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Kapitel 8
ОглавлениеMit den ersten Sonnenstrahlen wachte er auf. Es war bereits 09:00 Uhr, als Max aus der unwirtlichen Welt seiner heftigen Träume erwachte. Schlaftrunken erhob er sich mühsam mit halb geöffneten Augen, die ihm einen brennenden Juckreiz verursacht hatten.
Das hier war also die Realität, der er sich stellen musste. Es wurde höchste Zeit, dass er mit diesem nächtlichen Grübeln aufhörte. Dieses ewige Nachdenken führte nur zu immer wiederkehrenden Zweifeln im Leben. Er war sich darüber völlig im Klaren, aber konnte trotzdem nicht damit aufhören. Es war wie immer der gleiche Rhythmus mit diesem Ereignis, dass ihn wohl ein Leben lang begleiten würde.
Beim Aufstehen stieß er gegen einen Bettpfosten, der seinem rechten Knie einen heftigen Schmerz zufügte. Max streckte seine Glieder und ging humpelnd und fluchend ins Bad, um seinen Zustand etwas aufzupolieren. Kriminalkommissar Max Herbst sah prüfend in den Spiegel und kam sich plötzlich stark gealtert vor. Es machte ihn wütend.
Er hatte tiefe Furchen rechts und links der Mundpartie, die vermutlich durch Stress verursacht wurden. Wie sollte es nun weitergehen und wo würde das alles enden?
Nach seiner Morgentoilette sah Max aus dem Fenster des Wohnzimmers. Der Sommermorgen war hell und warm. Er blieb noch eine Weile am Fenster stehen, um die vorbeieilenden Passanten zu beobachten, die teils übermüdet und mit zusammengekniffenen Augen zu der nahegelegenen U-Bahnstation hasteten.
Ina hatte heute ihren zweiten Todestag…
Um viertel vor zwölf traf Max Herbst in seinem Büro ein. Nachdem er gerade die Tageszeitung aufgeschlagen hatte, stand der Dienststellenleiter vor ihm.
„Na, Max, wolltest mal wieder ausschlafen?“
„Nein, Dieter, das war nicht der Grund. Wir haben heute viel auf dem Zettel und es wird wohl spät werden.
Du bist es doch, der sich ständig beklagt, wenn man wieder einmal Mehrarbeitsstunden anhäuft. Ich versuche nur, dir die diesbezüglichen Sorgen zu nehmen.“
„Ja, ja, ist ja richtig. Ich meine ja auch nur… Gibt es neue Erkenntnisse bezüglich des Tötungsdeliktes in Blankenese? Die Pressestelle rief bereits an. Die sind ganz beunruhigt. Die Boulevardblätter brauchen eine Schlagzeile, ist ja Ferien-und Saure- Gurken-Zeit für die.“
„Nein, gibt noch nichts Konkretes. Ich kann auch nicht zaubern“, erwiderte Max.
Kriminalhauptkommissar Dieter Wiese war ein ängstlicher Typ.
Seine hervorstechende Eigenschaft war mangelnde Zivilcourage. Er schien nicht sonderlich geeignet zu sein für diesen Posten als Dienststellenleiter im Ressort Spezielle Kriminaldelikte im Rotlichtmilieu.
Dieter Wiese schien an der harten Realität des Lebens vorbei zu schrammen. Ihm stieg die Schamesröte bereits ins Gesicht, wenn man sagte: „Zieh mal den Tisch aus!“
Das Kommissariat war in drei Sachgebiete unterteilt.
Die harten Hunde der Dienststelle waren im Sachgebiet Bekämpfung der Zuhälterei tätig, dann kamen die Sachbearbeiter im Deliktsbereich Betrug auf sexueller Basis und Beischlafdiebstahl und zuletzt die etwas ruhigeren, kontaktscheueren Kollegen im Sachgebiet verbotene Pornografie.
Wiese war eigentlich gegen seinen Willen nach St. Pauli versetzt worden.
Er remonstrierte aber nicht gegen die Entscheidung der Polizeileitung, weil er genau wusste, dass er keine sachlichen Gründe auffahren konnte; und deshalb hatte er widerwillig seinen Posten bezogen. Bei nächtlichen Maßnahmen seiner Dienststelle führte er stets von zu Hause die Aktionen; meistens im Bett seines Schlafzimmers liegend.
Am darauffolgenden Morgen ließ er sich dann ausführlich berichten, trat mit den gewonnenen Erkenntnissen vor die Presse und begann fast jedes Mal mit der Einleitung: „Ich und meine Mitarbeiter haben…“
Dieter Wiese war ein Analyst und starker Rhetoriker, der sich überzeugend in Szene setzen konnte. Er konnte glaubhaft PR betreiben, hatte jedoch eine große Scheu, sich mit Vorgesetzten und dem Milieu auseinander zu setzen.
Wiese war trotz seiner 58 Jahre nie an einer solch exponierten Dienststelle, und dann auch noch als Hauptverantwortlicher, tätig gewesen.
Während seiner Dienstzeit hatte er sich von Lehrgang zu Lehrgang gehangelt und immer nur Dienst in der Etappe geleistet. Mal war er Mitarbeiter in der Kriminalaktenhaltung, mal bei der Kriminalitätsanalyse. Für einen langen Zeitraum war er in zwei Intervallen Kofferträger zweier Kriminaldirektoren. Er fertigte auf den Stabsleiter- Sitzungen die Protokolle und war verantwortlich für die Umsetzung der Terminplanung.
Kollegen frotzelten und feixten, dass er dem Staat immer noch seine erste Festnahme schuldig sei. Es war auf St. Pauli für ihn zur Manie geworden, ständig auf die Uhr zu schauen, weil er stets den Feierabend herbei sehnte.
Wiese widmete sich viel lieber seiner Bonsaizucht mitsamt der entsprechenden Literatur, von der er einen ganzen Stapel in seinem Büroschreibtisch deponiert hatte.
„Hm, du wirst es schon machen, Max. So, hab noch einen Termin, mach dein Ding“, sagte der Leiter für Spezielle Kriminaldelikte, während er das Büro verließ.
„Hallo, Chefermittler, hier bin ich, ha, ha. Heute besser?“ Kriminalkommissarsanwärter Anton Meyer betrat den Raum
Das konnte doch wohl nicht wahr sein. Wie sah der denn aus?
Toni trug einen schwarzen Anzug, dessen Tuch zu platzen drohte. Die Ärmel waren viel zu kurz. Die Hose hatte starkes Hochwasser und trug darüber hinaus eine mexikanische Rundbügelfalte. Das Sakko ließ sich nicht mehr zuknöpfen, weil es zu eng war.
Das Hemd schien dasselbe zu sein wie am Tag zuvor, die Halskette ebenfalls. Am linken Handgelenk befand sich eine gelbgoldfarbene funkelnde Rolex.
„Toni, Mann, Toni, der Anzug hat doch höchstens Konfektionsgröße 50. Ist das Ihr Konfirmationsteil? Ich schätze Sie mindestens auf Größe 102. Also, das geht nun wirklich nicht. Können Sie sich nicht manierlich kleiden?“
Nicht ohne Unterton eines Vorwurfs versuchte Anton Meyer Max beizubringen, dass er sich lediglich dem Milieu angepasst hätte, er es mit dem Outfit leichter haben würde, zu knallharten Ermittlungsergebnissen zu kommen. Die Argumentation überzeugte Max jedoch nicht einmal im Ansatz. Max Meinung war, dass das Milieu sich ihm anzupassen hätte und nicht umgekehrt.
„Keine Kohle momentan. Der Monat hat doch schon die Hälfte übersprungen und mein Auto ist auch in der Werkstatt. Wenn Ihnen diese Sachen nicht gefallen…?“, Toni war enttäuscht. „Gibt es nichts Wichtigeres, Herr Herbst? Ich will es nur verstehen.“
Nein, zu dem Thema fiel Max momentan nichts Besseres ein. Klugscheißer, dachte er.
„Sie erzählen mir jetzt erst einmal von den Zeugenermittlungen gestern Nachmittag am Tatort.
Dann gehen Sie in die Karstadtfiliale am Nobistor und kaufen sich eine manierliche Jeans. Hier haben Sie hundert Mark. Die leihe ich Ihnen. Können Sie mir am Ersten zurück geben“, lenkte der Kriminalist Herbst ein, während Toni den Hunderter flugs in seiner Hosentasche verschwinden ließ.
„Danke, Herr Herbst. Nachdem ich also in der Kriminalaktenhaltung war, bin ich zum Tatort gefahren, so wie Sie es mir aufgetragen haben. Ich konnte tatsächlich einen Zeugen auftreiben.
Der heißt Johann Dabeler, ist 61 Jahre alt und wohnt gegenüber vom Tatort-Parkplatz in der angrenzenden Villa. Dabeler hatte gegen drei Uhr nachts bei geöffnetem Fenster noch eine geraucht und im schwachen Lichtschein der Laterne auf dem Parkplatz zwei Personen rangeln sehen. Ob die miteinander gesprochen hatten, konnte er nicht sagen. Gehört hatte er jedenfalls nichts. Dann fiel das Opfer zu Boden und blieb regungslos liegen. Die andere Person ging eiligen Schrittes über die Parkplatzeinfahrt in Richtung Straße.
Ihm war aufgefallen, dass der Täter leicht humpelte, also ein Bein nachzog. Mehr will er nicht gesehen haben. Hier das schriftliche Protokoll.“
„Hm, weshalb meldete er den Vorfall nicht der Polizei?“
„Hab ich auch gefragt. Er sagte, dass er mit dem Rotlichtmilieu nichts zu tun haben möchte, weil er Repressalien befürchtet.“
„Gut, ich wünsche Ihnen einen guten Einkauf und machen Sie nicht so lange. Gleich kommen unsere Vorladungen.“
„Ja, danke, bin schon weg“. Der Praktikant hastete aus dem Zimmer.
Nachdem das Telefon dreimal geklingelt hatte, nahm Herbst den Hörer ab. „Hier Wachraum, Schneider, Kollege Herbst, eine Biene Schmidt ist hier, möchte zu Ihnen.“
„Ja, ist in Ordnung. Schicken Sie die Dame hoch, ich gehe ihr entgegen!“
„Hallo, Sie müssen Herr Herbst sein, nicht wahr?“, hörte Max die auf ihn zukommende, attraktive weibliche Person mit der dunklen Bienenkorbfrisur und den knallroten Lippen rufen.
Die Brüste dieser Zeugin sahen voll und fest aus, beinahe zu viel für die rosafarbene Seidenbluse, die sie trug. War das vielleicht Absicht oder was steckte dahinter?
„Ja, dann sind Sie wohl Biene Schmidt?“
„Ist so, Herr Herbst.“
„Nehmen Sie bitte Platz, hier direkt vor meinem Schreibtisch, da klappt die Konversation am besten!
Ich möchte Sie hier als Zeugin vernehmen, Frau Schmidt. Damit die Staatsanwaltschaft sich ein Bild von Ihnen machen kann, bitte ich Sie, erst einmal kurz über sich zu erzählen. Ich muss Sie jedoch ermahnen. Sie sind zur Wahrheit verpflichtet und könnten ansonsten wegen uneidlicher Falschaussage bestraft werden.“
„Ja, hab ich schon verstanden. Ich habe nichts zu verbergen oder zu beschönigen. Ist einfach grausam, das mit der Sabrina, Herr Herbst.“
Biene Schmidt setzte sich auf den von Max Herbst zugewiesenen Stuhl.
Sie schlug gekonnt die Beine übereinander und es entstand ein reibendes Geräusch, das wohl so mancher als erregend empfinden könnte. Max warf einen kurzen Blick auf die roten Träger ihres BHs, als sie sich nach unten beugte, um eine Packung Zigaretten aus ihrer neben dem Stuhl abgelegten Handtasche zu nehmen.
„Darf ich, Herr Herbst?“, fragte Biene Schmidt und winkte mit der Zigarette, die sie zuvor der Packung entnommen hatte.
„Hm, ja, aber bitte nicht Kette“, antwortete Max. „Dazu ist der Raum zu klein, außerdem bin ich Nichtraucher.“
Kaum ausgesprochen, ging Max zur Fensterfront in Richtung Davidstraße und öffnete alle drei Fenster in Kippstellung.
Nachdem er wieder an seinem Schreibtisch saß, sagte er zu der Zeugin: „Na, dann fangen Sie mal an!“ und spannte zwei Blankobögen DIN-A-4 Papier in die Schreibmaschine.
Biene Schmidt nickte, während sie einmal kräftig an der Zigarette sog und den Rauch ihres gewaltigen Lungenzuges in Richtung Max blies, der sie durch eine Qualmwolke ansah und die Augen zu Schlitzen zusammen kniff.
Bevor die ehemalige Prostituierte Rede und Antwort stehen konnte, griff Max unter den Schreibtisch, schob seine linke Hand in die Hosentasche und legte seine eingeklemmte Genusswurzel, wie er seinen Penis nannte, von rechts nach links. Er war eben Linksträger. Für Sekunden hob Max seinen Hintern, um sich sofort wieder zu setzen. Es war eine Wohltat. Jetzt hatte er den Kopf frei von jeglichen Störungen und konnte sich mit voller Konzentration der Vernehmung widmen. Biene Schmidt schien seine Aktion nicht bewusst wahrgenommen zu haben.
„So, Frau Schmidt. Was machen Sie beruflich?“
„Ich bin im Dienstleistungssektor tätig.“
„Aha, Sie kauften eine Couch und haben sich selbstständig gemacht?“
Hat man ihr auch eine Steuernummer mitgeteilt? Wahrscheinlich hat sie nicht einmal eine für ihren kleinen Fiffi, amüsierte sich Max.
„Nee, nee, heute nicht mehr, ich bin nur noch als Bardame tätig.
Jetzt bin ich schon 45 Jahre, aber nicht unbedingt alt, nur ein bisschen länger jung als andere. Aber im Milieu ein altes Eisen. Mensch, wie die Zeit vergeht. Schon mit achtzehn bin ich im Rotlicht gelandet.
Zuerst war ich in einem Saunaclub in Hamburg-Rahlstedt als Domina tätig, schon in jungen Jahren. Polizeikontrollen gab es nie. War ja noch nicht einundzwanzig damals. Der Besitzer hätte sich strafbar gemacht, wenn die Polizei mich dort erwischt hätte.
Ich war immer experimentierfreudig, das machte eben das Verführerische aus, auf das meine Freier standen. Es weckte ausnahmslos die Neugier in ihnen.
In meinem Kabinett hab ich die Gäste mit Stromstößen gequält, hängte sie am Galgen auf und band ihnen nägelbespickte Peniskorsagen um. Gelegentlich spannte ich sie auf eine Streckbank oder setzte sie auf einen Nagelbock. Sie ließen sich mit einer siebenschwänzigen Knute züchtigen. Mein Kabinett glich einer mittelalterlichen Folterkammer. Ich habe riesig verdient. Alles weg, haben alles die Jungs geschnappt.
Sie waren alle bei mir… Die Vermögenden, die Armen, junge und alte Freier. Ihr höchstes Vergnügen war, dass ich ihnen erlaubte, vor mir winseln und betteln zu dürfen.“
„Hatten Sie denn kein Mitleid mit diesen speziellen Personen?“
„Ha, ha, Mitleid, das ich nicht lache…!
Wenn Sie sehen würden, wie bei denen der Schwanz stieg, wie sollte man da noch mitleidige Gefühle entwickeln? Sagen Sie es mir! Hätten Sie doch bestimmt auch nicht gehabt oder? Nach einigen Jahren hatte ich genug von diesen Psychos und habe für Hacker-Ted in der Herbertstraße angeschafft. Das machte mir mehr Spaß, war alles manierlicher dort. Dann landete ich im Eros-Center im C- Haus bei den Kölnern.
Aufgrund meiner großen Oberweite zog ich immer jede Menge Freier auf dem Kontakthof an. Sie müssen wissen, dass die Jungs den Hof unter sich aufgeteilt haben.
Jede der 28 Bordelleinheiten hat ihren festen Stellplatz. Es ist den Frauen untersagt, den Bereich ihres Salons zu verlassen.“
„Aha“, war der Kommentar von Max, der weiterhin aufmerksam zuhörte und sich Notizen machte.
„Man darf nur in einem bestimmten Sektor kobern, sonst gibt es richtig Zoff. Alle Kolleginnen achten argwöhnisch darauf, dass man die Grenzen nicht überschreitet.
Bei Verstößen, auch schon, wenn man nur mal einen Meter über die markierte Grenze kommt und einen Freier zu sich heranzieht, hauen sich die Frauen die Augen blau oder rennen wütend in den Puff. Dann kommt eine Heerschar Jungs und verlangt von der Gegenseite Schadenersatz, weil deren Frau mit einem lädierten Auge erst einmal ausfällt. Ich könnte mir vorstellen, dass es irgendwann einmal Tote geben wird in so einer aufgeheizten Atmosphäre.“
„Erzählen Sie ruhig weiter, Frau Schmidt.“
Augenzwinkernd fügte sie hinzu: „Ich war immer schlau. Kam meist doch noch an die Freier, die ich im Visier hatte, auch wenn sie außerhalb meines Gebietes standen.
Mein Trick war es, das ich stets ein kleines Spielzeugauto zum Aufziehen bei mir hatte und mit diesem beim Kobern spielte.
Ich hatte das Auto von meinem Stellplatz aus in die Richtung eines von mir auserwählten Freiers fahren lassen. Dann rannte ich blitzschnell hinterher, um wieder in den Besitz meines Autos zu kommen. Hatte sich die Feder des Autoantriebs entspannt und stand das Auto in unmittelbarer Nähe des Freiers, rannte ich blitzschnell dort hin und nahm es vom Boden hoch. Dabei blinzelte ich dem Freier freundlich zu und wackelte mit meinen Titten. Entschuldigung, war so. Dann ging ich wieder auf meinen Platz und der Freier folgte mir, als sei er von einem Magnet angezogen worden. Ich hatte ihn und wir gingen in meinen Salon.“
„Ganz schön clever, Biene!“
„Ja, kann man wohl sagen. Die anderen Frauen haben das lange Zeit gar nicht geschnallt.
Der Ted hat eine Mörderkohle mit mir verdient. Es war wohl meine laszive Art, meine Aura, die meine Freier begehrten und… na, Sie wissen schon. Ich weckte in ihnen ihre schlechten, verborgenen Seiten. Die standen alle auf mich. Die Kerle meinten, dass ich einen Körper wie die Sünde hätte - und wenn schon… ist das ein Fehler? Es ist doch alles nur ein Spiel, ein unterhaltsamer Zeitvertreib. Ich weiß es nicht...“
„Na, unterhaltsamer Zeitvertreib, Frau Schmidt? Ich weiß nicht so recht.“, schmunzelte Max.
„Ich lebe jetzt allein, habe erkannt, dass es einen guten Mann nicht gibt. Sie brauchten mich damals nur zu sehen und schon klingelte die Kasse. Mittlerweile hatte ich mich zur perfekten Schauspielerin entwickelt. Mal war ich vulgär, verspielt oder knallhart. Dann wiederum habe ich ein mädchenhaftes Verhalten vorgetäuscht; zeigte mich voller Ängste oder dominant. Hatte ich ja gelernt. Bei richtig vermögenden Freiern spielte ich natürlich die zärtliche Geliebte. Viele Männer wollen den außerehelichen Sex, scheuen aber den Aufwand einer Affäre. Von mir hatten sie keinen Stress zu erwarten. Bei mir brauchte sich kein Mann fremdschämen. Es ist doch wie immer nur die Scheiß Doppelmoral, die alles so kompliziert macht.
Woher kommt das ganze Dilemma, Herr Herbst?
Die ganze Scheiße über gut und schlecht. Wisst ihr eigentlich, was euch heiß macht? Ich sag es Ihnen, ist doch ganz einfach:
Das, was ich zwischen den Beinen habe.
Das ist doch des Rätsels Lösung. Verstehen Sie? Ich habe es auf eine Art gelernt und Sie eben auf eine andere. So ist es nun mal...
Jetzt arbeite ich ganz solide bei Karl-Heinz Bis im Club Marita als Bardame. Zwar immer noch oben-ohne. An der Reaktion der Gäste erkenne ich, dass es ihnen wohl recht ist. Auch Kalle ist mit mir zufrieden. Anschaffen ist nicht mehr.“
Biene Schmidt hatte die nötige sexuelle Erfahrung und war optisch immer noch eine Granate. Sie war jederzeit in der Lage, die lüsternen Freier heiß zu machen, vor allem, wenn sie mit ihren blanken, prallen Brüsten an der Bar arbeitete. Die gesamte Motorik ihres Körpers hatte sie auf die Bewegung ihrer Möpse abgestimmt, die sie gekonnt in Szene setzte. Es war schon zu einem Automatismus geworden und setzte die vor ihr sitzenden Freier in Rage, denen häufig die Augen so weit aus dem Kopf sprangen, dass man sie fast seitlich hätte abschlagen können.
Biene war der Meinung, dass viele Frauen der bei ihnen einkehrenden Freier glauben würden, sie seien schlanker und jünger, als sie tatsächlich waren. Auch dieser Irrtum trug dazu bei, dass sich deren Gatten mit zunehmender Dauer ihrer Lebensgemeinschaften auf Abwege begaben.
Kalle Bis hatte sie mit Bedacht eingestellt, auch wenn sie sich nur noch selten prostituierte. Es kam gelegentlich einmal vor, wenn sie den Freier äußerst attraktiv fand und sie dem angebotenen Dirnenlohn nicht widerstehen konnte.
Biene war von Puff-Kalle optimal gewinnträchtig eingesetzt worden. Er war von ihrem Einsatz begeistert.
„Sind Sie eigentlich vorbestraft?“, war die nächste Frage von Max.
„Hm, ist schon lange her... Damals, im Eros. Wohl ein- oder zweimal wegen Betruges auf sexueller Basis und dann soll ich mal einen Freier beklaut haben. Hatte ich aber nicht.
Sonst ist nichts.“
Wieder einmal maßlos untertrieben, dachte Max. Der Zähler in ihrer Kriminalakte zeigt zwölf Mal Betrug und Diebstahl auf sexueller Basis an und zweimal wurde sie wegen Urkundenfälschung verurteilt.
„Gut, Frau Schmidt. Kommen wir zum Tötungsdelikt Sabrina! Was können Sie dazu sagen?“
„Nicht viel, Herr Herbst, ich war ja an der Bar und habe nur mitbekommen, dass sie sich bei mir nach draußen zum Parkplatz abgemeldet hatte, um eine zu rauchen. Dann kam sie nicht wieder. Den Rest kennen Sie ja.“
„Ist ihr jemand gefolgt?“
„Nee, nicht von drinnen, draußen weiß ich nicht.“
„Wer könnte denn Ihrer Meinung nach der Täter sein?“
„Keine Ahnung, null!“
„Hatte Sabrina Streit mit jemandem? Vielleicht mit Bis?“
„Nee, war alles paletti.“
„War Sabrina denn irgendwie verändert?“
„Verändert, verändert…, wer weiß das schon?
Sie war kein einfacher Mensch, eben sehr speziell.
Es gab immer wieder mal Streit mit den Kolleginnen. Sie hielt sich für etwas besseres, eben die Nummer eins in unserem Club. Sie war eine selbsternannte Außenseiterin, grenzte sich absichtlich ab, fühlte sich zu fein unter den anderen. Dabei war das gar nicht ihr eigener Verdienst. Nur weil sie genetisch mit Schönheit versorgt war und dazu noch ihre aufgesetzte Anmut zeigte, hatte sie doch trotzdem nicht das Recht, die Diva zu spielen.
Aber, was soll’s… Es ist eben, wie es ist. Sie hat hoch gepokert und am Ende doch verloren. So ist das nun mal in diesem beschissenen Job. Wenn man keine richtige Ausbildung und überhaupt Bildung hat, dann bleibt wohl nur noch solch eine Verhaltensweise, wie Sabrina sie zeigte…und dazu noch Beine breit machen.
Wir sind doch alle nur zum Sexspielzeug dressiert worden.“
„Na ja, Frau Schmidt. Es gehören immer zwei dazu. Wenn man zu labil ist und sich nicht behaupten kann, dann mag es wohl so sein. Einfach ein weites Feld, dieses Thema…“
„So, nun lassen Sie mich bitte in Ruhe. Ich habe keine Lust, mir ewig diese Scheiße im Kopf herum gehen zu lassen. Beenden wir einfach das Gespräch, Herr Herbst. Ich muss los, muss einfach funktionieren. Heute Nacht ist wieder Champagner Saufen angesagt.
Nur weil ich große Brüste habe, wollen sie mich alle ficken. Mich kotzen sowohl der Champagner, von dem ich ständig Sodbrennen bekomme, als auch die neurotischen, geilen Böcke an.
Man benutzt uns nur wie eine Sache, ein Ding, dem man keine Gefühle entgegen bringen muss.
Warum denn auch?
Jeder Mann ist doch nur ein Egoist, nein, eher ein Egozentriker. Ich hasse die Menschen.
Es gibt doch unter ihnen keinen, der nicht selbstsüchtig handelt. Wahre Zuneigung kann man nur zwischen Mensch und Tier finden.“
„Ist es so, Frau Schmidt?“
„Natürlich…, was denken Sie.
Meine Bezugsperson war immer nur mein lieber Hund, meine Lilly. Sie verstand mich. Ich sah es ihr an, wenn sie mir in die Augen schaute. Immer treu ergeben und absolut loyal, was ich bei den Menschen stets vermisst habe.“
Die Vergangenheit hatte auch Biene Schmidt eingeholt. Fast alle ehemaligen Dirnen waren Beziehungsarm, nicht fähig, eine stabile Bindung einzugehen. So blieben ihnen mit fortgeschrittenem Alter nur Hund oder Katze als Partner…
„Meine Luden beuteten mich nur aus, benutzten mich eiskalt als Geldmaschine. Ich mag nicht mehr. Täglich fresse ich Unmengen Tabletten, Tranquilizer, in mich rein.
Hören Sie doch auf, Herr Herbst. Lassen Sie mich in Ruhe. Wahrscheinlich gehören Sie auch zu den geilen Männern“.
Für einen Augenblick herrschte eisige Spannung. Max ignorierte die provokante Bemerkung.
„Also, raus damit, was sagen die Gerüchte in Ihrem Haus? Was munkelt man in Ihren Kreisen?“
Biene Schmidt verschränkte die Arme vor der Brust; sie zeigte ein reserviertes, aufgesetztes Lächeln. Max kannte solche Körperhaltung, die ihm meist nie den gewünschten Erfolg zeigte. Die Dirne schien zu mauern.
„Nee, nee, gibt nichts weiter. Ich würde Ihnen gerne helfen. Aber, ist nichts, was Ihnen helfen könnte, Herr Herbst.“
Max entdeckte in dem Blick der ehemaligen Prostituierten einen Anflug von Unsicherheit und er vermutete, dass sie all das veranstaltete, weil sie Karl-Heinz Bis und damit auch ihren Arbeitsplatz schützen wollte.
Biene Schmidt` s Gesicht wurde heiß. Max sollte sie nicht in diesem Zustand sehen, deshalb beugte sie sich kurz nach unten, um so zu tun, als würde sie etwas in ihrer Handtasche suchen.
„Was mir helfen könnte? Das überlassen Sie doch bitte meiner Beurteilung aufgrund meines Kenntnisstandes und meiner Erfahrung. Können Sie nicht wissen, Frau Schmidt. Sie würden aber schon mit der Sprache rausrücken oder?“
„Ja, natürlich, Herr Kommissar, leider gibt es nichts zu berichten“, erwiderte die Bardame des Clubs Marita, während sie langsam den Kopf wieder hob und ihn besorgt ansah.
Tschüs, Herr Herbst, ich gehe jetzt.“
„Nein, nein. Nicht so hastig, wir sind noch nicht fertig! Und…, wer ist denn der Stammfreier von Sabrina gewesen? Der ominöse Mann von der Behörde?“
„Den kenne ich nicht weiter. Kam meistens mittwochs in der Nacht.“
„Kein Name oder Auto oder sonst was?“
„Nein, nur, dass er relativ klein ist. Nur so groß wie die Sabrina. Ah, was mir einfällt, er hinkte leicht. Nicht doll, aber es fiel schon auf. Hab ihn ja meistens auch nur nackt gesehen und dann mit Maske.“
„Hm, sonst noch was?“
„Nee, mehr fällt mir nicht ein.“
„Wie ist es mit Puff-Kalle? Ich höre draußen ständig, dass er immer noch ein Faible für minderjährige Mädchen hat?“
„Nee, nee, stimmt nicht, ist wohl sehr weit hergeholt“, sagte Biene Schmidt, während sie mehrmals mit der rechten Schulter zuckte und ein nervöses Kichern zeigte.
„Sie wissen ja, wenn ein Gerücht erst einmal da ist, kann man sich schwer dagegen wehren. Bei uns jedenfalls gibt es keine Minderjährigen, hat Kalle ausdrücklich verboten.“
Max spürte, dass Biene Schmidt log, denn sie war keine überzeugende Lügnerin. Sie machte einen nervösen Eindruck, ihre Hände zuckten unruhig.
„Frau Schmidt, einseitiges Schulterzucken deutet darauf hin, dass Sie nicht die Wahrheit sagen. Sie lügen mich an oder wenn man es eleganter sagen will, Sie sagen die Unwahrheit. Also, ich höre…“
Puff-Kalles Bardame wendete den Blick von Max Herbst und sah minutenlang mit leeren Augen auf den Fußboden.
„Frau Schmidt. Sie können Ihr Lügenkonstrukt nicht dauerhaft aufrecht erhalten. Schätzen Sie doch einmal die Folgen ab. Je schlimmer die Konsequenzen sind, sobald die Lüge auffliegt, desto höher ist der Druck. Und das bedeutet Stress pur. Das müssen Sie sich doch nicht antun, Biene.“
„Nein, nein. Ich sage immer die Wahrheit, Herr Herbst. Das kann ich beschwören“, sagte Biene Schmidt in leisem Ton mit ängstlichem Blick zu Max, der sah, dass eine leichte Röte an ihrem Hals nach oben zog.
„Gut, Frau Schmidt, hört sich nicht sehr überzeugend an, aber…“, seufzte Max. „ Dann unterschreiben Sie bitte hier das Protokoll. Jetzt ist Frau März dran, dann Frau Maurer und danach ihr toller Hecht, der Leck-Hans.“
Biene Schmidt leistete ihre Unterschrift unter dem Protokoll und sagte beiläufig: „Da werden Sie wohl kein Glück haben. Die sind nicht hier und wie ich hörte, werden die wohl auch nicht kommen.“
„Weshalb nicht?“
„Ich sag nichts mehr, wollte es nur erwähnt haben.“
„Na gut, danke, dass Sie gekommen sind und informieren Sie mich bitte, wenn es Neuigkeiten gibt. Hier meine Karte.
Passen Sie gut auf sich auf und vergessen Sie am Ende nicht zu lächeln, Biene Schmidt“, war der Kommentar von Max, als er der Bardame seine Visitenkarte überreichte.
„Trotzdem, Kommissar Herbst. Sie geben mir die scheinbare Hoffnung, dass es vielleicht doch noch den einen oder anderen Mann gibt, der nicht so verkommen ist wie diejenigen, die ich so kenne. Vielleicht können wir uns ja einmal bei einer anderen, eher passenden Gelegenheit, treffen? Ich wäre nicht abgeneigt...Ciao, Herr Herbst. Jetzt gehe ich“, hauchte Biene Schmidt, deren volle Brüste unter dem T-Shirt wogten.
Die Bardame Biene ließ die Visitenkarte in ihrer Handtasche verschwinden, grüßte und stieß beim Verlassen des Büros fast mit dem zurückkommenden Toni Meyer zusammen.
„Ah, Toni, so geht es schon eher“, lobte Max Herbst seinen Auszubildenden. Anton Meyer trug eine passende, blaue Jeanshose, die ihm vorzüglich stand. Zwar platzten obenherum fast die Nähte des zu knappen Sakkos, aber das würde schon auch noch werden.
„Ist Ihre Rolex eigentlich echt?
„Nee, Herr Herbst, nur ein Blender. Hat einen Hunni gekostet, stammt aus Thailand.“
„Was fahren Sie für ein Auto, Toni?“
„Einen Porsche 356. Gut erhalten, hat in letzter Zeit aber ziemlich viele Macken. Er steht häufig in der Werkstatt. Ich nenne ihn den Roten Blitz.“
Entzückend, dachte Herbst, keine manierliche Hose über den Arsch, aber Porsche fahren.
„So, Toni, die Bardame habe ich eben vernommen. Die anderen, vorgeladenen Personen sind allesamt nicht gekommen. Es scheint eine Art Solidaritätsverweigerung zu sein.“
„Tja, dann haben wir wohl Pech gehabt“, kommentierte der Praktikant lapidar.
„Nein, Toni. Die holen wir uns noch. Ein Zeuge muss in einem bedeutenden Fall wie diesem aussagen. Weigert er sich, so kann er staatsanwaltschaftlich vorgeladen werden. Weigert er sich erneut, kann er mit Zwangsmitteln zur Vernehmung gebracht werden.“
„Ach so“, wunderte sich Toni, während er Max mit zusammengekniffenen Augen ansah.
„Toni, rufen Sie jetzt bitte bei der Einsatzabteilung der Bereitschaftspolizei in Alsterdorf an und ordern Sie für morgen Nacht einen Zug, also 30 Mann, Schutzpolizisten in Uniform. Sie sollen mit ihrem Tross zum Busbahnhof nach Blankenese fahren und sich um 23 Uhr bereit halten. Wir werden sie dort in Empfang nehmen. Der Club Marita erhält Besuch von uns.
Wir werden eine Razzia durchführen, damit Puff-Kalle seine Lektion lernt. Nennen Sie nicht den Einsatzort, denn Verrat lauert überall. Also, absolutes Schweigen in dieser Sache. Wenn die nicht freiwillig wollen, dann holen wir sie uns.
Ich werde zwischenzeitlich das Einverständnis der Staatsanwaltschaft einholen. Teilen Sie mir anschließend mit, ob wir mit der Verstärkung aus Alsterdorf rechnen können.“
„Mach ich, ich geh nach nebenan zum Telefonieren, dann stör ich nicht so.“
Eilfertig befolgte Toni Max Herbsts Anordnung.
„Okay, machen Sie das.“
Gibt’s doch nicht, fährt einen dicken Porsche und zieht mir einen Hunderter aus der Tasche, dachte Herbst. Jetzt musste er nur noch das Rätsel um diesen ominösen, humpelnden Behördenfreier lösen.
„Alles klar, hat geklappt“, rief Toni viel zu laut, als er nach vier Minuten wieder ins Büro stürmte.
„Ja, ja, hab ich gehört. Brüllen Sie doch nicht so. Diskretion ist angesagt“, flüsterte Herbst in Richtung Toni, der ihn verständnislos ansah.
„Toni, Sie können morgen wieder ausschlafen. Es wird eine lange Nacht werden und deshalb beginnen wir erst um vierzehn Uhr. Sehen Sie zu, dass Sie mehrere Groschen Kleingeld dabei haben. Eventuell benötigen Sie die zum Telefonieren in einer Telefonzelle. Man weiß ja nie. Für heute ist Feierabend angesagt. Ich sehe noch schnell einige Akten durch und gehe dann auch.“
„Klasse, passt mir gut“, und schon stürmte der Praktikant aus dem Zimmer.
Ich habe meinen Kopf heute eh nicht frei, gestand sich Herbst ein. Der zweite Todestag von Ina und Jonas machte ihm schwer zu schaffen. Scheiß Akten, ich gehe jetzt auch.
Er wählte die interne Rufnummer von Ines im Geschäftszimmer und informierte sie darüber, dass er den Dienst für heute beenden würde.
Max Herbst fuhr mit der U-Bahn nach Hause. Seine innere Unruhe wurde immer schlimmer. Er konnte keinen klaren Gedanken fassen.
Ina, Ina…Radio an, Radio aus. Fernseher an, Fernseher wieder aus. Er setzte sich auf den Balkon, sah in die Abendsonne und beobachtete mit starrem Blick die vorbeigehenden Passanten. Und diese Stille in der Wohnung… Einfach grässlich.
Sie kam ihm vor wie eine eiskalte Grabkammer, in der sich kein Leben mehr befand. Seine innere Unruhe steigerte sich von Minute zu Minute.
Gegen zweiundzwanzig Uhr hielt er die Totenstille nicht mehr aus und fuhr mit der U-Bahn zum Dammtorbahnhof. Er hörte die herannahende S-Bahn vom Hauptbahnhof kommen.
Max kraxelte langsam unter die Kennedybrücke und hockte sich an das Ufer der Außenalster. Es war exakt der Ort, an dem man vor genau zwei Jahren Inas Auto mit ihrer Leiche aus dem Wasser gezogen hatte.
Max Herbst sah auf die glatte Wasseroberfläche. Schemenhaft erkannte er im Schein einer Straßenlaterne sein Spiegelbild. Die Gesichtskontur war nur schwach erkennbar.
Er hob einen kleinen Stein auf und warf ihn ins Wasser. In dem Moment verflüchtigte sich das Bild. Nun steckte er seine Hand ins Wasser, fast so, als könne er seine Ina aus der Tiefe ziehen.
Nach einer Weile wurden seine Finger klamm und als er ein kribbelndes Gefühl verspürte, zog er die Hand aus der Außenalster.
Max lehnte sich an ein in der Nähe befindliches Geländer und sah in dem Strauchwerk unter einer mächtigen Trauerweide ein weißes Schwanenpärchen, das sich immer noch oder schon wieder das Federkleid putzte. Sie hatten hier tatsächlich ein ideales, lauschiges Plätzchen gefunden.
An dem gegenüberliegenden Ufer der Außenalster waren die hellen Scheinwerfer der fahrenden Autos zu erkennen. Deutlich konnte er das Fünf-Sterne-Hotel Atlantic erkennen. Es hatte eine eindrucksvolle Leuchtreklame mit dem hell erleuchteten, mächtigen Globus auf dem Dach.
Ein turtelndes Liebespärchen ging eng umschlungen im schwachen Licht der Straßenlaterne an ihm vorbei. Max sah ihnen gedankenverloren nach und konnte seine Tränen nicht länger zurückhalten.
Woher kommt das Böse? Niemand weiß es… Es gibt eben nicht für alles im Leben eine Antwort. Ich möchte doch nur etwas Ruhe und Geborgenheit finden, mehr nicht.
Weshalb ist mir das nicht vergönnt? Fluch und Segen scheinen miteinander verbandelt zu sein, geht wohl nicht anders.
Max Herbst wurde von einem Weinkrampf geschüttelt, führte den Zeige- und Mittelfinger der linken Hand an seine Lippen und formte einen Kuss, den er mit Abspreizen der Finger ins Wasser schnippte.
„Tschüs, ihr beiden, ich komme bald wieder“, waren seine letzten, flüsternden Worte an diesem Unglücksort.
Plötzlich spürte er eine ohnmächtige Wut auf den Raser, der Ina und Jonas auf dem Gewissen hatte. Zum hundertsten Mal spielte er mit dem Gedanken, den Mörder seiner Liebsten einer gerechten Strafe zuzuführen und ihn einfach abzuknipsen.
Dieser üble, gemeine Strolch hatte lediglich sechs Monate Freiheitsstrafe - ausgesetzt für drei Jahre zur Bewährung – bei dem Amtsgericht in Hamburg gefangen.
Ein Skandal…Dieser Mörder lief immer noch frei herum. Ein unerträglicher Zustand für Max, dessen gesamte Lebensplanung von einer Sekunde auf die andere zerstört worden war und ihm seine Liebsten genommen hatte.
Max wollte diesen Unmenschen seiner gerechten Strafe zuführen, nachdem die Justiz nicht dafür gesorgt hatte, dass Mihailovic den Knast nur im Leichensack verlassen würde.
Max musste einfach etwas tun. Nur was…? Ihm schoss ein Gedanke durch den Kopf. Vielleicht würde es nicht einfach, aber einen Versuch sollte es schon wert sein…
Es war schlechthin ein äußerst gewagtes Spiel, auf das er sich einlassen würde.
Eine nicht registrierte Pistole besorgen und ihn einfach umlegen? Oder sollte er seine Dienstpistole mit einer erfundenen Geschichte als gestohlen melden und den Typen dann wegballern? Er könnte eine Legende erfinden, wie die Pistole abhanden gekommen war. Notfalls würde er mit einem Disziplinarverfahren davon kommen, weil er die Pistole nicht sicher verwahrt hatte.
Aber das Problem wäre erledigt und er hätte seine Rachegelüste befriedigt. Max beschloss, die Sache anzugehen, sobald er das Tötungsdelikt zum Nachteil Sabrina ad acta legen konnte. Er war einfach fällig, dieser Bozko Mihailovic.
Max Herbst ging den gesamten Weg zu Fuß nach Hause. Es herrschte immer noch eine milde, angenehme Temperatur. Fröhliche und ausgelassene Passanten kamen ihm entgegen, während Max dicke Tränen vergoss.
Zu Hause griff Kriminalkommissar Herbst um Mitternacht nach einer Flasche Chivas Regal und leerte diese bis auf eine winzige Neige. Dann fiel er betrunken, von Alkohol und Wut benebelt, noch in Straßenkleidung ins Bett und kam erst um 11:00 Uhr am Mittwochvormittag wieder zu sich. Sein Kopf dröhnte wie ein Presslufthammer.
Max hatte unruhig geschlafen, er musste sich zwingen, wachsam zu bleiben. Der Tag würde wieder einmal anstrengend werden.