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2. Fallende Federn

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Würde der Abend doch niemals kommen! Würde er doch niemals eintreffen …

Ich starrte auf die Eisblumen an der Scheibe. Die morgendlichen Sonnenstrahlen ließen sie auf dem Höhepunkt ihrer Schönheit aufleuchten und schmolzen sie zugleich; sie bildeten beim Herablaufen am Glas wundersame neue Muster, bevor sie sich auflösten. Wenn er nicht käme, würde mir zumindest auch die Ankündigung erspart bleiben, die ich Mechthild noch zu machen hatte und zu der mir schlicht die Worte fehlten. Die Anwesenheit eines Mannes unter unserem Dach stellte eine solche Unmöglichkeit dar, dass sie sich nicht umschreiben ließ. Dabei standen die Alte und ich sogar ausnahmsweise auf derselben Seite. Nur dass es in diesem Fall nichts änderte …

Die Eisblumen waren fort, nur ein paar feuchte Schlieren krochen noch an der Scheibe hinab. Dahinter dräute wie immer, düster und öde, der Garten.

Nur, dass er diesmal nicht so verlassen war wie sonst. Plötzlich wurde ich dort einer Bewegung gewahr und lehnte mich ungläubig vor: Neben der Sonnenuhr hockte doch tatsächlich das Mädchen von gestern! Und sie malte mit einem Stock Zeichen in die nackte Erde. Ich hob schon die Hand, um an die Scheibe zu klopfen, als ein Stoß in die Seite mich harsch an meine vernachlässigte Aufgabe erinnerte.

»Herrgott noch mal, wach auf! Mit dir ist ja heute überhaupt nichts anzufangen!« Mechthild schüttelte gereizt den Kopf. »Aufhalten!«, funkelte sie mich an und stopfte eine Wolke aus Federn in den Bezug, den ich ihr entgegenhielt.

Mühsam versuchte ich, mich auf die Arbeit zu besinnen. Sonst tat ich sie sogar gern: Die Federn waren sauber und das Einfüllen in die frischen Bezüge, die nach Seife dufteten, war einfach und angenehm – märchengleich geradezu; unzählige zarte Fläumchen stiegen dabei auf und tanzten in den einfallenden Strahlen, die auch das Kupfer der Töpfe sowie das Steingutgeschirr in den Regalen aufleuchten ließ; selbst der Staub glitzerte heute. Und die Alte glich mit all den Federn, die an ihr hafteten, einem alten mürrischen Huhn. Ich verbiss mir ein nervöses Lächeln und hielt ihr einen beigefarbenen Baumwollsack entgegen, nähte anschließend mit groben Stichen eine Federdecke zu.

Als Nächstes kamen die besseren blauen Bezüge dran, die üblicherweise für Aussteuern verwendet wurden. Sie wurden mit den besten weißen Gänsedaunen gefüllt. Die fertigen Betten anzufassen war, als berührte man Wolken. Die Alte pflückte mir ein blaues Kissen aus der Hand und hielt mir stattdessen ein einfaches hin, das ich zuheften sollte. Mit abrupten Bewegungen fegte sie die losen Federn auf dem Boden zusammen. Ich bückte mich gerade, um diese zusammenzuraffen, als plötzlich die Eingangstür unter dem Klopfer dröhnte. Überrascht sahen wir uns an: Es war noch nicht einmal Mittag und Thalita pflegte sonst erst zu einer späteren Stunde zu kommen; der Trank musste offenbar nicht die gewünschte Wirkung gezeitigt haben. Eilig half ich Mechthild, die Federn von ihrem Kopftuch und Kleid zu sammeln, und grummelnd machte sie sich auf den Weg zur Tür – die Federn würden sich sowieso im gesamten Haus verteilen. Doch ich hatte noch kaum den Besen zur Hand genommen, als die Küchentür schon wieder aufflog und eine gereizte Mechthild hereinstolzierte. »Du wirst verlangt«, spuckte sie mir förmlich entgegen. »Es muss schon die Hausherrin persönlich sein, also mach, dass du da raus kommst!«

»Ich?« Völlig verständnislos starrte ich sie an – bis mir endlich eine Ahnung mit eisigen Fingern ins Genick griff. Es war nicht möglich!

Und doch war er bereits in meinem Haus.


»Was ist? Versteinert? Man wartet auf dich!«, Mechthild schnappte mir den Besen aus der Hand und holte mit ihm aus, als wollte sie mich hinausfegen.

Zitternd setzte ich mich in Bewegung, atmete so flach, dass meine Rippen das Korsett kaum berührten, das ich am Morgen doch so fest geschnürt hatte.

Er war hier. Wo ich es einmal wusste, konnte ich seine beunruhigende Gegenwart sogar durch die Tür hindurch spüren. Ich sammelte mich mit aller Macht, trat hinaus. Nach all dem Licht der Küche lag die Halle jetzt im Finstern. Halb blind tappte ich vorwärts, bis ich seine dunkle Silhouette in der Nähe der Tür ausmachte. Ich wollte weitergehen, doch meine Beine versagten mir den Dienst.

»Guten Tag«, seine Stimme war sehr tief, sie erinnerte an ein Knurren und er verbeugte sich knapper, als es Sitte gewesen wäre. Allmählich gewöhnten sich meine Augen an den Dämmer – und der Anblick seines Gesichts ließ mich schaudern. Es lag keinerlei Höflichkeit in den grauen Augen in ihren tiefen Höhlen und kein Lächeln verzog die scharfen Züge. Diese strahlten etwas Rohes, Unregelmäßiges aus. Erst Augenblicke später begriff ich, dass es an der hässlichen Narbe lag, die sich von seinem linken Wangenknochen bis hinunter zur Kinnlinie zog. Außerdem trug er sein Haar nicht kurz, wie es längst der Mode entsprach, sondern in einem Zopf zusammengefasst, der ihm dunkel auf die Schulter fiel.

Lautlos wie ein Schatten war Mechthild an meiner Seite aufgetaucht. Unmutig musterte auch sie den Fremden. »Und – was will Er denn nun hier?«

Der dreiste Ton der Alten ließ den Blick des Mannes zu ihr hinüberschnellen. Sein Ausdruck blieb jedoch vollkommen unbewegt.

»Mechthild, das ist der Maler, der geschickt wurde, um das alte Fresko in unserer Kapelle zu restaurieren. Ich habe vergessen, dir aufzutragen, oben ein Zimmer für ihn herzurichten –«

»Wie? Fresken? Was ist das wieder für ein Blödsinn? Es gibt viel Wichtigeres zu tun und andere Handwerker dringender einzustellen. Haben dir die Bücher jetzt völlig den Verstand verwirrt?«

Unter meiner Furcht fühlte ich einen Stich von Scham. Welchen Eindruck häuslicher Gepflogenheiten wir da einem völlig Fremden boten!

»Der Abt war es, der es aufgetragen hat«, zischte ich. »Und sicher wäre es ganz im Sinne von Priester Matthäus. Denn es handelt sich um ein Geschenk zu seinen Ehren. Der Abt wünscht, dass die Kapelle in seinem Gedenken restauriert wird.« Dies war natürlich frei erfunden, doch die Wahrheit würde sie ja doch nicht begreifen und ihn ging sie nichts an. Unsicher sah ich zwischen der Alten und dem Fremden hin und her, versuchte abzuschätzen, woher ich den nächsten Angriff zu erwarten hatte.

Der Fremde musterte mich von oben herab. »Ich wünsche, mit jemandem zu sprechen, der in diesem Haus das Sagen hat. Ist jener Priester zugegen?«

»N-nein, nicht mehr. Die Entscheidungen – treffe nun ich hier.« Es fühlte sich an, als risse jemand gewaltsam an meinen Korsettschnüren.

»Sie?« Er gab sich keine Mühe zu verbergen, wie wenig angetan er von dieser Kunde war. Aus dem Augenwinkel konnte ich erkennen, wie sich in Mechthilds Gesicht etwas zusammenbraute.

Bevor sie aneinandergerieten, trat ich rasch auf die Tür zu. »Das Beste wird sein, wenn ich Sie sogleich zu Ihrem Arbeitsplatz führe.« Noch bevor jemand protestieren konnte, stieß ich die schwere Tür auf und ließ ihn hinaus. Atemlos raunte ich Mechthild zu, dass das Gepäck hinauf musste und dass sie das Zimmer des Priesters für ihn zurechtmachen sollte. Hastig warf ich sodann die Tür hinter mir zu und hoffte innbrünstig, dass sie zu überrascht war, um uns zu folgen.

Nach der Dunkelheit der Halle war es draußen fast gleißend hell. Einzig die Kleidung des Fremden schien das Licht wie ein dunkles Loch zu absorbieren. Im Gegensatz zu dem Wenigen, das ich über die aktuelle Männermode wusste, waren Mantel, Hose und sogar Hemd und Halsbinde – pechschwarz.

Doch was das betraf, hatte er heute auf meinen Hof Gesellschaft; hinter dem Brunnen verbarg sich wahrhaftig die kleine Göre von vorhin, gleichfalls in dunkle Lumpen gehüllt. Bevor er sie bemerkte – oder sie darauf verfiel zu betteln oder was auch immer Rotznasen wie sie taten –, eilte ich voraus in Richtung Pfad. Der Mann folgte mir.

Der Weg zur Kapelle nahm für gewöhnlich fünf Vaterunser in Anspruch, doch diesmal brauchte ich ganz gewiss keine vier, musste mich gar zügeln, um nicht noch mehr Abstand zwischen mich und die schweren Schritte hinter mir zu bringen. Er hätte mühelos aufschließen können, tat es aber nicht. Meinen natürlichen Trieb meisternd bezwang ich mich schließlich und verlangsamte meinen Schritt, bis wir auf einer Höhe waren. Doch auch jetzt begann er keine Unterhaltung. Bald hing das Schweigen so schwer zwischen uns wie ein nasses Laken.

»Sie kamen heut sehr früh an«, brachte ich schließlich mühsam heraus.

Kein Muskel zuckte in seinem Gesicht. Als ich schon daran zweifelte, ob er meine Worte überhaupt gehört hatte, sagte er endlich: »Nachts ist die beste Reisezeit. Man begegnet niemandem sonst und bleibt ungestört. Auf diese Weise lassen sich peinliche und nutzlose Unterhaltungen vermeiden«, sein Blick glitt vielsagend über mich hinweg.

Ich merkte, wie ich rot wurde, und senkte die Augen. Da erst fiel mir auf, dass ich noch immer voller Federn war. Nervös klopfte und strich ich im Gehen an mir herum, hinterließ in der frostigen Luft eine Spur aus tanzenden Federn. Der Fremde quittierte meine Anstrengungen mit einem geringschätzigen Seitenblick und heftete seine Augen wieder auf den Pfad vor uns. Trotz des zögerlichen Sonnenscheins, der sich durch die Äste tastete, war es so eisig, dass ich frierend die Arme vor der Brust verschränken musste.

Endlich – endlich – tauchte die dunkle Granitform der Kapelle mit ihren zwei Giebeln zwischen den Stämmen auf. Ich musste mich wiederum sehr zurückhalten, nicht zum Portal auf der Westseite vorauszueilen. Mit mehr Kraft als nötig riss ich die eisenbeschlagene Tür auf und trat ein, ohne auf den Fremden zu warten.

Mein Herzschlag beruhigte sich fast schlagartig wieder, hörte auf, in meinen Ohren zu dröhnen. Wahrscheinlich lag es an der Farbenpracht, in der man in der Kapelle badete. Die Motive der gotisch geschnittenen Buntglasfenster stellten Szenen aus der Bibel dar, wobei die Farbpalette im Eingangsbereich im dunkelvioletten Bereich lag, um sich in den Farben des Regenbogens von Fenster zu Fenster aufzuhellen, bis das Licht am Altar fast ungefärbt einfiel.

Ich kannte nicht viele Gebäude – tatsächlich war ich nie weiter als bis zum Dorf gekommen und selbst das lag schon dreizehn Jahre zurück – doch unter den Bauwerken, die ich gesehen hatte, war die Kapelle mit Sicherheit das harmonischste. Vielleicht, weil sie wie eine kleine Kathedrale geschnitten war – das hatte ich jedenfalls gehört. Um zum Altar zu gelangen, durchmaß man einen Mittelgang inmitten von Bänken zu beiden Seiten. Dort, wo in einer großen Kirche das Querschiff wäre, befanden sich hier vom Mittelteil ausgehend lediglich zwei kleine Giebel, die dem Grundriss aber immerhin seine typische Kreuzform gaben. Dort lagen unter steinernen Grabplatten die Gebeine meiner Vorfahren.

Hinter mir hörte ich den Fremden tief Luft holen. Sogleich hatte er mich überholt und mit wenigen langen Schritten den Mittelgang durchmessen, wobei seine Gestalt erst in Violett, dann Rot, Gelb, Grün und am Ende Blau getaucht wurde. Im kaum gefärbten Licht der Altarfenster blieb er endlich stehen und betrachtete regungslos das große Wandfresko. Er schien jede Elle davon in sich aufzunehmen: Gottes Antlitz, das aus einem brennenden Busch auf dem Berg Horeb herausflammte, sich Moses zuwendend, der sich in Anbetracht des göttlichen Sturms, der ihn erfasste, auf die Erde niederwarf und sein Gesicht verhüllte. Ich konnte mir vorstellen, was er fühlte. Nach all den Jahren schien mir das Gemälde noch immer ›Ich bin, der ich bin: dein Herr und dein Gott!‹ zuzurufen – wenn auch zugegebenermaßen immer leiser. Denn inzwischen verschwand es fast ganz unter dem Ruß von Hunderten von Kerzen und wo Feuchtigkeit in die Wand eingedrungen war, platzte bereits der Putz ab. Es war tatsächlich dem Verderben geweiht. Seltsam, dass mir dieser Umstand nie zuvor aufgefallen war – vielleicht lag es daran, dass mich dieser strenge flammende Gott mit seinem wallenden Haar stets an Priester Matthäus erinnert hatte. Gebeugt ließ ich mich in die hinterste Bank gleiten.

Nach einer kleinen Ewigkeit wandte der Fremde sich schließlich von dem Wandbild ab, betrachtete stattdessen den bunt gefluteten steinernen Boden, fuhr mit der Hand die blankpolierten Banklehnen nach, um schließlich in den Giebeln die Inschriften auf den Grabplatten zu studieren. Ich hätte schwören können, dass er meine Anwesenheit völlig vergessen hatte, als er plötzlich quer durch das Kirchenschiff das Wort an mich richtete: »Matthäus – ist das der Priester, von dem vorhin die Rede war?«

»Er war mein Oheim.«

»Und Iduna Ihre Mutter?«

Ich kreuzte abwehrend die Arme. Sogleich würde er nach meinem Vater fragen.

Doch das tat er nicht, fuhr lediglich konzentriert mit seiner Besichtigung fort. Endlich kam er durch einen der Seitengänge auf mich zu. In der Annahme, dass er seine Besichtigung beendet hatte, erhob ich mich. Doch statt mir Beachtung zu schenken, trat er an mir vorbei und schritt auf die Tür zu – um vor dem in dunkles Violett getauchten Türrahmen stehen zu bleiben.

»Wann ist das hier gemalt worden?« Mit der Hand folgte er einem unsichtbaren Verlauf an der verrußten Wand.

Zögernd ging ich näher. Tatsächlich hoben sich unter meinem suchenden Blick jetzt Rosenranken aus der nachgedunkelten und abblätternden Wand. Sie wuchsen zu beiden Seiten des Rahmens empor, um sich über der Türzarge miteinander zu einem Omega zu verflechten. Wenn ich die Augen verengte, konnte ich inmitten des Zeichens drei Rosenblüten erkennen, die fast schwarz wirkten.

»Der Stil, in dem sie gemalt wurden, unterscheidet sich grundlegend von dem des großen Freskos. Und sie scheinen mir auch sehr viel neueren Datums zu sein.« Der graue Blick entfernte sich von der Wand, nahm stattdessen mich ins Visier. »Sie dürften kurz vor Ihrer Zeit entstanden sein. Sie wissen wohl nicht, wer sie gemalt hat?«

Ich schüttelte den Kopf. Bis zum gegenwärtigen Augenblick hatte ich noch nicht einmal von ihrer Existenz gewusst! Der Fremde ließ seinen Blick am Rahmen empor wandern, bis hinauf zu dem Omega und den blutig anmutenden Rosenblüten. »Vielleicht ist es nicht mehr auf den ersten Blick erkennbar, doch dies ist eine sehr schöne Arbeit, die zu erhalten sich lohnen würde. Und da es ohnehin das Kloster ist, das für meinen Lohn aufkommt, werde ich sie im Anschluss an das Altarfresko restaurieren.«

»Nein.«

Das Wort stand ohne mein Zutun im Raum. Ich war selbst von meiner Kühnheit erschrocken.

»Wie meinen?« Der Fremde schien genauso überrascht. Mir ging durch den Kopf, dass er mich mit seinen grünlich grauen Pupillen, die von einem schwarzen Ring umgeben waren, an einen Wolf erinnerte. Außerdem war sein Blick stets so stechend, als befände er sich gerade auf der Jagd.

»Warum nicht?« Er wandte sich mir voll zu.

Um ihn nicht ansehen zu müssen, betrachtete ich angelegentlich die gewundenen Linien unter der Rußschicht. »Es geht nicht.«

»Das Kloster würde die Arbeit befürworten – und Sie wissen das. Wenn Sie wollen, werde ich aber offiziell die Einwilligung des Abts dafür einholen. Gewiss wird er meine Dienste gern für einige weitere Tage in Anspruch nehmen. Es gibt keinen Grund, es nicht zu tun.« Ein Muskel an seinem Hals zuckte gereizt.

Doch, den gibt es. Ich verschränkte die Arme fester gegen die Kälte. »Es ist mir nicht möglich, Ihr Angebot anzunehmen«, wiederholte ich steif und heftete meine Augen auf den Steinboden unterhalb der gemalten Stämme.

Einen Augenblick lang entgegnete der Fremde nichts, dann trat er einen Schritt auf mich zu. »Es geht nicht um das Kloster. Sie selbst sind dagegen, nicht wahr?«

Ungläubig blickte ich auf, direkt in seine verengten Augen. Er tat doch tatsächlich noch einen weiteren Schritt; und dann noch einen. Am Ende trennte uns keine Armlänge mehr. Ich starrte auf seine breite Brust, dann auf seine behandschuhten Hände und bekam kaum Luft. Seine Schultern zuckten plötzlich und ich schrie auf.

Statt des erwarteten Angriffs grinste er spöttisch. Nach Luft ringend wankte ich drei Schritte zurück. Er tat es absichtlich. Er genoss es. Weil er trotz allem mein unsichtbares Mal sah …

Langsam hatte er sich genug über mich amüsiert und der geringschätzige Ausdruck, den er bisher für mich reserviert hatte, kehrte in sein Gesicht zurück. »Es ist dumm von Ihnen, dieses Angebot auszuschlagen.«

Solcherlei Ausdrücke in Bezug auf mich standen ihm natürlich nicht zu, doch ich ersparte es uns beiden, ihn auf das Offensichtliche hinzuweisen. »Es ist meine Entscheidung.«

»Ja. Warum man einer Frau auch niemals etwas Wichtiges überlassen sollte – sie wird stets die absolut absurdeste Verfügung darüber treffen.«

Er hielt mich für einfältig und verstockt, so viel war klar. Doch wenigstens spielte er nicht länger mit mir. Er zog ein kleines Notizheft aus einer Tasche hervor und blätterte grimmig darin. »Ob Sie nun mit den Arbeiten einverstanden sind oder nicht, ich werde ein paar Dinge dafür brauchen. Und zwar spätestens zu morgen früh, ist das klar?«

Ich nickte schwach.

»Also gut, Sie beschaffen mir Folgendes: Holz. Eine größere Anzahl von Brettern und Pfählen, Nägel und ein Händepaar.«

Zum Kreuzigen?

Er musste diesen Gedanken von meinem Gesicht abgelesen haben, denn seine Mundwinkel zuckten verächtlich. Er ruckte ungeduldig mit dem Kinn zum Fresko hinüber, das die gesamte Wand bis zur Decke einnahm. »Um ein Gerüst zu bauen, gute Frau. Ich kann nicht fliegen.«

»Ja, natürlich«, stammelte ich. »Otfried wird Ihnen morgen früh dabei zur Hand gehen.«

Er nickte. »Das wäre dann alles. Ich werde noch bleiben, um mir Notizen zu den Arbeitsvorbereitungen zu machen. Sie haben gewiss noch woanders Wichtigeres zu tun.« Er schritt zurück zum Altarfresko, ohne mich eines weiteren Blickes zu würdigen. Noch einmal glitt dabei das gesamte Farbspektrum über ihn hinweg.

Wie unter Betäubung verließ ich die Kapelle. Mir war durchaus bewusst, dass er mich soeben buchstäblich hinausgeworfen hatte. Doch der Stich, den mir seine Verachtung versetzte, schmerzte kaum unter dem Balsam der Erleichterung, seine Gesellschaft verlassen zu können. Mich mit beiden Armen umfangend, rannte ich fast den Pfad zurück, hätte dabei um ein Haar eine Gestalt übersehen, die halb hinter einer Erle versteckt stand: eine junge Frau. Ich wollte sie schon anrufen, als sie sich umdrehte und ihrerseits davon lief.

Schon der zweite ungebetene Gast in zwei Tagen! Vielleicht hätte ich sie verfolgen sollen, doch dafür war mir viel zu kalt. Stattdessen machte ich, dass ich nach Hause kam – so weit fort von diesem Mann, wie ich nur konnte.


Noch immer zitternd stieg ich die Treppe hinauf, um mein Schultertuch zu holen. Oben angekommen wollte ich mich nach rechts, zu meinem Zimmer wenden, als mich aus der Tür links daneben ein Sonnenstrahl blendete; die Tür zum Raum meiner Mutter stand halb offen. Jetzt fehlte nur noch eine zweite unverschlossene Tür und eine zerbrochene Scheibe war uns sicher! Ärgerlich wollte ich sie zuziehen, als mein Blick durch den Spalt auf etwas Fremdes fiel, das nicht zur Einrichtung gehörte. Ich stieß sie weiter auf. Das große Bett aus Walnussholz war mit frischem Leinen bezogen und an der Seite lehnten ein großer lederner Rucksack sowie ein Koffer: das Gepäck des Fremden, das doch ins Zimmer des Priesters gehörte!

Irritation breitete sich in mir aus, gerade wollte ich die Gepäckstücke nach nebenan befördern, als hinter mir eine Stimme ertönte: »Den Teufel werde ich tun, den Burschen schlafen zu lassen, wo der Priester seinen Atem ausgehaucht hat! Eher soll die Hölle zufrieren! Es reicht, wenn er hier schläft.« Mechthild stand hinter mir.

Ich öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch sie war noch nicht fertig. »Seit dreizehn Jahren die übelste Plackerei bei der Ernte und auf dem Hof, nur damit ja kein Mannsbild mehr in deine Nähe kommt – und jetzt lässt du den da ins Haus? Hast du den Verstand verloren? Hast du schon vergessen, was damals passiert ist?«

»Das habe ich nicht!«

»Dann wirst du deine Meinung wohl geändert haben. Nur erwarte nicht, dass ich dir auch diesmal wieder helfe, wenn –« »Genug!« Ich stürzte an ihr vorbei und nach unten. Erst in der Abgeschiedenheit der Bibliothek ließ ich mich gegen die Tür fallen, sank an ihr herab. Meine Hände waren blau vor Kälte. Damit sie endlich aufhörten, zu zittern, setzte ich mich drauf.


Die Frau ist von Natur aus mit weniger Tugend und Würde ausgestattet als der Mann. Denn immer ist das ehrenwerter, was handelt, als das, was erleidet.

Sorgsam kopierte ich Wort für Wort von den angegebenen Passagen, die der Abt für seine Zitatsammlung angefragt hatte. Unter Priester Matthäus’ Anleitung hatte ich bereits alle einschlägigen Briefe und Abhandlungen der Kirchenfürsten zum Wesen der Frau kennengelernt, sobald ich lesen konnte. Viele der Lehren hatte er mir schon damals am Beispiel meiner eigenen Schwäche und natürlich an jener meiner Mutter verdeutlicht.

Ich fragte mich nur zuweilen, ob beispielsweise Clemens Alexandrinus’ These, dass schon das Bewusstsein vom eigenen Wesen bei der Frau Scham hervorrufe, bei allen Frauen zutraf. Thalita beispielsweise wirkte nicht, als sei sie sich ihrer Mangelhaftigkeit bewusst. Dabei war es doch eindeutig: Femina est mas occasionatus – die Frau ist ein verfehlter Mann.

Ich rieb mir die Augen; die Buchstaben begannen schon, vor ihnen zu tanzen. Vermutlich wegen des schwindenden Lichts. Ich war fast erleichtert, als vom Brunnen das quietschende Geräusch der Kurbel ertönte und mir einen Vorwand gab, aufzusehen. Es war der Fremde. Er zog soeben einen Eimer hinauf.

Erst jetzt fiel mir auf, dass sein von Bartstoppeln bedecktes Gesicht staubig und die Borte seines Mantels schlammig war. Ohne weitere Umstände schöpfte er mit beiden Händen Wasser aus dem Gefäß und trank. Lange. Erschöpft rieb er sich anschließend über die Augen. Er musste die halbe Nacht lang unterwegs gewesen sein. Ich merkte, wie ich auf meinen Lippen herumbiss.

Mit müden, langsamen Bewegungen wusch er sich anschließend den Staub vom Antlitz und goss sich dann das restliche Wasser über den Kopf, ohne darauf zu achten, dass die schwarze Halsbinde dabei durchnässte. Ein Gast verdiente wahrlich mehr Fürsorge!

Doch gerade, als ich mich erhob, um in der Küche nach Essen für ihn zu suchen, schüttelte er mit einer heftigen Bewegung die restliche Feuchtigkeit ab. Der gewaltsame Ruck vernichtete das friedvolle Bild eines erschöpften Mannes; plötzlich erinnerte er nur noch an einen seinen Nackenpelz schüttelnden Wolf. Ich sank wieder auf meinen Stuhl.

Wild war er – unberechenbar wie ein Keiler aus dem Wald – genau wie sie. Er war geboren, um anzufallen und zu reißen …

Abrupt senkte ich die Augen. Er konnte für sich selbst sorgen. Er hätte ebenso gut selbst nach Verpflegung fragen können, wenn ihm etwas fehlte. Außerdem war er als Handwerker hier und nicht als Gast.

Doch schon ein paar Wimperschläge später ertappte ich mich schon wieder dabei, ihn misstrauisch aus meiner sicheren Höhle heraus zu beobachten. Und damit war ich nicht allein; auch von der anderen Seite des Hofes verfolgten dunkle Augen sein Tun. Ein schmaler Schatten schob sich an der Scheunenwand entlang und begaffte – genau wie ich – den Fremden wie eine Jahrmarktsattraktion.

Beschämt wollte ich endlich die Bibliothek verlassen, als sich plötzlich auch auf der gegenüberliegenden Seite des Hofes etwas regte: Soeben trabten meine drei Jagdhündinnen um die Ecke der Scheune. Sobald sie des Mannes gewahr wurden, senkten sie ihre mächtigen Köpfe und ihr Nackenfell stellte sich auf. Der Fremde, von ihnen abgewandt, bemerkte davon nichts.

Ich sprang zum Fenster, schon im Begriff, es aufzureißen, um sie zurückzurufen, doch der Griff klemmte – und im nächsten Moment war es zu spät: Sie befanden sich bereits im vollen Lauf!

Endlich drehte sich auch der Fremde um und sprang auf. Ich schrie etwas, aber Hof und Bibliothek schienen zwei verschiedenen Welten anzugehören, niemand hörte mich. Da hatten sie ihn auch schon fast erreicht. In Ermangelung einer besseren Waffe ergriff er den Eimer und schmetterte ihn der Leithündin vor die Brust; diese heulte auf, strauchelte im Lauf und ging zu Boden. Die nächste Hündin, die ihn währenddessen erreicht hatte, bekam einen Tritt, der sie jaulend zwei Schritte weit fortschleuderte. Die dritte verzichtete von sich aus auf einen Angriff und machte einen weiten Bogen um ihn.

Sekunden später verließen die Hunde den Hof, so schnell, wie sie gekommen waren. Der Schwarzgewandete hob hingegen mit steifen Bewegungen den Eimer auf – und ich stand noch immer wie festgewachsen da, die Hand am Fenstergriff.

Wie es aussah, war der kleine Tumult auch in der Küche nicht überhört worden. Das Dröhnen der zufallenden Eingangstür kündigte Mechthild an. Und sogleich erschien sie tatsächlich auf der Bildfläche des Hofes; der Angriff der Hunde musste auch ihr unsere fehlende Gastfreundschaft vor Augen geführt haben. Nichtsdestotrotz baute sie sich wie gewohnt mürrisch vor dem Brunnen auf, wo der Fremde währenddessen einen weiteren Eimer nach oben zog.

»Weil dies heute Ihr erster Tag hier ist, will ich eine Ausnahme machen«, schepperte sie vernehmlich. »Sie können jetzt etwas Warmes in der Küche bekommen. Doch normalerweise gibt es feste Zeiten, zu denen wir gemeinsam essen, und Sie werden sich danach richten und pünktlich erscheinen.«

Das Gesicht des Fremden hatte einen noch düstereren Zug angenommen als eben. Er stellte den gefüllten Eimer auf dem Brunnenrand ab. »Wie Sie sehen, bin ich beschäftigt.«

Ich beugte mich hinter meinem Fenster unwillkürlich vor.

»Und darüber hinaus habe ich keine Neigung, mit Ihnen zu speisen.« Mit einem Schwall goss er den Inhalt des Fördereimers in jenen zweiten, den er soeben als Waffe benutzt hatte. »Aber ich erwarte, dass jederzeit etwas Essbares in der Küche für mich bereitsteht.«

Mechthild legte ungläubig den Kopf schief, die dünnen Brauen schossen hoch. »So? Sind Sie auch wirklich sicher, dass ich Ihnen nicht persönlich das Essen zur Kapelle hinausbringen soll, wann immer es Ihnen beliebt?«

»Das wäre unnütz, denn ich weiß selten im Voraus, wann ich Zeit zum Essen finde. Einzig der Fortschritt der Arbeit entscheidet darüber«, bemerkte er trocken.

Für einen Augenblick wirkte die Alte fassungslos, dann explodierte sie wie ein Topf, in dem sich zu viel Dampf gebildet hatte. »Ja, ist das nicht bedauerlich! Habe ich doch nichts Wichtigeres zu tun, als meinen Tag nach Ihren Grillen auszurichten!« Gerade holte sie Luft, um mit einer weiteren Tirade fortzufahren, als der Fremde sie erneut unterbrach.

»Mir ist vollkommen gleich, wonach Sie Ihre Tage ausrichten und auch, zu welchen Zeiten Sie essen. Ich bin hier, um eine Arbeit auszuführen, die von der Beschaffenheit des Tageslichts abhängt. Und so ordne ich mich ihm unter – aber mit Sicherheit nicht Ihnen.«

Die Alte schnappte nach Luft.

»Um es noch einmal klar auszudrücken: Mir ist gleich, wann Sie kochen oder wann der Rest von Ihnen isst. Aber von jedem Essen, das den Herd verlässt, stellen Sie für mich einen Teil beiseite, sodass ich darauf zurückgreifen kann, wann immer ich es will. Ich werde keine Arbeitszeiten auslassen, nur um mich Ihren häuslichen Gepflogenheiten anzupassen. In dem Fall müsste ich hier noch mehr Zeit zubringen, als ich ohnehin schon muss. Ganz zu schweigen davon, dass meine Zeit wertvoller ist, als die Ihre, und ich sie hier nicht vergeuden werde. Sagen Sie das auch ihr«, er nickte zu meinem Fenster hinüber. Ich zuckte zurück, Mechthild aber stand nur da, wie vom Donner gerührt.

»Haben Sie mich verstanden?«, der Fremde trat auf sie zu.

Widerwillig nickte sie.

»Gut. Und jetzt sagen Sie mir, wo ich meine Sachen finde.«

Die Alte wandte sich dem Haus zu, um ihm vorauszugehen.

»Sagen, Frau«, knurrte er unerbittlich. »Hör gefälligst zu! Oben, auf der Galerie?«

Sie nickte, geduckt wie ein Hund, der beißen will, sich jedoch nicht traut.

»Rechts oder links? Welche Tür?«

»Links. Die erste Tür.« Sie erschien mir plötzlich etwas geschrumpft.

»Vielen Dank«, er ging so nahe an ihr vorbei, dass sie zurückweichen musste und dabei stolperte. Fast wäre sie gefallen, doch er wandte nicht einmal den Kopf, sondern ging so selbstverständlich in mein Haus, als sei es seins.

Der Dornengarten

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