, sich einen Teller von dem Brei nahm und wieder die Küche verließ, scharfen Pulvergestank hinterlassend, der noch Ewigkeiten in der Luft hing.

Später, als ich längst am Pult in der Bibliothek saß, konnte ich beobachten, wie er mit Otfried in der Scheune verschwand. Einige Zeit später förderten sie gemeinsam einen beachtlichen Berg an Latten und Brettern aus ihren Tiefen. Diesen stapelten sie auf einen Karren und schoben ihn dann in Richtung Kapelle.

Wenig später trug der Wind dumpfes Gehämmer von den Bäumen herüber, das stundenlang nicht aufhören wollte. Überflüssig zu sagen, dass jeder einzelne Hammerschlag meine Konzentration in Stücke schlug.

Weil an ernsthafte Arbeit ohnehin nicht zu denken war, beugte ich mich zu Klio hinunter und tätschelte ihre raue Seite. Seit ihre Schnauze weiß geworden war, suchte sie an kalten Tagen immer öfter meine Gesellschaft im Haus, statt mit den anderen durch den Wald zu streunen. Dabei war sie früher, in ihrer Jugend, wilder als alle anderen zusammen gewesen. Priester Matthäus hatte sie zur Hasenjagd abgerichtet und sie hatte jahrelang regelmäßig langgliedrige Kadaver nach Hause gebracht. Ich war schrecklich erleichtert gewesen, als sie dafür zu alt wurde.

Endlich verklang das Hämmern. Tastend breitete sich Stille aus. Mit einem ergebenen Seufzen drehte ich mich wieder dem Manuskript auf meinem Pult zu. Es war so alt und fleckig, dass manche Passagen auf dem brüchigen Pergament kaum zu entziffern waren. Außerdem hatte die aufgeschlagene Seite ein Eselsohr. Ich glättete es mit Nachdruck – und die Ecke trennte sich fast widerstandslos ab, blieb an meinen Fingern haften. Ungläubig sah ich auf das abgerissene Dreieck. Ich konnte mich nicht erinnern, jemals zuvor ein ehrwürdiges Werk beschädigt zu haben – und dieses hier war Augustinus!

Was hätte nur Matthäus dazu gesagt? Nun, ich konnte es mir allzu gut vorstellen – respektlos und verstockt, hätte er mich genannt. Und ignorant. Denn man musste Augustinus noch vor allen anderen Kirchenfürsten ehren. Alle seine Ausführungen waren stets in höchstem Maße elegant und prägnant. In dieser Abhandlung beispielsweise ging es darum, dass das weibliche Geschlecht Gott ferner stand als der Mann. Der Teufel habe sich über die tieferstehende Frau Gewalt verschafft, und indem sich der Mann der Frau zuwende, wende er sich zugleich von Gott ab. Demzufolge musste der Mann die niedere Frau beherrschen, um sie auf den rechten Pfad zurückzuführen:

Und zur Frau sprach Er: Vervielfältigen will ich deine Betrübnis und dein Seufzen vermehren. In Betrübnis sollst du Kinder gebären, und immer wieder wird es dich zu deinem Manne ziehen, und er wird über dich herrschen.

Als Priester Matthäus mir diese Lehren das erste Mal vorgelegt hatte, war ich noch ein Kind gewesen und die Vorstellung, einem anderen Menschen eines Tages derart untertan zu sein, hatte mich damals abgestoßen. Ich hatte noch nicht geahnt, dass mir dieser natürliche Zustand ohnehin nicht bestimmt war. Das begriff ich erst, als sich der Abgrund öffnete.

Wie auch immer, auch das war nunmehr Jahre her. Und es war nicht einmal die einzige Erleuchtung geblieben, was mich und mein Erbe anging; eine weitere sollte noch folgen, die endgültig keinerlei Zweifel mehr offen ließ.

Natürlich hatte ich beide Male mit Gott gehadert. Und doch tröstete mich seither ausgerechnet jene unter Augustinus’ Thesen, die andere für gnadenlos hielten: dass der Mensch von Natur aus unrein war und es einzig Gott oblag, einigen Auserwählten die Gnade zu erweisen, sie zu erlösen. Demnach war ich nur eine von unendlich vielen Verdammten. Ein wenig verdammter noch als alle anderen vielleicht, doch wenigstens würde ich im ewigen Feuer nicht alleine brennen. Und dass schon jetzt jede Begegnung mit anderen Menschen für mich Hölle bedeutete – nun, daran hatte ich mich gewöhnt.

Ein plötzliches Klopfen riss mich aus meinen Gedanken. Klios Knurren legte nahe, dass es sich diesmal nicht um Hammerschläge aus der Ferne handelte. Und er war der einzige, der an meine Tür klopfen würde. Mein Rückgrat versteifte sich.

»Ja, bitte?« Vom langen Nichtgebrauch klang meine Stimme ganz rau. Dennoch musste er sie vernommen haben, denn die Tür schwang auf. Die Hündin knurrte noch lauter, ich griff in ihr Nackenfell und hielt sie mit meinem Gewicht nieder.

Der Fremde war an der Schwelle stehen geblieben, beachtete den Hund jedoch nicht weiter. Stattdessen nahm er den hohen Raum in sich auf: hunderte von Buchrücken auf Regalen, die selbst in die Zimmermitte vorstießen und sie mit dem muffigen Geruch nach Leim, Pergament und Leder füllten. Endlich fanden seine schweifenden Augen zu mir.

»Priester Jonas ist soeben angekommen«, sagte er. Ich fühlte seinen Blick über den braunen Filz meines hässlichen Kleides gleiten. »Er hatte mir noch einige Utensilien zu bringen, die ich im Kloster zurücklassen musste.«

Ich nickte. Die Aufmerksamkeit des Fremden kehrte zu den Regalen zurück und Klio ließ ihren Schädel seufzend auf die Tatzen fallen. Ich ließ sie los und richtete mich auf, wartete, dass die Tür sich wieder schloss.

Als fiele ihm soeben etwas ein, strich sein Blick noch einmal über mich hinweg. »Ich soll Sie übrigens fragen, ob Vater Jonas sich das Fresko in der Kapelle ansehen darf – er ist ein Anhänger religiöser Malerei.«

»Selbstverständlich«, sagte ich schnell. Doch obwohl nun alles gesagt schien, verharrte der Fremde weiterhin an der Schwelle. »Welch beeindruckende Anzahl von Büchern«, sagte er dann langsam. »Doch soweit ich sehen kann nur geistliche Werke?«

»In der Tat.« Was auch sonst?

»Wie einseitig.«

»Wie bitte?« Ich merkte, wie mir mein Gesichtsausdruck entglitt.

»Nun, lesen Sie denn keine Geschichte? Keine Philosophie? Keine Poesie oder Belletristik vielleicht? Sie sind doch eine Frau.«

Dachte er vielleicht, ich sei frivol? »Ich bin in Grammatik, Rhetorik und Dialektik geschult«, entgegnete ich scharf. »Sowie in Arithmetik und Geometrie. Natürlich beherrsche ich auch Latein und Griechisch.«

»Natürlich«, murmelte er. »Aber was ist mit Musik und Astronomie?« Damit fragte er zielsicher nach den Künsten, die ich nicht erwähnt hatte. »Lebt Gott nicht auch im Klang und in den Sternen?«

Was sollte ich darauf sagen – Priester Matthäus hatte Musik für reine Zerstreuung und Ablenkung gehalten, Sterne hingegen waren für ihn lediglich zufällige Gebilde am Himmel, wie Brandflecken in einer Decke.

»Was lesen Sie da?«, er wies auf das Manuskript vor mir.

»Ich lese nicht. Ich übersetze und kopiere. Meist für das Kloster. Aus diesem Manuskript mit Texten von Augustinus kopiere ich gerade Zitate für eine kleine Sammlung.«

»Augustinus? Und Sie machen das freiwillig?«, staunend hob er die Brauen.

»Natürlich. Es ist … erbaulich.« Als wüsste er, wer Augustinus war!

Er lachte plötzlich. Es war ein seltsamer, unangenehm harter Ton und seine Narbe verzerrte sich dabei. »Finden Sie? Offenbar haben Sie noch nicht viel über andere Religionen und Anschauungen gelesen.«

»Was denn für andere Religionen?«

»Schon gut«, er winkte hämisch ab. »Sie haben recht, es gibt nur diese eine, einzig wahre und Sie und Ihre Brüder im Geiste haben das Heil für sich gepachtet.«

Wenn es doch nur so wäre. Ich senkte den Kopf, damit er nicht sah, was ich dachte.

Eine Weile hörte ich nichts. »Sie sperren sich offenbar Tag für Tag hier ein«, sagte er dann unvermittelt. »Warum beschäftigen Sie sich nicht mit anderen Dingen, die Ihnen mehr Freude bringen könnten?«

»Freude?« Das Wort fühlte sich seltsam in meinem Mund an. Was maßte sich dieser Mann eigentlich an? »Nun, diese Arbeit macht Freude. Sie bildet und reinigt den Geist. Eine gewisse – Mühe – gehört dazu.«

»Offenbar setzen Sie Mühe mit Verdruss gleich. Würde mir ein Auftrag so viel Verdruss bereiten, wie es Ihnen bereiten muss, diesen Text zu kopieren, würde ich auf der Stelle die Kommission, wenn nicht sogar das Handwerk wechseln.«

Mein Zweifel und mein Unmut ob dieser Geisteshaltung schienen mir ins Gesicht geschrieben, denn er zuckte mit den Achseln. »Erhalte ich einen Auftrag, so prüfe ich, ob die Arbeit daran mir lohnend erscheint. Ist dies so, so wird mir keine damit verbrachte Minute lästig. Stellt sich jedoch heraus, dass das Gemälde von Natur aus fehlerhaft oder hässlich ist, breche ich die Arbeit daran umgehend ab. Das Leben ist viel zu kurz, um sich von der Torheit und dem Unvermögen anderer herabziehen zu lassen. Ich wähle nur Arbeiten, die mich erheben.«

Nun, Augustinus war eher dazu angetan, Frauen zu erniedrigen, das stimmte – doch gewiss, ohne dabei fehlerhaft zu sein. Denn genau darum ging es doch bei der Lektüre: Der Mensch brauchte Demut – und ich noch viel mehr als andere. Und wenigstens war die Buße dieser Arbeit so viel leichter zu ertragen als andere Formen. Das Kopieren war mit Sicherheit leicht zu bewältigen; Wort für Wort, Seite für Seite, Tag für Tag. Außerdem ließ es die Zeit so viel schneller vergehen, löschte sie förmlich aus. Wenn ich kopierte, vergaß ich mich selbst und alles um mich herum, trat ich aus der Welt zurück und verschwand – wie sollte man solch Zauberwerk nicht lieben? Nur noch selten kippte die Erleichterung darüber in eine dumme Form von Panik, dass mich die zahllosen stummen Worte irgendwann ersticken, mich all die Bücher eines Tages lebendig unter sich begraben würden …

Sonderbarerweise flog mich diese irreale Angst ausgerechnet jetzt wieder an. Ich zögerte nur kurz. »Sagten Sie nicht, Vater Jonas wollte zur Kapelle?«, ich stand auf. »Ich – ich denke, ich werde ihn begleiten.«


Der junge Priester stand unter dem großen Kruzifix in der Halle und erweckte den Anschein, in tiefster Kontemplation versunken zu sein. So tief, dass er noch nicht einmal unser Kommen bemerkte.

»Guten Tag … Vater Jonas!« Die ehrwürdige Anrede rollte etwas hölzern aus meinem Mund. Er drehte sich mit verklärtem Blick zu mir um. »Ah, guten Tag, M- äh … Frau von Eschweih«, spitz hüpfte sein Adamsapfel über dem Priesterkragen.

»Ich hoffe, Sie haben nichts dagegen, dass ich Sie zur Kapelle begleite?« Wie so oft hatte ich meine Hände in den Filzfalten meines Rockes vergraben und fühlte plötzlich, dass ich vergessen hatte, den Riss darin zu stopfen.

»Oh, ähm, natürlich, das ist wunderbar. Ich wollte Sie ohnehin noch zu Ihrer Aquin-Übersetzung beglückwünschen!«, ein rosiger Hauch überzog seine allzu glatten Wangen.

»Sehr freundlich von Ihnen … Vater.«

Ich hatte es befürchtet und es trat ein: Wir gingen zu dritt. An der Türe ließ ich den Priester vor und musste mich sehr darüber wundern, dass der Fremde seinerseits den Anstand besaß, mir den Vortritt zu lassen. Wir gingen über den Hof, am Westbrunnen und dem toten Garten vorbei und dann auf dem Pfad durch das Wäldchen zur Kapelle.

Die ganze Zeit referierte der junge Vater gestikulierend, welche Teile meiner letzten Übersetzung dem Abt insbesondere gefallen hätten. Beispielsweise heikle Stellen wie jene, an der Thomas von Aquin feststellt, dass Maria zwar in Erbsünde empfangen, jedoch nicht in Erbsünde geboren worden sei, und auch, dass die in ihr verbliebene Sünde gänzlich bei der Empfängnis Christi aufgehoben worden wäre.

»Wobei Ihre Übersetzung allerdings vermittelt, dass es gleichgültig sei, ob sie nun frei von der Sünde gewesen ist oder nicht«, bemerkte Vater Jonas, während er sich mit dem sicheren Überqueren der dicken Wurzelstränge mühte, die ständig den Pfad durchkreuzten.

»Gewiss kann meine Arbeit keinen Anspruch auf Vollkommenheit erheben«, murmelte ich, den Blick auf den Boden geheftet. Tatsächlich war es aber vielmehr Vater Jonas, der keinen Anspruch auf genaues Lesen erheben konnte. In meiner Übersetzung kam genauso deutlich wie im Original zum Ausdruck, dass die Frau bei der Zeugung eines Kindes von Natur aus als passiv anzusehen war. Aquin zufolge war sie lediglich eine Art von Gefäß, dessen Sünde die Reinheit Jesu ohnehin nicht beflecken konnte.

»Aber sonst fand auch ich Ihre Arbeit wirklich gelungen. Ich kann Ihnen nur empfehlen, dazu noch die Abhandlungen des Dominikaners Bonaventura zu studieren«, fügte Vater Jonas hinzu.

Hinter mir, wo der Fremde ging, meinte ich ein Schnauben zu vernehmen. Aber ich musste mich irren – denn wie sollte ein einfacher Handwerker auch wissen, dass Bonaventura zum einen Franziskaner und zum anderen der Vertreter einer völlig entgegengesetzten, sehr viel moderneren Sicht war? Dies war kaum ein Wissensgebiet, das sich aus dem Ausbessern von Wandbildern erschloss. Und dennoch umfloss mich die Argumentation des Priesters fortan nur noch wie seichtes Geplätscher, während ich jedes Knarren der schweren Stiefel hinter mir überdeutlich vernahm.

Über der Unterhaltung hatten wir die Kapelle erreicht. In der gleichen Reihenfolge, in der wir zuvor das Haus verlassen hatten, traten wir auch hier wieder ein. Kaum im Inneren angelangt, lobte Vater Jonas die gotischen Fenster, die es ihm angetan hatten, sowie den Grundriss der Kapelle insgesamt, der ihn an jenen der Klosterkirche erinnerte. Auch das gotische Fresko gefiel ihm, wobei ihn allerdings das neu errichtete Gerüst bei seinen Betrachtungen störte. Und so ging es in einem fort.

Ich hatte mich so leise wie möglich von ihm entfernt und ließ mich in einer der violetten Bänke nieder. Von dort aus wirkte der Altarraum wie eine Bühne für die zwei ungleichen Akteure: Während der junge Priester unverwandt umherging, hier und dort Dinge aufnahm und fortwährend seine Eindrücke erläuterte, ignorierte ihn der Fremde auf geradezu unverschämte Weise; er studierte sein Notizbuch, verglich Aufzeichnungen mit verstreut umherliegenden Notizen und Skizzen und erzwang sich gelegentlich zwischen dem Altar und den Bänken Durchgang, indem er sich rücksichtslos an dem Jüngeren vorbeidrängte. Einmal schob er ihn gar beiseite, als sei dieser nicht mehr als ein sperriges Möbelstück.

Um mich von den gereizten Manövern des Malers abzulenken, konzentrierte ich mich auf die Veränderungen, die in der kurzen Zeitspanne seit seiner Anwesenheit Einzug gehalten hatten. Zunächst sprang das vier Meter hohe Gerüst ins Auge, von dessen zwei Ebenen nun nahezu jede Partie des großen Freskos erreichbar war. Zwar sah es für meinen Geschmack ein wenig fragil aus, dennoch verfügte der Fremde gewiss über genug Erfahrung mit solchen Hilfsmitteln, um ein solches zweckdienlich zu konstruieren. Aber auch dezentere Veränderungen hatten Einzug gehalten. Die Messutensilien, die sich normalerweise auf dem Altar befanden, waren unachtsam an den Rand geschoben worden, und stattdessen übersäten nun verschiedene Tiegel, Flaschen, Zeichenmaterialien und Pinsel in allen Größen, und daneben Hammer und Meißel, den steinernen Altar. Selbst die vorderen Bänke waren gänzlich von Papieren bedeckt, auf denen Skizzen und Zeichnungen zu sehen waren. Zwar hätte ich nur allzu gern einen genaueren Blick darauf geworfen, aber ganz gewiss wollte ich nicht riskieren, dem Fremden genauso im Weg zu sein wie Vater Jonas, der nicht einmal bemerkte, dass er sich mitten in dessen Wirkungsbereich befand. Interessiert nahm er gar einige der Skizzen von den Bänken auf, um sie achtlos an anderer Stelle wieder fallen zu lassen – worauf die Kiefernmuskeln des Fremden für einen Moment gefährlich hervortraten. Doch der Jüngere hob nur eine weitere Zeichnung auf. Bei dieser stutzte er. »Nanu, ist das nicht ein Rosenstock? Und das an diesem Ort?«, verwundert wandte er sich dem Fremden zu.

Dessen Augen hatten sich verengt. »Sie finden die Vorlage dafür dort hinten um den Türrahmen herum. Schauen Sie sie sich besser genau an, denn in zwei Jahren ist dort nichts mehr zu sehen. Die Hausherrin hat es so beschlossen.«

Vater Jonas spazierte zu dem Relikt hinüber. »Nun ja, freilich sehr hübsch«, er runzelte die Stirn in nachdenklicher Irritation. »Und doch ist es verständlich, warum Frau von Eschweih den Stock nicht erhalten will. Er ist viel unordentlicher gemalt als das Altarfresko … und zudem passen solch üppige Motive ja auch kaum in eine Kapelle, wo man sich doch besinnen soll, nicht wahr? Es besteht gewiss kein Anlass, den vom Gebet gerade erhöhten Geist an der Schwelle vom Bild einer profanen, wuchernden Pflanze herunterziehen zu lassen.«

Der Fremde hatte sich bei diesen Worten langsam umgedreht. »Mit dem ersten Argument hätten Sie unter Umständen Recht. Natürlich ist der Rosenstock nicht im Stil der Bibelszene hinter dem Altar gemalt, sondern freier«, er lehnte sich an eine der Bänke unter einem rosafarbenen Fenster. »Allerdings wundere ich mich doch sehr über Ihre zweite These: Eine Kapelle soll kein angemessener Ort für Rosen sein, Vater?«, er legte den Kopf schief, kreuzte die Arme vor der Brust und fixierte den jungen Mann, als würde er Maß nehmen. »Sie als Mann Gottes sind doch sicher mit der Rosa Mystica vertraut?«

Vater Jonas’ blaue Augen blickten neugierig in die des Fremden. »Ist das vielleicht eine Rosensorte?«

Ich zuckte zusammen, er dagegen schien keinerlei Vorstellung davon zu haben, worauf das hinauslief.

Die Türklinke senkte sich knirschend, ich blickte kurz über die Schulter und sah eine kleine Hand im Türspalt auftauchen, bevor ein bleiches ungewaschenes Gesicht darin erschien – um gottlob sogleich wieder zu verschwinden. Als ich, meinen Schal um die Schultern straffend, mich wieder nach vorn wandte, bemerkte ich, wie der Blick des Fremden wachsam erst zum Eingang und dann zu mir zurückwanderte, um sich erst dann wieder dem jungen Priester zuzuwenden.

»Nein«, antwortete er. »Hier geht es nicht um Botanik. Mit dem Begriff Rosa Mystica wird im Allgemeinen die heilige Maria bezeichnet, weil sie in ihrer Reinheit als die dornenlose, also die perfekte Rose unter den Frauen gilt.«

Trotz der warmen Wolle um meine Schultern lief es mir kalt den Rücken hinunter, als sei ich es, die belehrt würde. Als ob er den Schauder fühlen könnte, warf der Fremde mir einen weiteren Blick zu, bevor er fortfuhr. »Allerdings haben Sie Recht damit, dass die Rose von der Kirche lange Zeit als unzüchtig betrachtet wurde. Galt sie doch schließlich als Blume der sinnlichen Aphrodite, der schönen Venus und sogar der germanischen Göttin Freya. Wussten Sie etwa, dass bei den alten Germanen wertvolle Schwerter als ›Rosen‹ bezeichnet wurden? Nein? Nun, zugegebenermaßen war sie zu allen Zeiten in erster Linie ein Symbol für die Liebe. Und zwar besonders für die erotische«, er bedachte Priester Jonas mit einem anzüglichen Grinsen. »Huren beispielsweise trugen in Städten lange Zeit Rosen als Erkennungszeichen.« Er hatte während seiner Ausführung die Breite der Kapelle durchmessen, lehnte nun am Grabstein meiner Mutter. Meine Nackenmuskeln spannten sich bis zum Zerreißen. Er warf erst mir, dann dem Priester einen kurzen Blick zu, bevor er seinen gemächlichen Rundgang wieder aufnahm.

»Aber das ist noch nicht alles«, seine Hand glitt über eine Kniebank. »Als Blume der Weisheit galt sie den Alchemisten und von den Ägyptern wurde sie Harpokrates, dem Gott des Schweigens, geweiht. Deshalb können Sie auch in größeren Kirchen, wie zum Beispiel Ihrer Klosterkirche, geschnitzte Rosen über den Beichtstühlen entdecken, Vater. Alles sub rosa dictum, bleibt geheim«, er drehte sich höhnisch dem Priester zu. »Sie wissen doch, das ist Latein und es bedeutet das unter der Rose Gesagte.«

Nervös zuckte der Adamsapfel des Jungen.

»Die Rose steht also für sehr viel mehr als nur für die Sinnlichkeit«, fuhr der Fremde fort. »Und in der Tat hat auch Mutter Kirche dies irgendwann zur Kenntnis genommen und sich endlich dazu durchgerungen, diese skandalöse Blume als Symbol für Maria anzuerkennen. Offiziell wurde es allerdings erst 1208, als der heilige Dominikus die Gebetsschnur in ›Rosenkranz‹ umbenannte, was Sie ja zweifellos wissen werden. Werfen Sie doch einen Blick auf die gemalten Rosenblüten, Vater Jonas.« Gerade hinten angekommen zeigte er in dem violetten Licht hinauf zu den Blüten über der Tür. »Sie sind rot. Und sie haben die gleiche Form wie die Blutflecken von der Stirn Christi. Hübsch gesehen von Ihren geistigen Brüdern, nicht wahr? Und wenn selbst Mutter Kirche die Rose inzwischen für sittsam und kontemplativ hält, dann können wir es doch auch, meinen Sie nicht, Vater?« Er war wieder zurückgeschlendert und stützte sich ein Mal mehr auf das Grab meiner Mutter. Ein breites ironisches Lächeln überzog sein Gesicht und verzerrte die Narbe, die sich hell von seinen Bartstoppeln absetzte. Der im Laufe der Rede dunkelrot angelaufene junge Priester lächelte zittrig.

Doch der Fremde war noch immer nicht mit seiner Belehrung am Ende. »Ach, und zu Ihrem vorhin geäußerten Zweifel, Vater, ob der Rosenstock am Eingang passend angebracht sei: Nun, ich finde schon! Und Generationen von sakralen Künstlern werden sich mir vermutlich anschließen. Denn gotische Kathedralen, Vater – und wie ich verstanden habe, mögen Sie diesen Stil, lobten Sie doch vorhin die Form der Fenster – gotische Kathedralen also besitzen gelegentlich Rosettenfenster über dem Eingang. Diese sollen unter anderem darauf verweisen, dass uns ewiges und vollkommenes Leben erst im Jenseits blüht. Sie sehen also, dass der Rose mannigfache und nicht zuletzt heilige Bedeutungen zugedacht werden. Daher sollten wir ihr nicht absprechen, gerade hier, an diesem Ort der Kontemplation, aufzutauchen. Oder sehen Sie das anders?«

Wie erschlagen folgten der Priester und ich dem Fremden stumm mit den Augen, während er nochmals die Breite der Kapelle durchmaß und sich nun zur Abwechslung gegen den schwarzen Granitstein Priester Matthäus’ lehnte. Seine Augen bohrten sich in meine. »Dagegen ist das Altarfresko, über dessen Wert Sie sich immerhin alle einig zu sein scheinen, vom symbolischen Standpunkt weitaus fragwürdiger. Es befindet sich nämlich an der Ostwand und nimmt damit genau den Platz ein, an dem sich traditionellerweise ein Erlöserkreuz befinden sollte«, er zuckte mit den Schultern. »Statt mit einer in Aussicht gestellten symbolischen Erlösung werden wir hier also lediglich mit einem Gott konfrontiert, der uns ermahnt, ihn als übermächtig und unerklärlich hinzunehmen. Finden Sie das nicht auch bedauerlich, Vater?«

Dieser sah vollkommen verwirrt zu Boden. Ich erhob mich aus meiner Bank und trat in den Gang. »Wenn es nicht so selbstverständlich wäre, würde Ihnen Vater Jonas sicher darauf antworten, dass die Ermahnung, wie Sie es nennen, in Wahrheit dafür steht, dass sich Gott zu uns in Beziehung setzt. Indem er sich uns offenbart, enthüllt er auch seine Göttlichkeit und gibt uns damit das Versprechen, fortan bei uns zu sein.« Im Guten wie im Bösen.

Ich wandte mich dem Jüngeren zu. »Sie aber, Vater, haben heute bereits einen langen Weg zurückgelegt und müssen sehr müde sein. Daher schlage ich vor, dass Sie mich nun zurückbegleiten und eine Erfrischung zu sich nehmen, bevor Sie sich von einem der Fuhrwerke aus dem Dorf mitnehmen lassen«, ich berührte den noch immer unter der Wirkung der peinlichen Belehrung stehenden Jungen kurz am Ärmel und wies ihm den Weg hinaus. An der Tür konnte ich nicht widerstehen, einen Blick über die Schulter zurück zu werfen. Der Fremde sah mir mit einem eigentümlichen Ausdruck in den Augen nach. Darin lagen Verachtung – und Bitterkeit.


Die Buchstaben wurden ein ums andere Mal unscharf, ich schaffte es einfach nicht, mich an ihnen festzuhalten; wann immer meine Augen über sie hinwegglitten, wichen sie tanzend zurück, verspotteten mich. Es war aber auch kein Wunder, denn in Gedanken fiel ich ein ums andere Mal in die Kapelle zurück und lauschte wieder und wieder dem arroganten Vortrag des Fremden – und fragte mich fortwährend, wie es überhaupt dazu hatte kommen können, dass ein Handwerker einen Priester belehrte …

Meine Überlegungen wurden von dem Geräusch des Klopfers unterbrochen. Mechthilds Altstimme und Thalitas Sopran erklangen in der Halle. Ich verließ mein Pult und begab mich zu dem Regal, in dem die dominikanischen Schriften standen. Als Ergänzung zum Augustinustext waren diese sehr nützlich; ihre Ausführungen konnten das Verständnis immens steigern – doch vor allem standen sie direkt neben der Bibliothekstür, wo jedes Wort zu hören war, das in der Halle gesprochen wurde. Mein seit kurzem so undisziplinierter Geist brannte anscheinend darauf, zu erfahren, ob Mechthilds angeblicher Liebestrank irgendeine Wirkung entfaltet hatte. Also senkte ich den Kopf – und lauschte.

Zunächst ging es eine ganze Weile tatsächlich lediglich um unsere Federbetten und ihre Preise auf dem Markt. Doch selbst durch die Tür hindurch konnte ich spüren, dass dieses Thema nur als Einleitung zu jenem diente, auf das die Frauen in Wirklichkeit zu sprechen kommen wollten. Endlich konnte Thalita nicht mehr an sich halten, »Mechthild, du ahnst ja nicht, wie deine Liebeskräuter gewirkt haben! Johan wird diesen Tag so bald nicht wieder vergessen«, mühelos durchdrang ihr helles Lachen die Tür. Sie begann, die unsittlichen Symptome aufzuzählen, die sich bei Johan gezeigt hätten. Als sie auch noch anhob, genau zu beschreiben, was sich anschließend abgespielt hatte, wich ich zurück, um die Derbheiten und ihrer beider Lachen nicht zu hören.

Schändlich, bösartig und infam – das waren sie! Was hätte Priester Matthäus nur zu diesem Hexenwerk gesagt? Und vor allem dazu, dass ich nichts dagegen unternommen hatte? Er selbst war nie davor zurückgezuckt, der Hüter seiner Mitmenschen zu sein – und von mir hatte er immer das Gleiche erwartet. Ausgerechnet von mir, als hätte er nicht gewusst, wer ich war …

Ich trat an mein Pult. Mit unsicheren Händen schenkte ich mir Wasser aus der Karaffe in ein Glas und trank es in einem Zug halb leer, trat weiter an das Nordfenster, um mich mit dem tristen Anblick des Hofes zu beruhigen. Nur, dass dieser gar nicht verlassen war, stattdessen zog ein inzwischen vertrauter, dunkler Umriss am Brunnen meinen Blick auf sich. Es surrte, als der Eimer in die dunklen Tiefen hinabfuhr.

Die Eingangstür ging auf und wieder zu. Thalita trat auf den Hof. In meinem Wasserglas erhob sich ein kleiner Sturm. Gern hätte ich mich abgewandt – aber genau, wie ich einst außerstande gewesen war, den Blick von Klio zu wenden, als sie einen fliehenden Hasen erfasst und mit einem spielerischen Kopfschütteln sein Genick gebrochen hatte, konnte ich mich nicht wegdrehen.

Doch zunächst wanderte die junge Frau knirschend über den Kies des Hofes auf den Fremden zu, ohne dass er aufgesehen hätte. Stattdessen säuberte er weiter Pinsel und Werkzeuge. Endlich am Brunnen angelangt, blieb sie vor ihm stehen. Sie hatte ihren Mantel trotz der kalten Witterung geöffnet und zwischen den Schößen schwangen drei Reihen gefältelter Röcke. Noch auffälliger war jedoch das tiefe viereckige Dekolletee, das von keinem Musselintuch bedeckt war, sowie der Schwall von weizenblonden Locken, die ihr skandalös offen über die Schultern wallten, während die Haube locker von ihrem Handgelenk baumelte.

»Man sieht selten neue Gesichter hier auf dem Hof«, sagte sie leichthin und warf kokett ihr Haar zurück. »Wollen Sie mir nicht verraten, wer Sie sind?«

Zwar war sie einige Fingerbreit größer als ich, dennoch überragte er auch sie um eine knappe Elle. Er sah kurz zu ihr hinüber, schrubbte aber weiter ungerührt seinen Eimer aus, in dem sich eine Art Lauge befunden zu haben schien, um endlich das schmutzige Wasser mit einem Schwall auszukippen – keinen halben Schritt von ihr entfernt.

»Und was geht das dich an?« Ohne eine Antwort abzuwarten, bückte er sich erneut nach ein paar Lappen, hob auch einen Hammer nebst anderen Werkzeugen auf und steuerte damit, ohne sich umzudrehen, auf die Scheunentür zu. Sie lachte nur auf und schlenderte ihm ohne Hast hinterher, verschwand, wie er, in der dunklen Öffnung der Scheune.

Grundgütiger! Was tat sie da nur? Urplötzlich zog es durch die Bleifassungen der Fenster und ich musste das Glas abstellen und die Arme um mich legen, um mein inneres Zittern zu unterdrücken. Der Fremde war nicht Johan – hier machte sie der offenen Gefahr den Hof!

Doch schon einen Moment später tauchten beide wieder in der offenen Tür auf. Ich war darauf gefasst, Spuren von Verwirrung oder Scham in ihrem Gesicht zu sehen – fand jedoch seltsamerweise nichts davon – stattdessen spielte vielmehr ein kokettes Lächeln um ihre Lippen und auf seinen scharfen Zügen fand sich sogar eine Spur von Amüsement! Das Paar blieb neben der Schuppentür stehen, fuhr in seiner anscheinend in der Scheune begonnenen Unterhaltung fort. Thalita lachte gelegentlich perlend auf, schien nun seine volle Aufmerksamkeit gewonnen zu haben. Gelegentlich wanderten seine Augen hinunter zu dem provokanten Ausschnitt, was sie jedoch keineswegs zu stören schien – im Gegenteil! Sie strahlte durchaus Zufriedenheit über ihre Wirkung aus; ihre hellen Augen blitzten und die Wangen waren von einem zarten Rot überhaucht. Ich spürte, wie auch die meinen anfingen zu brennen.

Die Natur ihres Gesprächs schien immer anzüglicher zu werden. Immer öfter ertönte ihr Gelächter und auch auf seinen Zügen erschien ein Ansatz von Heiterkeit, der, obgleich er zurückhaltend war, doch immerhin in einem beträchtlichen Kontrast zu dem grimmigen Ausdruck stand, den er sonst zur Schau trug. Seine Wolfsaugen in ihren tiefen Höhlen lauerten wie stets, doch schien Thalita keinerlei Angst vor ihnen zu empfinden, sie sogar zu suchen.

Ich traute meinen Augen kaum, als ihre weiße Hand mit einem Mal in einer fließenden Bewegung nach oben fuhr und an seinem dunklen Zopf zog, um dann zur Seite auszuweichen und zu flüchten. Der Fremde setzte ihr nach und hatte sie sogleich eingefangen. Er drückte sie gegen die Wand der Scheune und stützte sich mit gestreckten Armen von dem Holz ab! Für einen Herzschlag vereiste jegliches Gefühl in mir, ich hörte nur noch mein Herz rasen.

Unfassbarerweise schien Thalita jedoch auch diese spielerische Demonstration seiner körperlichen Überlegenheit Vergnügen zu bereiten. Sie lachte, tauchte dann mit einer flinken Bewegung unter seinen Armen hindurch und lief leichtfüßig einige Schritte von ihm fort, dass der Kies unter ihren Pantoffeln nur so wegspritzte. Am Ende winkte sie ihm schelmisch zu, bevor sie auf dem Weg zum Dorf verschwand.

Er sah ihr mit einem leichten Grinsen hinterher, wandte sich dann ab und schritt langsam in Richtung Kapelle. Auf der Höhe meines Fensters wandte er den Kopf und starrte mich geradewegs an. Diesmal gelang es mir, den Blick abzuwenden.

Als ich wieder hinsah, war er fort. Etwas drückte mir die Luft ab. Es war meine eigene Hand. Sie umklammerte die Knöpfe, mit denen mein Filzkragen wie immer bis zur Kehle hochgeknüpft war. Ich schnappte nach Luft – und zerrte ihn noch höher.

Der Dornengarten

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