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4. Wollust

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Ich sah von der kaum beschriebenen Seite vor mir auf und rieb mir die Augen. Es war gerade erst Morgen und doch fühlte ich mich schon schrecklich müde. Ans Übersetzen war gar nicht erst zu denken – schon seit sechs Tagen nicht, seit er hier war. Selbst bei der bloßen Abschrift von Zitaten schlichen sich seit Neuestem Fehler ein, die mir noch nie zuvor unterlaufen waren und die ich mit einer Klinge wieder vom Papier schaben musste. Nachdem ich der Szene vor der Scheune beigewohnt hatte, war die Arbeit in der Bibliothek zu einem Auftürmen hohler Stunden bis in den Himmel verkommen. Dabei ließen noch nicht einmal die Zitate, die ich kopierte, einen Zweifel an dem, was ich gesehen hatte. Ich las noch einmal den letzten, soeben vollendeten Satz:

Denn das sind die Tage der Rache, dass erfüllet werde alles, was geschrieben ist.

Und davor:

Die Rache ist mein; ich will vergelten. Zu seiner Zeit soll ihr Fuß gleiten; denn die Zeit ihres Unglücks ist nahe, und was über sie kommen soll, eilt herzu.

Damit war natürlich ich gemeint … Ich versuchte dennoch, mich zu fassen, untersuchte mit zusammengebissenen Zähnen die Zeilen, ob sie so ebenmäßig waren, wie sie zu sein hatten. Täuschte ich mich, oder sah man selbst meiner Schrift seit Neuestem eine bestimmte Unruhe an? Würde er, als Restaurator, wohl eine Änderung in ihr erkennen?

Anklagend breitete sich plötzlich ein schwarzer Fleck in der nächsten Zeile aus; aus meiner untätigen Feder war Tinte auf das teure Papier geflossen. Aufgewühlt löschte ich den Fleck. So ging es einfach nicht weiter! Bis Ostern waren es schließlich noch ganze vierunddreißig Tage – genug Zeit, um den Verstand zu verlieren!

Normalerweise reservierte ich die wertvollen Stunden des Tages für die Schriften und tat die profanen Hof- und Hausarbeiten an den Abenden, wenn mein Geist ohnehin erschöpft war. Doch womöglich war es besser, wenn ich die Dinge in der nächsten Zeit umgekehrt anging. Vielleicht würde sich mein überreizter, buckelnder Geist wieder beruhigen und war eher wieder bereit, im Joch zu gehen, wenn er sich mit Profanerem beschäftigen musste. Zu tun gab es mehr als genug; bald kam die Zeit für die Frühaussaat und die Kartoffeln dafür mussten noch sortiert werden. Diese Aufgabe war so öde, wie ich es mir nur wünschen konnte; gewiss würde sie meine Emotionen gehörig abstumpfen.

Noch immer überreizt stakste ich aus der Bibliothek und dann quer über den Hof, hinüber zur Scheune. Vor der schiefen Tür zauderte ich kurz – konnte ich doch förmlich noch den Abdruck der zwei Körper an der Wand vor mir sehen – doch da war ich auch schon hindurch.

Die Scheune war fast so groß wie das Haus, nur um einiges dunkler. Ich tappte an dem Werkzeug und den Gerätschaften vorbei, die an eine Folterkammer erinnerten, und dann die drei Stufen zu dem abgesenkten Boden hinunter, wo wir, halb unter der Erde, Erntefrüchte lagerten. Wie immer erschauerte ich kurz, bevor ich mich an das Gefühl, in einer Gruft zu sein, gewöhnt hatte, mit den hier selbst am Tage herumhuschenden Mäusen und Ratten. Aber es geschah mir nur recht: Wer seinen Geist nicht zügeln konnte und keine hohen Arbeiten zu tun vermochte, musste eben mit den niederen vorlieb nehmen. Dennoch sah der Kartoffelberg vor mir entmutigend aus; es würde Stunden und Tage dauern, jede Knolle einzeln zu verlesen. Gerade wollte ich niederhocken, um damit anzufangen, als es über mir, auf dem Heuboden, raschelte und dumpf hallte, als schreite jemand über die Bretter.

»Mechthild?« Ich lauschte. »Otfried? Wer ist da?«

Niemand antwortete. Vor Jahren hatte sich schon einmal ein Wildschwein Zugang zu den Kartoffeln und Möhren verschafft – womöglich war es diesmal ein Fuchs, der ein Huhn über die Stiege nach oben verfolgt hatte?

So leise wie möglich huschte ich zurück. Als ich die Gerätschaften passierte, nahm ich einen abgebrochenen Axtgriff auf. So bewaffnet stieg ich leise die Stiege in der Mitte der Scheune hinauf.

Auf dem Boden war das Heu in unregelmäßigen Wehen aufgehäuft. Das Geräusch war nicht von der Westseite gekommen, wo der Heuboden endete und sich dafür das Stroh bis zur Decke türmte, sondern von Osten. In diesem Moment raschelte es noch einmal!

Ich umfasste meinen Knüppel fester und schlich nahe der Wand entlang weiter, wo es ein Durchkommen gab. Hinter dem nächsten Heuhaufen musste es sein.

Mit dem Stiel ausholend sprang ich vor – und konnte mich gerade noch zurückhalten, mein eigener Schwung holte mich fast von den Füßen. Erschrocken stieß ich die angehaltene Luft aus: Um ein Haar hätte ich ein Kind erschlagen!

Das Mädchen saß in einem Heunest, die Arme um die Knie geschlungen – und hinter ihr kniete die junge Frau, die im Wäldchen vor mir davongelaufen war; sie flocht der Jüngeren das Haar!

Beide sahen von unten zu mir auf, wie ich schwer atmend mit dem Knüppel über ihnen stand.

Ich ließ ihn endlich sinken. »Wer – was habt ihr hier zu suchen?«

Das Mädchen war vielleicht elf Jahre alt, oder zwölf. Aus dem Heu lugten schmutzige nackte Füße hervor und ihre Arme waren zerkratzt. Die junge Frau hingegen mochte vielleicht achtzehn Jahre zählen. Ihr Kleid war schon verblichen, mit einer hohen Taille. Ihr Haar war dunkel und wirr, sie trug keine Haube und ihre seidenbezogenen Pantoffeln, die schon halb auseinanderfielen, waren völlig unpassend für die raue Witterung. Beide sahen so abgerissen aus, als hätte sie schon etliche Nächte im Wald verbracht.

»Was ihr hier zu suchen habt?«, wiederholte ich lauter. »Ich sehe euch schon seit Tagen hier herumschleichen. Habt ihr euch jetzt wie Zecken hier festgesetzt?«

Sie sahen sich gegenseitig an, sagten aber nichts.

»Seid ihr mit Thalita gekommen?«, forschte ich weiter.

Die Ältere schüttelte den Kopf.

»Wer seid ihr? Seid – seid ihr verwandt?« Zumindest sahen sie sich sehr ähnlich.

»Ja.«

Ich atmete heimlich auf, dass die beiden immerhin sprechen konnten. Ihr Schweigen war mir schon unheimlich geworden. Zwei Schwestern, nichts weiter, sagte ich mir. Wahrscheinlich kamen sie aus irgendeinem bitterarmen Kaff und wollten sich möglichst weit fort davon als Mägde verdingen. Der Weg dahin war länger als sie gedacht hatten und ihnen war ihr mickeriges Brot ausgegangen, außerdem war es frostig und ihre Kleidung zu dünn. Solche Geschichten hatte ich früher oft gehört.

»Wie heißt ihr?« Der Himmel allein wusste, warum ich das wissen wollte. »Nun?«, ich sah die Jüngere an.

»Gret«, sagte sie. »Gretchen.« Sie klang lebhafter, als ich erwartet hätte. Eins jener Kinder, die immer rannten und niemals gingen.

»Und du?«

»Anne.«

»Woher kommt ihr?«

»Na, von hier«, sagte das Mädchen grinsend. »Woher sonst?«

Also aus dem Dorf. Das war gut möglich, sie waren beide zu jung, als dass ich mich noch an sie erinnern würde. Weit waren sie in diesem Fall nicht gekommen.

»Und wohin wollt ihr? In die Stadt?«

Die Ältere zuckte mit den Schultern. »Wir dachten, wir könnten vielleicht erst einmal hier bleiben«, sie lächelte. »Es ist schön hier und es kommen ja so viele Menschen her.«

»Zum Beispiel die schöne goldhaarige Frau und der junge Priester«, fiel das Mädchen ein.

»Und dieser große Mann mit der Narbe«, die Ältere strich der Schwester Heu von der Schulter. »Es muss wunderbar sein, so viel Besuch zu haben.«

»Das ist kein Besuch«, stellte ich richtig. Aber sie hatten recht, in der letzten Woche kamen und gingen hier – gegenüber den letzten dreizehn Jahren – wahre Menschenhorden ein und aus, diese beiden inbegriffen.

»Aber wir könnten doch dein Besuch sein«, die Kleine sah mich mit glänzenden Augen an. »Dein Haus ist groß genug.«

»Auf keinen Fall«, sagte ich schnell. »Und für euch bin ich Frau von Eschweih.« Aus welchem Loch im Boden waren die beiden nur gekrochen, dass sie keinen Unterschied zwischen sich und mir sahen? »Habt ihr denn gar keine Familie, die euch vermisst?«

»Wir haben doch uns«, Anne lächelte mich an.

Sie sahen sich in der Tat sehr ähnlich. Fast beneidete ich sie ein wenig, denn auch ich hatte mir früher Schwestern gewünscht, mit denen ich geheime Bünde eingehen und denen ich Geheimnisse erzählen konnte – aber diese Zeiten waren längst vorbei. Es war hingegen gut, dass sie sich gegenseitig hatten, denn ich musste sie wieder fortschicken. Es tat mir leid, denn es war noch bitterkalt und das durchgeriebene Leinenkleid der Jüngeren war viel zu kurz für ihr Alter – ganz zu schweigen davon, dass sie barfuß war, und das fast noch im Winter! – aber bleiben konnten sie auf keinen Fall. Dann würden sie Eier und Äpfel stehlen, vielleicht sogar Hühner. Manche Landstreicher brannten gar ganze Güter ab, weil sie in der Scheune Feuer entzündeten, um sich zu wärmen. Vagabunden waren wie Ratten, nur schlimmer. Außerdem war da noch Mechthild …

»Ihr könnt nicht bleiben. Wir haben gerade einmal genug für uns selbst, ich kann keine zwei zusätzlichen Mäuler stopfen. Heute Abend will ich euch hier nicht mehr sehen. Ist das klar?«

Sie sahen mich nur mit großen Augen an.

»Sonst hetze ich die Hunde auf euch!« Meine Härte tat mir gleich wieder leid und kurz erwog ich, ihnen etwas zu essen zu geben, aber bestimmt hatten sie sich ohnehin bereits an unseren Vorräten gütlich getan.

»Ihr verschwindet! Und zwar plötzlich!«, Schritt für Schritt zog ich mich wieder zurück, den Knüppel noch immer in beiden Händen, während sie von unten zu mir aufsahen wie Tiere.


Die Schwestern hatten mich derartig durcheinandergebracht, dass ich die Kartoffeln ganz vergaß. Gedankenverloren lief ich in die Küche und brühte einen Sud aus Ehrenpreis, Salbei, Baldrian und Johanniskraut auf. Mechthild, die am Herd stand, betrachtete die Zusammenstellung der Kräuter mit hochgezogenen Brauen – doch immerhin konnte sie nicht ahnen, was meine Unruhe ausgelöst hatte. Wo ich gerade einmal in der Küche war, verdonnerte sie mich sogleich zum Flicken eines großen Tischtuchs, das beim Waschen durchgerieben war. Derweil kochte sie Bohnen und Speck, was sie sonst kaum je tat, weil sie sagte, das sei Essen für niedere Leuts oder schlechte Zeiten. Kaum hatte ich das Tischtuch fertig, ließ sie mich absurderweise auch noch Servietten aus Batist säumen, die wir ja doch nie benutzen würden. Erst am späten Nachmittag machte sie sich murmelnd auf den Weg zu ihrem und Otfrieds Haus, um dort ihren eigenen Haushalt zu beschicken.

Kaum war sie weg, ließ auch ich die Näharbeiten fallen und sprang auf, lief zur Scheune hinüber und schob mich leise durch die Tür. Schließlich musste ich prüfen, ob meinen Anweisungen Folge geleistet wurde. So lautlos ich konnte, stieg ich hinauf zu ihrem Versteck. Nichts. Das Nest war leer. Ich wanderte noch weiter zwischen den Heuhaufen umher, bis hinüber zu der anderen Seite. Aber meine Drohung hatte anscheinend Eindruck gemacht, sie waren wirklich fort.

Gerade wollte ich aufatmen und das Ärgernis vergessen, als unten die Tür knarrte und unterdrücktes Lachen ertönte. Also doch!

Ich kauerte nieder, saß ganz still. Sollten sie ruhig hochkommen! Auf dieser Seite konnten sie mich nicht sehen, und sobald sie oben waren, würde ich hinunterlaufen und die Hunde rufen. Allein der Anblick der gewaltigen Hauer würde ihnen Beine machen! Ihnen würde ich schon noch beibringen, mich zum Besten zu halten!

Doch es stieg niemand hoch. Stattdessen taumelten sie, den Geräuschen nach, mehr als dass sie gingen, in Richtung Stroh. Hatten sie sich etwa an Otfrieds Weinbrand vergriffen? Irritiert lugte ich aus der sicheren Deckung eines Heuhaufens über den Rand des Heubodens nach unten – und schlug mir die Hand vor den Mund.

Es waren nicht die zwei Vagabundinnen. Sondern Thalita und der Fremde.

Schleppte er sie etwa gegen ihren Willen mit sich? Ich konnte es nicht genau sehen, nur dass er ihren Mund mit Küssen verschloss, während er ihre Kleider aufknüpfte und sie zugleich vor sich her zum Stroh drängte. Seine Hände bewegten sich schnell und fordernd – hart, denn sie quietschte auf, doch da hatten sie schon das Stroh erreicht und er drückte sie auf das nachgiebige Lager nieder, ohne ihren Widerstand zu beachten. Schwer sank sein Körper auf sie hinunter, hielt sie nieder.

Ihr Oberkleid war bereits aufgeknüpft und die Schnüre, die das Unterkleid banden, gelöst, roh zog er es nun nach unten und legte ihre volle Brust frei, knetete diese und biss in ihren Hals, dass ihr ein überraschter Laut entfuhr. Seine Hand arbeitete sich die Röcke hoch, Thalita wollte ihn aufhalten, hielt ihn am Handgelenk fest, aber es kostete ihn keine Mühe, sich durchzusetzen. Ihre Augen waren geweitet, doch als sie den Mund öffnete, um etwas zu sagen, hielt er ihn einfach zu, fuhr ihr gleichzeitig zwischen die entblößten Beine. Er löste seine eigenen Beinkleider, stützte sich dann ab und drang mit einer einzigen Bewegung in sie ein. Gedämpft von der Hand über ihrem Mund, schrie sie auf.

Sein Zopf fiel nach vorn, darunter spannten sich sein Hals und seine Schultern, die Muskeln unter dem schwarzen Hemd spielten, als er sein Gewicht verlagerte. Sie wollte ihn von sich stemmen, erreichte jedoch nur, dass er ihren Mund freigab, um sich besser abstützen zu können. Statt Gnade zu zeigen, griff er nur in ihre Locken und zog ihren Kopf zurück, biss noch einmal in ihren Hals. Sie holte nach seinem Gesicht aus, aber es war zwecklos, falls er die Schläge überhaupt bemerkte, beachtete er sie nicht. Plötzlich zog er sich zurück, drehte sie mit einer Bewegung herum, stieß ein Knie zwischen ihre Beine und drang von hinten in sie ein. Sie gab noch einen Schrei von sich, doch er stieß nur immer gröber in sie hinein, hatte jeden Anschein von Rücksicht aufgegeben, seine Bewegungen waren nunmehr roh.

Mir wurde grau vor Augen, mit beiden Händen suchte ich Halt im Stroh.

Mit einem Mal drückte sich sein Rücken durch, seine Schultern weiteten sich und sein Hals bog sich zurück. Seine Augen waren geschlossen, seine Züge wie in Schmerz verzerrt, die Narbe leuchtete weiß auf; für einen Moment schien er weit fort zu sein, als hätte sein Geist den Körper verlassen, sich schwebend über die beiden Leiber erhoben – ich fuhr zurück, als könnte dieser mich streifen, kauerte noch tiefer – da sank sein Kopf aber auch schon wieder nach vorn und er fiel über ihr zusammen, rollte dann im Stroh zur Seite.

Schwer atmend lagen sie nebeneinander. Langsam setzte sie sich dann auf, begann, ihre Kleidung zu richten. Die nackte Angst war aus ihrem Gesicht verschwunden. Jetzt betrachtete sie ihn nachdenklich, ein wenig vorwurfsvoll, als hätte er versäumt, ihr eine Ankündigung zu machen oder hätte eine grobe Bemerkung gemacht. »Du nimmst dir, was du willst. Ein Mann und kein Junge«, stellte sie endlich fest.

Er schnaubte. »Gehst du eigentlich immer so liederlich?« Spöttisch wickelte er sich eine Locke um die Hand. »Mit offenem Haar?«

»Bin ich dir nicht respektabel genug?«

»Du gehörst unter die Haube. Längst.«

Ihre Brauen hoben sich. »Willst du mir etwa eine aufsetzen?«

Sein Gesicht verzog sich. »Nein.«

Sie stand auf. »Ich muss jetzt gehen. Begleitest du mich?«

»Wozu?«

»Es ist spät und der Weg durch den Wald ist nicht sicher«, sie knöpfte ihren Mantel zu.

»Was ist schon sicher?«, er streckte sich. »Außerdem kann dir niemand etwas stehlen, das du schon lange vorher verschleudert hast.«

Sie öffnete den Mund, schüttelte dann den Kopf und wandte sich ab, die Scheunentür knarrte hinter ihr zu. Er blieb mit geschlossenen Augen liegen, bis er sicher sein konnte, dass sie fort war. Dann setzte er sich auf, richtete seine Hose, beugte sich vor und griff sich in die Schultern, stöhnte leise. Endlich stand er auf und stakste langsam hinaus.

Ich blieb. Noch sehr viel länger. Zum einen, weil mir die Beine den Dienst versagten und zum anderen, weil ich ihm um nichts in der Welt begegnen wollte. Außerdem mühte ich mich noch immer, mit dem fertigzuwerden, was ich gerade gesehen hatte.

Denn es war nur eine Frage der Zeit, bis es auch mich traf.

Warum ließ Gott mich nicht endlich vergessen?


Die Lampe ließ meinen Schatten wie einen friedlosen Geist über die Wände tanzen. Meine Füße waren längst so eisig wie die Dielen, die sie auf meinem ruhelosen Gang so lautlos wie möglich berührten. Das Letzte, das ich wollen konnte, war ihn zu wecken, falls er nachts nicht ohnehin wach war, weil die Dunkelheit seine dunklen Triebe befeuerte. Und er war nur eine Wand entfernt, so dass die Klinke jederzeit niedersinken konnte; genau wie sein Gewicht auf meinen Leib. Ich sah sie vor mir, seine Narbe, direkt vor meinen Augen, während er mein Hemd hochzerrte, um meinen Körper zu benutzen, wie er den ihren benutzt hatte: wie die Rache des Herrn wie eine Blase über mir aufplatzen, mich in Pein ersticken ließ …

Zum hundertsten Mal schob ich meine zitternden Hände unter meine Achseln, um sie ruhig zu stellen, marschierte mit hochgezogenen Schultern weiter, mich selbst umarmend.

Nein, ich würde nicht schlafen. Nicht einmal eine volle Flasche Laudanum konnte mich jetzt dazu bringen, die Augen zu schließen – zumal ich ihn dann wieder und wieder hinter meinen Lidern würde sehen müssen: seine brutalen Hände, das blinde, reißende Stoßen, die Muskeln, die sich unter dem schwarzen Stoff spannten; den seelenlosen, kalten Blick …

Ich presste mir die Hand vor den Mund, versuchte, jeden Laut zu ersticken. Zum ersten Mal in meinem Leben fehlte mir Priester Matthäus’ flammende Moral, der Ingrimm, mit dem er den Fremden binnen Augenblicken aus dem Haus exorziert hätte, wenn dieser ihm den Funken einer Ahnung gegeben hätte, was er mit sich bringen würde – und ich wusste es ja genau.

Doch mein Oheim war fort. Alle Last trug nun ich. Also war ich nun diejenige, die tun musste, was zu tun war – der Schänder musste hinaus aus meinem Haus, gleich morgen – nicht wahr?

Mein Schatten an der Wand nickte wild sein Einverständnis. Doch das genügte nicht. Schließlich war es nicht an mir, zu entscheiden. Ich brauchte so dringend Weisung wie noch nie zuvor in meinem Leben; doch Matthäus war tot und Vater Gabriel schlief Stunden weit fort. Mir blieb also nur, den Rat des Allerhöchsten zu suchen, selbst, wenn es auf eine Weise war, die Ihm missfiel.

Widerstrebend ließ ich mich an meinem Sekretär nieder und öffnete die Lade, in der die Bibel lag. Als Kind hatte ich die Heilige Schrift oft auf diese Weise missbraucht, bis Priester Matthäus mich dabei ertappte und hart dafür züchtigte. Gott mochte mir verzeihen, wenn ich es jetzt wieder tat, doch diesmal war ich wahrlich in Not. Ich musste erfahren, was Er von mir erwartete.

So schlug ich mit geschlossen Augen das Buch auf, fuhr blind mit dem Zeigefinger über die Seite, um ihn schließlich verharren zu lassen. Gespannt beuge ich mich in dem schwachen Licht über den willkürlich gewählten Absatz.

Jetzt schauen wir in einen dunklen Spiegel

Und sehen nur rätselhafte Umrisse,

dann aber schauen wir von Angesicht zu Angesicht.

Jetzt erkenne ich unvollkommen,

dann aber werde ich durch und durch erkennen,

so wie ich auch durch und durch erkannt worden bin.

Entsetzt starrte ich auf den Vers nieder. Genau dies hatte ich befürchtet. Der Mann, der in mein Haus gekommen war und sich in meiner Scheune wie eine Bestie gebärdet hatte, sollte bleiben. Gott hieß mich ihn weiter dulden. Weil genau dies zu seinem Plan gehörte.

Langsam ließ ich die Seite wieder zufallen, fühlte mich noch verzweifelter als zuvor.

Satan war mitnichten zufällig in meinem Haus.

Der Dornengarten

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