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5. Gottes Antlitz

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Ich zuckte zum dritten Mal hoch, sank dann müde wieder über dem Pult zusammen, während das Grau des hereinströmenden Nachmittags selbst noch die trübe Farbe meines Ärmels stumpfte, ihn in tote Rinde verwandelte; Rinde, die sich von dem Stamm schälte, der unter ihr zerfiel, zerfressen von Käfern und Frost, nachdem scharfes Eisen ihn gefällt und von seinen Wurzeln getrennt hatte, umgeben von verstreut liegenden, zertretenen Pilzen …

Ich zwinkerte, um das Bild wieder loszuwerden. Solcherart Gesichte suchten mich neuerdings immer öfter heim. Seit ich nicht mehr schlief, glitten auch meine Tage allmählich in einen immer dichteren Nebel ab.

Gähnend legte ich meine ausgetrocknete Feder beiseite, fröstelte, denn mir war auch ständig kalt. Hätte die Bibliothek doch nur einen Kamin. Mit schweren Lidern sah ich hinaus auf den Hof, wo mein Befinden nur umso eindrucksvoller gespiegelt schien: Vor einer düsteren Wolkenkulisse jagten sich schon seit dem Morgen unzählige Hagelschauer – und das gerade einmal einunddreißig Tage vor Ostern.

Einunddreißig Tage. Es lief mir noch einmal kalt den Rücken hinunter; diesmal, weil mir bewusst wurde, dass mein Martyrium noch genau so lange dauern würde. Dabei fürchtete ich schon jetzt, nach zwei Tagen ohne Schlaf, dass mein immer weiter zerfasernder Verstand sich schon viel eher von der Realität lösen würde …

Ich brauchte dringend etwas Ruhe, Wärme und ein wenig Frieden; einen Ort, an dem ich wenigstens für ein paar Stunden schwer zu finden sein würde. Und so einen Ort gab es. Es war eine Dachstube mit einer Feuerstelle und einem Spinnrad. Damit ich nicht einschlief und überrascht wurde, konnte ich einen endlosen Faden durch meine Hände gleiten lassen und derweil auf das Knarren der Stiege hören, die mich vor jedem Eindringling warnen würde. Alles, was es brauchte, war ein kurzer Lauf über den Hof, um Wolle zu besorgen. Meine Entscheidung war schnell getroffen. Augenblicke später prasselten auch schon die Hagelkörner wie Nadeln auf mich nieder, während ich, den Oberkörper eingehüllt in den Schal, am Brunnen vorbei und hinter die Scheune rannte. Kurz schoss mir die Frage durch den Kopf, wie der Fremde bei dieser Kälte wohl seine Hand mit dem Pinsel ruhig zu halten vermochte – doch meinethalben mochte er zu Eis gefrieren.

Unter unzähligen eisigen Hieben hatte ich die Scheune umrundet und war bei dem windigen Bretterverschlag angelangt, der sich an diese drängte, wie ein Lamm ans Mutterschaf. Ich zog die Tür auf und prallte auch schon gegen die ersten Säcke, die von den Balken hingen wie riesige Kokons. Hier lagerten wir die Rohwolle, da in der Zugluft die Motten fernblieben. Ich schüttelte mir den Hagel vom Schal und suchte nach einem kleineren Sack. Gerade wollte ich ihn vom Nagel heben, als ich plötzlich auf etwas Lebendiges trat: eine Ratte! Ich schlug mir die Hand vor den Mund, um nicht laut aufzuschreien. Mein Widersacher am Boden erlegte sich da weniger Selbstbeherrschung auf.

»Jesus Maria!« Ich holte tief Luft, mir zugestehend, mit meinem ersten Eindruck nicht ganz falsch gelegen zu haben. Von unten schauten Grets dunkle Augen zu mir hoch, neben ihr kauerte unweigerlich Anne.

Mein Schreck schlug in Wut um und ich stürzte schon vor, um eine von beiden kräftig zu schütteln. Nur die Vorstellung, ihre dünnen, vogelknochenähnlichen Oberarme könnten unter meinem Griff nachgeben, hielt mich schließlich zurück. Stattdessen funkelte ich die beiden von oben herab an. »Habe ich euch nicht befohlen, zu verschwinden? Was also tut ihr noch hier?«

»Es hagelt.«

»Aber erst seit heute. Die letzten Tage noch nicht!« Ärger ließ plötzlich die Blase aus angestauten Gefühlen in mir platzen. »Wie ich sehe, werde ich euch nicht los, außer, wenn ich euch eigenhändig in den Wald zerre und dort festbinde!«

Anne hatte schützend die Arme um ihre Schwester gelegt. »Ja, tun Sie das«, zischte sie. »Das passt zu Ihnen, denn Sie sind ihm wahrhaft ähnlich!«

»Wem?«

Abfällig spuckte sie knapp an meinem Rock vorbei. »Sicher, warum lassen Sie uns nicht im Wald verrecken? Ihr Oheim, der ehrwürdige Priester wäre sicher stolz auf Sie! Genauso stolz, wie er immer auf seine eigene Gerechtigkeit war. Denn wir sind Ihres Dachs genauso wenig würdig wie all die Sünder seiner Vergebung, nicht wahr? Heil und Schutz sind nur für wenige Auserwählte bestimmt – und den Abschaum hält man sich besser vom Leibe. Nicht, dass das Himmelreich noch zu voll wird – von der eigenen Scheune ganz zu schweigen!«

»Wovon redest du … um Himmels willen?«

»Von Ihrer Selbstgerechtigkeit«, ihre großen Augen waren verengt. »Davon, dass schon Ihr Oheim anderen die Rettung verwehrt hat, wo er nur konnte. Wie damals, als der Pfister auf dem Totenbett lag und er ihm die Absolution verweigerte. Nicht mal die Sterbesakramente hat er ihm gewährt, nicht wahr? Und Sie hätten das Gleiche an seiner Stelle getan. Sollen doch alle verrecken und dann am besten in der Hölle schmoren, damit ihr im Paradies vornehm unter euch bleiben könnt!«

Ich fuhr zurück, als hätte sie mir ins Gesicht geschlagen. Sie hatte Recht. Matthäus hatte einem Sterbenden einst die Absolution verwehrt. Es war ein Jahr vor seinem eigenen Tod gewesen, als er zum Pfister gerufen wurde, von dem alle wussten, dass er Unzucht mit einer verheirateten Frau aus dem Dorf getrieben hatte. Sehr gereizt war Priester Matthäus an jenem Abend heimgekommen und hatte sich viele Stunden lang in der Bibliothek eingeschlossen. Mechthild und ich waren damals auf Zehenspitzen herumgeschlichen, um seinen Zorn nicht auf uns zu ziehen. Die Tage darauf hatte die Alte mir unter vorgehaltener Hand zugezischt, das ganze Dorf sei in Aufruhr. Allerdings war das schon fünfzehn Jahre her – wie kam Anne nur dazu, mir nach einem halben Leben noch die Verfehlungen meines Oheims nachzutragen? »W-woher wisst ihr überhaupt davon?«

»Jeder weiß es.«

Eine eisige Windbö fegte durch die Ritzen in den Brettern. Ich senkte den Blick auf das improvisierte Lager der beiden, das aus Säcken bestand. Gret hatte sich mit Jute zugedeckt, die verrutscht war, als sie vor mir wegkroch; ein nacktes verschorftes Schienbein blitzte zwischen der Jute hervor. Mir wurde schon vom Hinsehen kalt.

»Also gut«, gab ich endlich auf. »Ihr kommt mit mir … aber nur für eine Weile!« Wenn Mechthild kam, mussten sie wieder fort sein.

Beide sprangen so eifrig auf wie junge Hunde – ganz vergessend, dass ich sie noch vor Augenblicken bedroht hatte … Ich pflückte meinen Sack vom Nagel und vertrat ihnen noch einmal den Weg. »Vergesst aber ja nicht, dass euch hier auf dem Gut niemand sehen darf. Niemand, versteht ihr? Schon gar nicht die Alte! Ich gehe vor und ihr kommt erst, wenn ich euch rufe.«

Und so geschah es. An der Tür zögerte ich kurz, ob ich sie wirklich so ins Haus lassen sollte – nicht ein einziger Fleck ihrer Haut war sauber –, aber selbst, wenn ich sie zwang, sich zu waschen, würden sie binnen Stunden doch wieder aussehen wie zuvor; außerdem war es eisig. Ich gab auf und ließ sie ein.

So folgten sie mir die breite Treppe hinauf, dann die schmalere in den zweiten Stock – und endlich die Wendeltreppe hoch. Gret hüpfte den ganzen Weg fröhlich von Stufe zu Stufe, während Anne züchtig ihr fadenscheiniges Kleid raffte. Am Ende des dunklen Flurs hatten wir die Spinnstube erreicht. Nur ein winziges Fensterchen waberte schmutzig grau im Hintergrund. Ich tastete mich in dem zugerümpelten Raum zum Kamin, fühlte blind nach dem Stapel alter Zeitschriften auf dem Boden, knüllte ein paar Blätter in die Feuerstelle. Noch ein paar trockene Zweige aus dem Korb, und der kleine Scheiterhaufen war fertig. Das Schwefelholz schabte über das raue Blatt zwischen meinen Händen und ließ Licht erstrahlen. Eifrig leckten die Flammen an dem dünnen Papier hoch und züngelten nach den Zweigen. Ich legte Ästchen und Scheite nach, bis lange Schatten über die Wände um uns tanzten. Erst als ich auch eine allzu reich verzierte Öllampe entzündete, wichen sie widerstrebend zurück.

Meine Besucherinnen standen noch immer verschüchtert in der Nähe der Schwelle. Anne in einem viel zu dünnem Kleid und Gret mit nackten, schmutzigen Beinen.

»Kommt schon herein!« Ich winkte sie näher, stieg über die Kufen eines Schaukelpferds ohne Schweif. Hier fanden sich Generationen ausrangierter Dinge versammelt; barocke Tischchen, überladene Lampen, zerbrochene Rahmen, ein verwaister Vogelkäfig und eine Wiege. Ein Sammelsurium aus vergangenen, bunteren Zeiten. Jedes Mal, wenn ich heraufstieg, war es mir geradezu peinlich, wie wohl ich mich inmitten dieses alten Ramschs fühlte. Aber vielleicht rührte die Behaglichkeit des Raums auch nur von der Feuerstelle.

Dennoch würden sie bald schon wieder in die Kälte müssen. »Eure Kleider bestehen ja nur noch aus Löchern«, bemerkte ich. »Ihr braucht neue.« In der Ecke stand ein Schrank voller ausrangierter Roben. Ich öffnete ihn und die Mädchen seufzten auf, als grüne, gelbe und blaue Seide zum Vorschein kam, außerdem nach Kampfer riechende Wollkleider und mottenzerfressene Schals.

Ich hielt Gret ein dunkelgrünes Kleid vor die Brust, das die passende Länge für sie hatte, und ihr Mund formte ein ehrfürchtiges O. Anne hatte derweil nach einem cremefarbenen Seidenkleid gegriffen. Ich schüttelte den Kopf. »Viel zu dünn. Nimm dieses«, ich reichte ihr eins aus dunkelblauer Wolle, das noch so gut wie neu war. Nur die Taille saß viel zu hoch, direkt unter der Brust, wie man es heute nicht mehr trug. Aber immerhin würde es sie warmhalten. Genau wie die alten abgeriebenen Stiefletten, die noch unten im Schrank lagen.

»Zieht euch um, wir wollen sehen, ob sie passen«, ich drehte mich um und ließ mich am Spinnrad nieder. Der letzte Wollbausch war noch nicht aufgebraucht. Ich nahm den Faden auf und betätigte das Pedal. Das Gespinst glitt erst unstet, dann zunehmend fein und regelmäßig durch meine Hände. Die Düfte nach Wolle, Nadelholz und Rauch stiegen mir in die Nase. Das Pedal unter meinem Fuß knarrte, das Rad surrte und gelegentlich ertönte das Knistern und Zischen der Scheite aus dem Kamin. Hinter mir flüsterten und kicherten die Mädchen, während sie sich umzogen. Ich merkte, wie sich meine Schultern langsam in der Wärme lösten. Fast war ich froh, sie mit hinauf genommen zu haben.

»Sehen Sie nur!« Gret drehte sich vor einem halb blinden Spiegel und auch Annes Kleid passte wie angegossen. Sie hatten sich noch farblich passende Wollschals umgelegt und wäre nicht der Schmutz in ihren Gesichtern und die zerzausten Haare, hätten sie wohl fast manierlich aussehen. Genau genommen, genau wie ich in ihrem Alter in diesen Sachen ausgesehen hatte – was jetzt schon ewig her zu sein schien; fast als wäre es in einem anderen Leben gewesen. Fast. Ich nickte zustimmend und sie lachten und führten einen kleinen albernen Tanz auf. Dann ließen sie sich auf dem Boden nieder und Anne begann, Gret das Haar zu flechten, wie ich es schon einmal beobachtet hatte. Dabei fiel ihr Blick auf den Zeitungsstapel, den Gret durchblätterte. »Sie haben so viele davon, aber alle sind mindestens dreizehn Jahre alt«, sie sah neugierig auf. »Lesen Sie sie denn nicht mehr? Wollen Sie sich keine Kleider mehr nach den neuesten Mustern nähen?«, ihre Augen glitten über den braunen Filz meines Kleides, dessen einziger Schmuck in einer Knopfleiste bestand, die es von oben bis unten teilte.

»Nein«, ich konzentrierte mich auf den Faden in meinen Händen. »Für solche Spielereien bin ich schon zu alt.« Mit einunddreißig hatte ich jedes Fug und Recht, das zu sagen. Auch wenn ich bereits damit aufgehört hatte, als ich in etwa so alt gewesen war wie sie …

»Wollen Sie Ihrem Besuch denn nicht gefallen?«, Anne hob zwei feine Brauen.

»Er ist nur ein Handwerker, kein Besuch«, erinnerte ich sie.

»Außerdem gefällt ihm schon eine andere«, fiel Gret ein.

»Sei still«, Anne stieß ihre Schwester in die Seite.

»Aber warum«, wehrte sich die Jüngere. »Sie war doch auch da und hat es genauso gesehen wie wir!«

Oh Gott. Mein Faden wurde wulstig und dann wieder viel zu dünn. Meine Augen schossen hoch. »Ihr seid viel zu jung, um Derartiges mit anzusehen. Vergesst es wieder. Was er getan hat war … grauenhaft!«

»Sie hat aber gar nicht geweint«, wandte Gret ein. »Ich glaube, sie fand es gar nicht so schlimm.«

Beim Allmächtigen, wer hatte ihnen beigebracht, dass alles, was ein Mann tat, richtig war?

Anne sah sogar verträumt drein. »Er muss sehr stark sein. Wenn er mich küssen würde –«

Mein Faden riss. »Was sagst du?«

Sie zuckte mit den Schultern. »Er ist wohl nicht schön vom Gesicht und er redet auch nicht viel, aber dafür spricht sein Körper umso beredter.«

»Wie meinst du das?« Ich vergaß ganz, einen neuen Faden zu ziehen.

Sie kämmte ihr eigenes, dunkles Haar mit den Fingern. »Nun ja, die meisten Menschen sprechen irgendwie … von Geist zu Geist. Sie tun, als wären ihre Körper gar nicht da, obwohl es sie ohne ihre Leiber gar nicht gäbe«, ihre Stirn furchte sich. »Er ist anders. Sein Körper spricht lauter als sein Mund, als würde er einen direkt berühren. Ich kann es spüren. Wenn er da ist, ist da eine Art Geruch in der Luft –«

»Du hörst sofort auf, unter meinem Dach zu reden wie eine Dirne!«

Sie verstummte, sah mich nur wissend lächelnd an.

Gret hatte nach ihrer Gewohnheit die Arme um die angezogenen Beine gelegt, die diesmal von der grünen Wolle verhüllt wurden. »Soll man denn nicht die Wahrheit sagen? Wir mögen ihn eben. Und er tut uns auch leid –«

»Leid?« Sie hätte mich nicht mehr in Erstaunen versetzen können, wenn sie plötzlich in einem Lichtstrahl durch den Kamin aufgefahren wäre. »Warum das?«

»Er tut sich manchmal selbst weh, wenn er allein ist – ich meine, wenn er meint, er wäre es.« Sie bemerkte wohl, dass ich mir rein gar nichts unter ihrer Erklärung vorstellen konnte. »Haben Sie denn nie gesehen, wie steif er sich manchmal bewegt? Er muss Schmerzen haben. Manchmal zuckt er regelrecht zusammen und verzieht das Gesicht. Und neulich, als diese andere weg war, hat er sich in die Schultern gegriffen und sich dann regelrecht gekrümmt, als sei dort etwas wund.«

»Warum sollte er so etwas tun – sich selbst mit Absicht Pein zufügen?«

Gret schlug eine Seite in ihrer Zeitung um. »Manche brauchen ihn eben, den Schmerz.«

Plötzlich kam ich mir sehr dumm vor. »Männer wie er kasteien sich nicht selbst«, sagte ich schroff. »Wenn sie Bedarf nach Schmerzen haben, fügen sie sie anderen zu.«

Anne legte Gret ihre Zöpfe wie eine Krone um den Kopf. »Es ist nicht alles Schmerz, was wie Schmerz aussieht. Haben Sie nicht gehört, wie die goldhaarige Frau ihn gefragt hat, ob er mit ihr kommt? Ich wünschte, er würde einmal mich im Wald –«

»Du trittst ihm nicht unter die Augen! Hörst du?« Mich überlief es kalt, wenn ich nur daran dachte, er könnte auch nur einen einzigen Moment mit diesem naiven Mädchen allein sein. Sie hatte nicht die Erfahrung, zu deuten, was sie in der Scheune gesehen hatte. »Ihr seid beide viel zu jung, um euch Männern wie ihm auch nur zu nähern.«

»Aber nicht, um ihn zu mögen«, beharrte Gret. Mit ihrer Haarkrone sah sie seltsam würdevoll aus.

»Er ist gefährlich. Wie eine Wolf. Lauft ihm niemals hinterher, schon gar nicht in dunkle Scheunen. Davon hättet ihr nur das Nachsehen.«

Gret lächelte verträumt. »Wenn ich Sie wäre, würde ich ihm nachlaufen. Er ist groß und stark und es muss schön sein, wenn er einen hält. Wollen Sie denn nicht, dass er hier bleibt – und dass er Sie liebt und nicht diese Thalita?«

»Das ist keine Liebe. Er liebt niemanden. Er ist wie ein Hengst … oder irgendein anderes wildes Tier.«

»Auch Tiere lieben«, sie sah auf ihre braunen Schienbeine unter dem grünen Saum. »Sehr sogar.«

»Auf ihre Art vielleicht. Aber nicht wie Menschen lieben sollten«, ich merkte, wie mir bei diesem Disput die Luft ausging. »Ich – ich schlafe nachts nicht mehr, damit er mich nicht überraschen kann.« Ich war selbst so überrascht von meinem Geständnis, dass ich vergaß, das Pedal zu treten.

»Wirklich?« Anne sah verständnislos aus. »Würde es denn etwas ändern, wenn Sie ihn kommen sähen? Ich meine, wenn Sie denken, dass er Sie –«

»Nein. Nichts … Vermutlich würde es nichts ändern.« Mit einem Mal verstand ich selbst nicht, warum ich gedacht hatte, es würde einen Unterschied machen, wach zu sein. Dinge wurden nicht besser, nur weil man sie von weitem kommen sah.

»Jetzt aber Schluss«, fuhr ich auf. »Warum liest du uns nicht etwas vor, Gret?«

Gehorsam schlug sie eine neue Seite auf und fing an, zu lesen. Es ging in dem Artikel um die neue Freiheit der Frau und dass sie leicht fallende helle Stoffe tragen sollte, damit auch ihr Körper sich frei bewegen konnte.

Das Mädchen las nicht zu langsam und mit guter Betonung. Priester Matthäus musste anscheinend einen guten Nachfolger im Dorf haben, der den Kindern das Nötigste beibrachte. In der Zeitschrift ging es weiter darum, dass die Frau seit den Befreiungskriegen zur Gefährtin ihres Gatten avanciert sei und längst kein künstliches Schmuckstück mehr darstellte. Um ihrem Mann zu gefallen, sollte sie vielmehr beweglich sein, sowohl in Körper als auch im Geist. Diese Art von Freiheit entspreche dem Geist der neuen Zeit.

Freiheit. Gerade im Sitzen konnte ich die Enge meines Korsetts nur allzu gut spüren. Das war meine Art von Freiheit. Aber die Mädchen mussten noch sehr viel mehr erleben, um das zu verstehen. Hoffentlich würden sie nie Veranlassung haben, Kleider wie das meine zu tragen …

»Plissées, das heißt Falten, Gretchen«, half Anne gerade leise, als das Mädchen sich mit einem französischen Wort mühte. Der Faden gelang mir wieder recht gut. Ich spann versonnen weiter. Gret und Anne. Mir war, als hätte ich diese Namen schon vor langer Zeit gehört, doch wusste ich nicht mehr in welchem Zusammenhang. Vielleicht würde es mir irgendwann wieder einfallen, wenn ich wieder Schlaf bekam.

Mir schien, dass ihre Gesichter nun unter all dem Schmutz weniger blass wirkten. Aber vielleicht lag es auch nur an dem rötlichen Feuerschein. Wenigstens würden sie ein kleines bisschen weniger frieren, wenn sie weiterzogen.

Plötzlich fiel mir auf, dass es draußen ganz dunkel geworden war. Ich erhob mich. »Ihr müsst gehen. Und denkt daran, dass euch niemand sieht.« Ich zögerte kurz. »Geht für heute Nacht wieder ins Heu. Dort ist es warm. Und morgen, wenn das Wetter besser ist, könnt ihr nach Hause – oder wohin ihr auch immer wollt.«

Sie standen gehorsam auf und knicksten mit gesenkten Augen.


Wenig später saß ich am großen Tisch in der Küche und schälte Rüben. Mechthild stand am Herd. Wenn ich an die Mädchen in meinen alten Kleidern dachte, kamen mir die Szenen aus dem Spinnzimmer fast schon wieder unwirklich vor – Anne hatte vollkommen Recht, ich musste wieder schlafen.

Mechthild brummte etwas.

»Wie?«

»Heut wird in der Halle gegessen«, wiederholte sie und drehte sich wieder dem brodelnden Kessel zu.

»Was sagst du?«, verständnislos blickte ich von den Rüben zu ihrem Rücken, von dem die Wolle schlotterte.

»Mit dem Maler. Er wird kommen. Du gedenkst heut mit ihm zu speisen, hab ich ihm gesagt. In der Halle.«

»Das hast du nicht!«

»Doch, natürlich. Bist ja schließlich kein Tier, das –«

»Ich esse hier!«, fuhr ich auf. »Hier in der Küche, wie sonst auch!« Wand an Wand mit ihm wieder die Augen zu schließen, war eine Sache – doch ich konnte niemals Brot und Wein mit ihm teilen!

»Oh nein. Nicht heut. Was hätte Priester Matthäus dazu gesagt, dass seine Nichte wie einfaches Gesinde am Herd hockt? Der Maler ist nicht blind, weißt du? Musst dich wenigstens ein einziges Mal deinem Stand nach aufführen, das ist doch ein anständiges Haus hier.«

»Ich kann nicht!«

Die Alte drehte sich um und kniff die Augen zusammen. »Er wird weiterziehen. Und reden. Von dem Hof, von uns und von den Sitten hier. Und ich lass nicht zu, dass vom Haus des Priesters schlecht gesprochen wird. Und deshalb wirst du dich für einen Abend aufführen, wie es von dir erwartet werden kann! Du magst von mir aus sonst im Stall beim Vieh schlafen, aber nicht jetzt, wo er hier ist«, sie donnerte eine Handvoll beißend stinkender Zwiebeln vor mir auf den Tisch. »Soll er sich vielleicht als etwas Besseres fühlen, weil er in der Halle isst und du in der Küche?« Sie nahm mein Messer auf, das mir entglitten war, und drückte es mir zurück in die starre Hand. »Nein!«

Der Rest der Arbeit verlief in verbissenem Schweigen. Hernach schubste sie mich mit den angerichteten Platten in die Halle. Jede einzelne setzte ich so laut auf dem Tisch ab, dass sie es bis in die Küche hören musste. Bei dem letzten Gang drehte ich mich in der Tür um, in den Händen zwei Karaffen mit rotem Wein, der früher zu Messen verwendet worden war. »Dein geschätzter Priester Matthäus«, sagte ich. »Der heilige Mann, den du doch so sehr verehrt hast – wäre es nicht seine Aufgabe gewesen, dem Pfister damals die Sterbesakramente zu geben?«

Für einen Moment malte sich pures Erstaunen in dem faltigen Gesicht am Herd. »Ja, freilich! Und er hat sogar noch viel mehr getan! Das ganze Dorf war in Aufruhr, weil er dem alten Ehebrecher die Absolution erteilt hat. Viele haben ihm damals zu große Nachsicht vorgeworfen, ich selbst hab’ ihn damals nicht verstanden«, die Alte schüttelte den Kopf. »Wie du nur jetzt darauf kommst …«

»Er – er musste nicht aufhören, die Messe im Dorf zu lesen, weil sie ihn zu streng fanden?«

»Zu streng? Nein.« Sie dachte nach. »War wohl eher so, dass es sich mit den Jahren veränderte, wie Gott und er zueinander standen. Vielleicht hatten andere zwischen ihnen keinen Platz mehr«, sie hob die Schultern und wandte sich dann ab.

Keinen Platz? Verwirrt setzte ich meinen Weg zum Tisch fort. Auch Mechthild erschien in der Tür, als ich die Karaffen auf dem Tisch absetzte. Die Hände über der Schürze gefaltet, nickte sie mehrmals, während sie die Wirkung des weiß gedeckten Tisches in sich aufnahm, in dessen Mitte der schwere silberne Leuchter mit den zwölf Kerzen stand und feierliches Licht über Platten und Speisen warf.

»Wie zu seiner Zeit«, murmelte sie und nickte vor sich hin, als hätten sich die Bänder in ihrem alten Nacken gelöst.

Dann ertönten auf der Treppe die schweren Tritte des Fremden und sie verschwand. Nicht in der Lage, ihm entgegenzusehen, rückte ich den Wein noch näher an sein Gedeck, schob das Messer gerade. Als er sich über den Mosaikboden näherte, entfernte ich mich hastig von seinem Tischende. Ein Schritt, noch einer und noch einer. Ich war an meinem Platz. In ausreichendem Abstand von ihm. Hoffentlich …

Seine Schritte erreichten das andere Ende des Tisches, ich wartete jedoch vergebens auf das Geräusch des Stühlerückens. Vorsichtig schaute ich auf – und sah direkt in seine spöttischen Augen in ihren dunklen Höhlen. Sobald er meinen Blick aufgefangen hatte, verbeugte er sich ironisch und nahm endlich Platz.

Metall klirrte auf Metall, als sich jeder von uns von den Gerichten auftat. Längst zitterten meine Hände vor Anspannung. Ich suchte nach Wasser und fand keins. Gegen meine Gewohnheit nahm ich einen Schluck des dunklen Weins. Die Düfte von Kartoffeln, gedünstetem Gemüse und Brot wurden von dem schweren Geruch des geschmorten Hammelfleisches überlagert, dieser mischte sich mit dem erkalteten Rauch aus dem Kamin. Aber da war auch noch etwas Anderes. Sein Geruch. So hatte Anne es genannt. Dabei war es weniger ein Geruch, denn eine Resonanz in der Luft, die von ihm ausging. Wie das Vibrieren einer sehr großen Glocke, die unter einem längst verhallten Schlag noch nachbebte. Genauso, wie ich bebte, wenn ich an ihn im Stroh dachte …

Ich zerteilte mein Fleisch, das versilberte Messer klirrte furchtbar laut auf dem Porzellan. Es hafteten zwar Gewürze an dem Braten, doch ich schmeckte sie nicht. Jede einzelne Speise auf meinem Teller mutete an wie Sägespäne und wollte mir im Hals steckenbleiben, jeden zweiten Bissen musste ich mit dem schweren Wein hinunterspülen.

Den Geräuschen vom Fuß der Tafel zufolge sprach der Fremde den Gerichten hingegen voller Eifer zu. Verstohlen warf ich ihm einen Blick zu. Er war voll und ganz auf das Essen konzentriert, bemerkte nicht, dass ich ihn beobachtete. Entgegen seinem sonstigen rauen Benehmen, aß er kultiviert, als verkehrte er in größeren Häusern, und dennoch war sein Benehmen entspannt, als sei er allein. Die Karaffe neben seinem Gedeck hatte sich bereits merklich geleert und es schien, als wäre die Wärme des Weins in seine bleichen Wangen gestiegen; weiß zeichnete sich einzig die Narbe von ihnen ab. Jung schien er mir für einen Restaurator, vielleicht Mitte dreißig, dabei hatte ich die diffuse Vorstellung gehabt, dieser Berufsstand bestünde nur aus Männern mittleren Alters. Die Augen in den dunklen Höhlen glitten ruhig durch den Saal, nahmen alle Einzelheiten auf; ich suchte umsonst nach dem brutalen, starren Zug, den er in der Scheune angenommen hatte; hier nahm er nur auf, anstatt an sich zu reißen.

Mit einem Mal bemerkte ich, dass mittlerweile ich zum Gegenstand seiner Betrachtung geworden war. Seine Züge verzogen sich zu einem Grinsen. »Mir ist durchaus bewusst, dass meine Gesellschaft weit unter Ihrer Würde ist. Wenn ich verspreche, den Abscheu in Ihrem Gesicht weiterhin als gegeben anzusehen und wegzuschauen, könnten Sie womöglich Ihr Essen genießen, ohne sich weiterhin darauf konzentrieren zu müssen, ihn zur Schau zu tragen?«

Mir blieb fast der Bissen im Halse stecken. »Ich würde nie – ich meine –« Mein Gestammel schien ihn nur noch mehr zu amüsieren. Ich räusperte mich. »Offensichtlich legen Sie Wert darauf, einen gewissen Ruf zu verteidigen, was Ihren Umgang mit dem weiblichen Geschlecht angeht. Ich würde Sie ungern enttäuschen, indem ich Ihnen anders entgegentrete, als Sie es sich aufgrund dessen erhoffen.«

Das Geräusch, das er ausstieß, war einem Lachen sehr ähnlich, seine Narbe trat noch stärker hervor, als sich seine Züge entsprechend verzogen. »Mein Ruf beruht darauf, ein Feind der Bigotterie zu sein. In Wahrheit tue ich allen Weibern einen Gefallen, die tugendsam tun, aber in Wahrheit nichts mehr ersehnen, als dass ihnen jemand die Entscheidung für ihr eigenes Tun abnimmt. Auf diese Weise können sie sich weiter darauf berufen, vollkommen unschuldig daran zu sein.«

Meine Augen mussten sich bei seinen Worten vor Entsetzen und Ungläubigkeit geweitet haben, denn er lachte schon wieder. »Auch in Ihrem Hause klingt die Wahrheit offenbar ungewohnt?«

»Nur die Ihre«, presste ich hervor.

Er hob spöttisch die Brauen, schien jedoch schon wieder das Interesse an unserer Unterhaltung verloren zu haben, denn er beachtete mich nicht länger, sprach stattdessen noch einmal dem Mahl und dem Wein zu. Ich hingegen bekam keinen Bissen mehr runter. In mir ballte sich inzwischen nicht nur Angst, sondern auch Wut gegen diesen Mann zusammen, der dort an meinem Tisch saß und mich beleidigte.

»Wie lange werden Sie noch für Ihre Arbeit brauchen?«, brach es aus mir heraus.

Er antwortete so lange nicht, dass ich mich fragen musste, ob meine Worte überhaupt all die Gegenstände auf dem Tisch überwunden hatten. Ich wollte die Frage gerade wiederholen, als er sein Glas hob, den Kopf zurückneigte und es austrank; hell und scharf bewegte sich dabei sein Adamsapfel über der schwarzen Halsbinde.

Bedächtig setzte er anschließend das leere Glas ab. »Das«, antwortete er endlich, nachdem er sich erhoben und knapp verbeugt hatte, »lässt sich unmöglich voraussehen.«

Seine Schritte hallten auf dem Boden, während er zur Treppe schritt, über deren Geländer, wie ich nun bemerkte, sein Mantel gebreitet war. Er nahm ihn auf und verließ anschließend das Haus.

Schon als die Tür zufiel, krümmte ich mich zusammen. Das Mahl bekam mir keineswegs. Während ich das Geschirr abtrug, musste ich gegen einen Krampf ankämpfen, der mich anfiel wie ein Wolf.


Der Hagel schlug auf mich ein und ich stolperte ein ums andere Mal über die Wurzelstränge. Es war dumm von mir, so spät noch zur Kapelle zu gehen, doch wenn ich es nicht tat, wäre er beim nächsten Licht wieder dort und ich würde lange auf die Beantwortung meiner Frage warten müssen. Dabei hielt ich allein die Vorstellung, dass er irgendwo auf meinem Grund und Boden weilte, kaum noch aus. Ich musste erfahren, wie lange ich seine Gegenwart noch ertragen musste. Sofort.

Mein Stiefel blieb an etwas hängen und um ein Haar wäre ich lang hingeschlagen. Warum war es auch schon so entsetzlich finster? Und warum hatte ich statt der bloßen Kerze in meiner Tasche nicht eine Lampe mitgenommen? Wenn ich mir einen Knöchel verrenkte, bot ich schließlich ein noch leichteres Opfer – wobei ich selbst unversehrt nicht hoffen konnte, ihm zu entkommen, sobald er einmal beschlossen hatte, seine Thesen an mir zu praktizieren. Und der Moment würde kommen. Ich hatte von Anfang an geahnt, welche Gefahr in ihm wohnte, hatte es in der Scheune gesehen – und dennoch waren seine Worte am Tisch wie Dolche gewesen, die allen restlichen Zweifel fortgeschnitten hatten, den ich so sorgsam gepäppelt hatte wie dünn nachwachsende Haut über einer Wunde. Insofern war es eigentlich sinnlos, den Zeitpunkt zu erfahren, wann er gehen würde – und doch wollte ich ihm wenigstens dieses Wissen entringen; als könnte mir etwas, das er mir willentlich vorenthielt, ein Quäntchen Erleichterung bringen.

Endlich wuchs die Kapelle schwarz inmitten all der anderen Schwärze empor. Der Hagel prasselte auf das Dach ein, prallte leise klirrend von den dunklen Scheiben ab. Nein, er war ganz gewiss nicht hier, musste ins Dorf gegangen sein, wie ich vermutet hatte. Unwillkürlich atmete ich auf.

Ein Zweig peitschte mir ins nasskalte Gesicht. Ich hatte ihn nicht kommen sehen. Wie ich diese Finsternis hasste! Sie fühlte sich stets an, wie vorzeitig ins Grab gezerrt zu werden. Andererseits war er nur ihretwegen in diesem Moment nicht hier, also war sie meine Verbündete. Ich zog endlich die Tür auf und schob mich hinein. Als sie hinter mir wieder zufiel, hallte selbst ihr Dröhnen seltsam ungewohnt in meinen Ohren nach. Es musste an dem Gerüst und all den Dingen liegen, die er hier hineingetragen hatte. So schaffte er es, selbst den Hall mit seiner grauenhaften Essenz zu beschmutzen!

Doch er war nicht hier. Ich biss die Zähne zusammen, tastete mich zur letzten Bank vor und von dort den Mittelgang entlang und immer weiter. Die Finsternis war absolut. Obwohl ich tastend ging, schlugen meine Absätze viel zu hallend auf den Steinen auf. Selbst die Stille rings herum schien viel zu laut, als lausche außer mir noch jemand auf jeden Ton. Das mussten meine Nerven sein.

Ich stieß mit der Schuhspitze gegen einen Stein; den Altar. Dann war es nicht mehr weit bis zum Gerüst. Noch ein paar Schritte und ich fühlte unter meinen ausgestreckten Fingern das Holz des Pfostens. Es war geschafft.

Wenn nur der Geruch nicht wäre. Außer dem Duft von feuchten Steinen, etwas Säuerlichem und Farben hing diesmal auch noch etwas Anderes in der Luft; ein Gemisch von Leder und etwas tierähnlichem, schwererem – sein Geruch. Ich erschauerte. Dabei war es nicht verwunderlich, dass der Raum nach ihm stank, verbrachte er doch die meiste Zeit hier drin. Nur ein Blick auf das Fresko und ich würde alle Fenster aufreißen, Kälte oder nicht – mochte er morgen sehen, wie die Eisesluft seinen Händen bekam.

Ich nestelte mit bereits klammen Fingern die Kerze und ein Schwefelholz aus meiner Tasche, riss dieses an der Wand an. Eine Flamme entsprang der Dunkelheit, flackerte und beanspruchte endlich den Docht, wuchs. Die pechartige Schwärze wich zurück. Da war er, der Pfosten, und dahinter die Wand. Er hatte sie nicht nur mit Lauge vom Ruß gereinigt und abplatzende Teile weiter unten abgeschlagen sowie neu verputzt, sondern es trat sogar schon ein Teil des Bildes klar und deutlich aus der neblig hellen Fläche hervor; als hätte jemand Raureif von einer Scheibe gerieben. Fasziniert hob ich die Kerze.

»Ich wusste, dass Sie kommen würden.«

Beim Klang der tiefen Stimme hinter mir setzte mein Herzschlag für einen Moment aus. Er durfte doch gar nicht hier sein! Er hatte in der Dunkelheit nichts verloren!

Ich fuhr herum, die Kerze flackerte, erlosch um ein Haar. Aber auch als die Flamme sich wieder erholte, schaffte sie es kaum, seine schwarz gewandete Gestalt aus den Schatten zu heben. Der Fremde saß vorgebeugt in der ersten Bank, die Ellenbogen auf seine Knie gestützt. Er hob den Kopf. »Irgendwann kommen sie alle.«

»Ich – ich wollte nur sehen –«

»Natürlich.« Das eine Wort triefte vor Ironie. »Aber jetzt, wo Sie einmal hier sind, werden Sie doch wohl nicht so unhöflich sein, gleich wieder zu gehen.«

Ich merkte, dass ich mich unwillkürlich Richtung Gang bewegt hatte, überwand mich und blieb stehen. »Wie – wie weit sind Sie?«

»Schauen Sie doch selbst nach. Sie stehen direkt davor.«

Es war nicht leicht, ihm den Rücken zu kehren, doch ich schaffte es. Er hatte bei der Ausarbeitung ausgerechnet mit Gottes Antlitz begonnen. Dieses tauchte wie aus dem Nebel aus der gereinigten Wand, starrte dabei jedoch nicht länger Moses, sondern nun mich an. Und Jahwes Züge waren nicht länger würdevoll ausdruckslos wie zuvor, sondern nunmehr flammend vor Zorn! Gottes Ausdruck war so wütend, die Drohung in seinen Augen so unmittelbar, dass ich für einen Moment selbst den Fremden vergaß. Was hatte ich nur getan? Was mochte Seinen Zorn nur so furchtbar erregt haben? Doch in Wahrheit wusste ich es längst, wusste genau, was ich verbrochen hatte, und mein Entrinnen vor der Strafe und die Sicherheit vor Seinem Ingrimm waren nur auf Zeit gewesen. Alles lag nun klar auf der Hand – besonders, dass meine Flucht nun ein Ende hatte: Sein Henker war längst hier …

Ich musste rückwärts gegangen sein, denn mit einem Mal prallte ich gegen einen Körper – und schrie auf.

Das Gesicht des Fremden, jetzt direkt über mir, verzog sich erst in Verachtung und dann in einem spöttischen Grinsen. »So entsetzt? Sind Sie nicht genau deswegen hier? Ist es nicht das, wozu Sie mich konsultierten, als Sie mich an Ihren reich gedeckten Tisch einluden?«

Hinter mir dräute die Wand mit dem zornigen Gott, vor mir der Fremde. Ich war zwischen beiden gefangen, die Kerze zitterte in meiner Hand.

Meine Angst stachelte ihn nur weiter an. Er drängte mich gegen den Pfosten. »So angststarr wie ein Reh. Dabei wussten Sie in Wahrheit doch genau, was Sie taten, als Sie sich auf den Weg hierher machten – und Sie wissen es immer noch.«

»Nein! Nein –«

»Doch.« Seine Narbe zuckte dunkel in dem bleichen Gesicht. »Nur zugeben werden Sie es nicht. Denn Ihr Geschlecht besteht aus einer Ansammlung feiger Geducktheit, Scheinheiligkeit und Bigotterie. Sie begehren nichts mehr, als sich in Verkommenheit zu wälzen und sich in Wollust zu verströmen – nur darf es keiner erfahren. Keine von Ihnen hat auch nur einen wahren Knochen im Leib«, seine Augen waren hart. »Darum braucht man sich bei den Gefühlsaufwallungen eines Weibs auch nie zu fragen, welche Empfindungen dahinter stehen, sondern vielmehr, was es damit bezweckt. Und je tugendsamer, desto verlogener. Selbst im Beichtstuhl werden Sie noch fromme Seufzer ausstoßen und beteuern, gegen Ihren Willen genommen worden zu sein, ist es nicht so?«, sein Ausdruck war angewidert.

»Ich beichte nicht. Meine Sünden trage ich allein.« Der erste Satz war fast tonlos aus meinem Mund gekommen, doch mit dem zweiten gewann ich meine Stimme zurück. Ich würde zwar die Strafe ertragen – jedoch auf keinen Fall erdulden, der Heuchelei bezichtigt zu werden – nicht von ihm. »Und was Sie über Frauen sagen, ist verlogen und obszön! Sie wollen damit einzig Ihren kranken Trieb rechtfertigen und sich von Ihrer Schuld freisprechen, die Sie ganz allein tragen, wenn Sie einer Frau Gewalt antun!«

»Solcherlei Reden habe ich schon oft gehört«, seine Mundwinkel zuckten. »Nur dass jedes Wort davon Lüge ist. Weil ihr sie liebt, die sogenannte Gewalt. Denn seltsamerweise waren die anderen Lippen derjenigen, die dies beteuerten, in aller Regel im Nachhinein stets umso feuchter vor Vorfreude.«

Ich schnappte nach Luft. »Ihre Obszönität ist widerwärtig! Haben Sie kein Schamgefühl?«

»Scham?«, er zog die Brauen hoch. »Ich soll mich schämen? Wofür? Für die Wahrheit? Für die Tatsache, dass wir alle nieder sind? Wenigstens stehe ich zu meinen Trieben und mache mich nicht besser, als ich bin. Ich besteige keine hohen Rösser, um anschließend umso tiefer zu fallen. Aber keine Sorge, Ihnen werden Ihre Scheinheiligkeit und Verlogenheit schon noch vergehen. Gleich werden Sie wissen, worum sich in Wahrheit alles dreht – um das Fühlen. Um einen steifen Schwanz und eine feuchte Möse; einzig um das Eintauchen und Vergessen in diesem einen Moment …«, seine Stimme war immer rauer und leiser geworden.

Mir wurde schlecht. Aber bevor ich auch nur den Mund öffnen konnte, traf sein Atem kalt auf meine Hand und die Welt versank im Nichts – er blies einfach die Kerze aus! Ich wollte fliehen, doch der Pfosten drückte hart in meinen Rücken und hielt mich damit an Ort und Stelle. Immerhin gab er mir auch gleichzeitig Halt, denn ohne ihn hätten meine Knie wohl längst unter mir nachgegeben.

»Zu spät«, murmelte er. »Sie sind entsetzlich reizlos, doch ich bin bereit. Heben Sie Ihren Rock –« Eine Hand griff nach dem Filz meines Kleides.

Ein Ton stand plötzlich zwischen uns – unterdrückt und entsetzt. Er musste aus meiner Kehle gekommen sein.

Er lachte, es roch schal nach Wein. »Bis zum letzten Moment, nicht? Verdammter Priester im Kleid.«

»Lassen Sie mich gehen.« Meine Stimme war kaum ein Flüstern. »Bitte!«

Zur Antwort umspannte eine harte Hand meinen Hals. Meine Schlagader pulsierte immer schneller dagegen wie die eines gefangenen Vogels. Für einen Moment war es, als hielte er den Schlag meines Herzens – als hielte er mein ganzes Leben in der Hand; ein Druck und es war vorbei – und ich konnte fühlen, dass auch er es spürte und dass er diese Macht genoss! Doch er ließ wieder los, ergriff mich stattdessen bei den Schultern, drehte mich einfach um, stieß mich gegen den Pfosten, dass mein Gesicht an splitteriges Holz schrammte. Seine Hände spannten mich ein wie ein Schraubstock, sein Mund senkte sich auf meinen Hals; ich spürte eine heiße Zunge, daneben raue Stoppeln, die meine Haut ritzten. Dann seine Hände, die nach unten griffen, anfingen grob meinen Rock zu raffen. Kalte Luft, die von unten gegen meine Beine schlug …

»NEIN!« Diesmal hallte die ganze Kapelle von meinem Schrei wider. Irgendwo her kam die Kraft, mich gegen ihn zu werfen, dass er im Dunkeln stolperte. Ich raste an ihm vorbei und den Gang hinunter, hinaus. Ich konnte all den langen Weg zurück nicht anhalten, nicht, bis ich wieder im Haus und dort in meinem Bett war. Dort drückte ich mich gegen die Wand, zog die Decke bis zum Hals hoch und starrte die Tür an. Die ganze Nacht.

Der Dornengarten

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