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Prozess von Memmingen
ОглавлениеDer Memminger Prozess fand von September 1988 bis Mai 1989 vor dem Landgericht Memmingen gegen den Arzt Horst Theißen wegen Schwangerschaftsabbruch statt. ...
Der Monster-Prozess von Memmingen, wo die Strafjustiz einen Frauenarzt und 156 Patientinnen wegen angeblicher Verstöße gegen den Paragraphen 218 verfolgt, erinnert Sozialdemokraten, Grüne und Liberale an die Zeiten von Hexenverfolgung und Inquisition. Mit abschreckenden Justizaktionen wollte die Münchner CSU-Regierung in Bayern eine Art Gebärzwang für Schwangere durchsetzen und die soziale Indikation mit Hilfe willfähriger Richter aushebeln.
Draußen tanzte eine buntscheckige Schar von Frauen aus der ganzen Bundesrepublik durch die mittelalterliche Stadt, von fremdartigen Rhythmen begleitet, mit Ketten um den Leib, mit ausgestopften Bäuchen, Christuskreuze hinter sich herschleifend. Alles Hexen?
Jedenfalls protestierten die rund 1700 Frauen, aufgerufen unter anderem von der SPD und den Grünen, gegen die "Hexenverfolgung von Memmingen" und gegen die in der Schwabenstadt praktizierte "moderne Inquisition", wie Bayerns damaliger SPD-Vorsitzender Rudolf Schöfberger befand.
Der Protest richtete sich gegen die Verfolgung Hunderter von Frauen, die in den letzten Jahren abgetrieben hatten, und gegen den damaligen Abtreibungsprozess gegen den Memminger Gynäkologen Horst Theissen.
Mehr als 150 verurteilte Frauen - diese Memminger Zwischenbilanz kam, angesichts der bayrischen Statistik, die für 1986 nur drei Verurteilungen von Frauen wegen Vergehen gegen den Paragraphen 218 ausweist, selbst dem Sprecher des bayrischen Justizministeriums merkwürdig vor. Das wirke, sagte Hans-Peter Huber, "schon etwas aufgebläht".
Die protestierenden Frauen sehen in den Memminger Massenverurteilungen ein "Exempel" und ein "Pilotprojekt", wie die Grünen-Landtagsabgeordnete Margarete Bause bei der Demonstration urteilte. Ursula Pausch-Gruber, Vorsitzende der bayrischen SPD-Frauen, hält den Prozess für die "Begleitmusik zu den gesetzgeberischen Vorhaben" der Bayern in Bonn, die FDP-Bundestagsabgeordnete Hildegard Hamm-Brücher spricht von "politisch motivierten Prozessen".
Durch die Prozesse und die Proteste ist Memmingen zum zentralen Austragungsort für eine neu entflammte Abtreibungsdiskussion geworden. Die Atmosphäre in dem Allgäu-Städtchen - 39 000 Einwohner, zwei Drittel Katholiken - erinnert Kritiker bereits an dunkle Stellen in der Stadtgeschichte, als noch die stramme und für viele Delinquenten tödliche "karolingische Halsgerichtsordnung" galt. Für leichtere Fälle stand im Rathaus ein hölzerner Pranger bereit, der vom Standgericht häufig und gerne gebraucht wurde.
Auch etliche Hexen und Hexer wurden in Memmingen verbrannt, wenn auch laut Heimatpfleger Uli Braun "nicht so epidemiehaft wie in Nördlingen oder Würzburg". Nach einer alten Chronik wurde am 25. April 1656 die letzte Hexe von Memmingen öffentlich mit dem Schwert gerichtet und den Flammen übergeben, weil sie "Menschen und Vieh Schaden zugefügt" hatte.
Das heutige Memmingen erscheint zumindest der Grünen-Stadträtin Jutta Kühlmuss als "sexualfeindliche Stadt". Die Frau hat Erfahrung: Es gab schrille Tumulte im Rathaus, als die Grüne während einer Marathonsitzung des Stadtrats im April 1985 ihrem Baby Moritz öffentlich die Brust gab. Das katholische Diözesanblatt zürnte ob der "frechen Schamverletzung", die sogleich der "wilden und provozierenden Nacktbaderei" zugeordnet wurde.(Am 10. September. )
Eine Möglichkeit zu legalem Schwangerschaftsabbruch gibt es in der Stadt nicht, ebenso wenig wie irgendwo sonst im Allgäu. Die Kliniken in Memmingen und Kempten, Füssen und Illertissen lehnen Eingriffe bei Notlagen-Indikation grundsätzlich ab. Die Frauen müssen in weit entfernte Krankenhäuser reisen, nach Augsburg oder nach München.
Wie aber soll, fragen sich viele in Bayern, eine Frau ihrer frommen Sippschaft oder ihrem Arbeitgeber erklären, dass sie mal eben für drei bis fünf Tage ins Krankenhaus muss? So hat es auch der jetzt angeklagte Frauenarzt Theissen gesehen: "Dann weiß in der ländlichen Umgebung jeder, was los ist. Davor hatten sie eine wahnsinnige Angst."
Häufig hatte Theissen es mit Frauen zu tun, deren Notlage bedrückend war – zum Beispiel mit einer 40jährigen türkischen Arbeiterin, die ihren Fall so schilderte: " Mein Mann hat noch keine Arbeitserlaubnis, weil er noch nicht so lange hier ist. Wir haben drei Töchter und leben von dem Geld, das ich verdiene. Ich arbeite Schicht in der Fabrik. Wenn ich nicht zu Hause bin, kümmert sich mein Mann nicht um die Kinder. Er hat sehr großes Heimweh und trinkt sehr viel. Manchmal telefoniert er für über hundert Mark in die Türkei, dann haben wir bis zum Monatsende kein Geld mehr. Als ich wieder schwanger wurde, bin ich zu Dr. Theissen gegangen. Ich habe nicht gedacht, dass das verboten ist, denn bei uns in der Türkei darf man offiziell bis zum dritten Monat abtreiben. Nach dem Koran ist es zwar Sünde, aber ich bin nicht so gläubig. Ich hätte dieses Kind auf keinen Fall kriegen können, denn dann hätte ich meine Arbeit aufgeben müssen. Wenn ich dann vom Sozialamt gelebt hätte, wäre ich sicher bald ausgewiesen worden. Wir wohnen in einer sehr kleinen Wohnung. Ich muss aber beim Ausländeramt nachweisen, dass die Wohnung für uns groß genug ist, sonst bekomme ich keine Aufenthaltsgenehmigung. Wenn ich jetzt noch ein Kind mehr hätte, müsste ich acht Quadratmeter mehr Wohnraum nachweisen. Das heißt, ich bräuchte eine neue Wohnung. Mit vier Kindern und einem Mann, der nicht arbeitet, ist es hier aber so gut wie unmöglich, eine Wohnung zu finden. "
Sicher ist, dass Theissen, was selbst seine Ankläger einräumen, in jedem einzelnen Fall medizinisch einwandfrei handelte. Er besaß uneingeschränktes Vertrauen und den Ruf absoluter Diskretion. "Der Arzt", so eine Kemptenerin, "war ein Verbündeter der Frauen, der sich auch nicht bereichert hat." Solcher Ärzte wird es in Bayern künftig womöglich noch häufiger bedürfen. In keinem anderen Bundesland wird der legale Schwangerschaftsabbruch so massiv erschwert wie im CSU-Freistaat. In keinem anderen Bundesland zielen Politiker so fanatisch auf eine völlige Abschaffung der Abtreibung wie im erzkonservativen Bayern.
Stimmung gegen den Paragraphen 218 machte etwa Edmund Stoiber, Straußens damaliger Staatskanzlei-Minister und späterer Ministerpräsident, der die "Morde an ungeborenen Kindern" und den "offensichtlichen Missbrauch der sozialen Indikation" anprangert. Stoiber pflichtete auch dem Fuldaer Bischof Johannes Dyba bei, der von einem "Kinder-Holocaust" gesprochen hatte.
In Bayern war, wie sonst nur noch in den damaligen CDU-regierten Baden-Württemberg, der legale Eingriff ausschließlich Kliniken vorbehalten - und auch dort nur bei stationärer Behandlung mit einer Verweildauer von mindestens vier Tagen möglich. Viele kommunale wie staatliche Krankenhäuser im Freistaat jedoch lehnen Schwangerschaftsabbrüche selbst bei medizinischer Indikation grundsätzlich ab. "Schon jetzt", stellte "Pro Familia" im Süden der Bundesrepublik fest, "gibt es in Bayern ganze Regionen, in denen ein legaler Schwangerschaftsabbruch nicht mehr möglich ist" - Voraussetzungen für einen allseits beklagten "Abtreibungstourismus" in liberalere Bundesländer, für den heimlichen Gang zu einem Dr. Theissen oder, wenn''s den nicht gibt, für den Weg zu einem Kurpfuscher, vulgo "Engelmacher".
"Eigentlich müsste", sagt "Pro Familia"-Landes-geschäftsführer Joachim von Baross, "die bayrische Landesregierung auf die Anklagebank": "Sie drängt hilfesuchende Frauen nicht nur in die Illegalität, sie sorgt auch dafür, dass sie wie Verbrecher vor Gericht gezerrt werden."
In Bayern beginnt das Spießrutenlaufen bereits bei der Beratung, die ohnehin auf staatlich genehmigte Stellen beschränkt ist. Die Berater dürfen keinerlei Adressen von hilfsbereiten Ärzten oder Kliniken hergeben. Vielmehr soll laut Regierungsdekret "klargestellt werden, dass der Abbruch die rechtswidrige Tötung eines Kindes darstellt"; nur "im besonders gelagerten Ausnahmefall" dürfe "auf Strafverfolgung verzichtet" werden.
Die Absicht ist unverkennbar: Die Frauen sollen sich wie Kriminelle fühlen - wie die Memminger Justizopfer, die fünf Jahre lang das Stigma einer Vorstrafe tragen müssen.
Das Wunschziel bayrischer Justizpolitik wird ebenso deutlich: Abschaffung der sozialen Indikation, Adoption statt Abtreibung. An dieser Vorgabe orientierten sich offenbar auch die Memminger Amtsrichter, die in allen Verurteilungsfällen die Möglichkeit zur Adoption unterstellt haben. Frauen sind, wie die alternative "Tageszeitung" kommentierte, "in Bayern zum Gebären verpflichtet". "Das Allgäu", kommentierte die damalige Bundesfamilienministerin Rita Süssmuth den Theissen-Prozess, "ist eine sehr katholische Gegend. Es herrscht allgemein die Meinung, dass es keine sozialen Indikationen geben darf."
Politisch verantwortlich für den Memminger Massenprozess eine Frau: die damalige bayrische Justizministerin Mathilde Berghofer-Weichner, damals 57. Die oft als "Schwarze Hilde" apostrophierte Katholikin hat eine steile politische Karriere hinter sich. Schon 1968 wurde die resolute Juristin stellvertretende CSU-Vorsitzende unter Franz Josef Strauß. Zwei Jahre später zog sie in den bayrischen Landtag ein, schon nach einer Legislaturperiode wurde sie als erste Frau in der Landesgeschichte ins Kabinett berufen - als Staatssekretärin im Kultusministerium.
Stets tritt die massige und überaus bayrisch wirkende Frau, die privat Orchideen züchtet und bemalte Eier sammelt, für das "Bollwerk Bayern" ein. So kämpft sie dagegen, "dass Bayern eines Tages ein Türkenstaat wird", oder sie fordert, die Namen von Kirchenabtrünnigen im Kirchenblatt zu veröffentlichen: "Man will doch wissen, wer dazugehört."
Die Bescheinigung, "ihren Mann zu stehen", empfindet das Mannweib in Straußens Männerkabinett als "das höchste Kompliment". Neue Gelegenheit, sich zu bewähren, bekam sie, als sie im Oktober 1986 zur Justizministerin berufen wurde. Sie wies ihre Beamten an, gesetzgeberische Maßnahmen zur Verhütung einer "Abtreibungspille" zu prüfen, die noch gar nicht im Handel ist.
Die Abtreibungsdebatte hatte die kinderlose Witwe bei Amtsantritt zunächst für eine "ausgestandene Sache" gehalten. Da musste sie inzwischen umdenken. Es gab sie in Landshut vor dem Arbeitskreis "Juristen in der CSU" die Anweisung aus, doch "zu schauen", wie man die Abtreibungsregelung "so gestalten kann, dass sie nicht in diesem Maße unterlaufen und missbraucht werden kann".
Unter den Zuhörern war Landshuts Landgerichtspräsident Fritz Anders, ein Mann, der wie kaum ein anderer das repressive Klima in Straußens Südstaat repräsentiert. Bereits 1986 äußerte sich Anders auf eine Weise zur Abtreibungsproblematik, die einen Schwabenstreich wie in Memmingen auch anderswo in Bayern möglich erscheinen lässt: Öffentlich erörterte Anders, obschon sonst "kein Befürworter der Todesstrafe", deren Einführung im Zusammenhang mit der Abtreibung.
Der niederbayrische Chef-Richter, nebenher auch Vizepräsident der Landessynode der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern, forderte, der Freistaat dürfe sich mit der derzeitigen Abtreibungspraxis "nicht abfinden". Alle gesellschaftlichen Gruppen, so Anders, seien "aufgerufen, täglich neu Sturm zu laufen gegen das Unrecht, das um uns herum geschieht". Artikel 47 der bayrischen Verfassung gehe nach wie vor von einem "Weiterbestehen der Todesstrafe" aus. Nun, dass wurde mittlerweile geändert.
Todesstrafe auf Abtreibung hatte es zuletzt unter dem Massenmörder Adolf Hitler gegeben, der den Paragraphen 218 im Jahre 1943 für Fälle verschärfte, in denen der Abtreibende "die Lebenskraft des deutschen Volkes fortgesetzt beeinträchtigt". Einer der leidenschaftlichsten Abtreibungsgegner im Freistaat ist der Münchner Nervenarzt Ernst Theo Mayer, CSU-Mitglied und Vorstandsmitglied der Bayerischen Landesärztekammer. Auf Ärztetagungen pflegt er seine Kollegen zur "Kratzdienstverweigerung" aufzurufen und den Frauen jede eigene Entscheidungsbefugnis abzusprechen: "Ihr Bauch gehört ihnen zwar, aber was bei einer Schwangerschaft auch noch in dem Bauch ist, das gehört ihnen nicht."
Mayer ist Mitglied einer in Ulm residierenden "Europäischen Ärzteaktion", die gegen die "Embryonenkiller einer sozialistisch-liberalistischen Konsumgesellschaft" Front macht und die Finanzierung der "sozialen Hinrichtung ungeborener Kinder" aus öffentlichen Kassen und Krankenkassen für verfassungswidrig hält.
Tatsächlich wurden in der alten Bundesrepublik jährlich 200 000 Schwangerschaftsabbrüche von Krankenkassen verrechnet. Hinzu kommen nach einer noch unveröffentlichten Studie des Freiburger Max-Planck-Instituts für ausländisches und internationales Strafrecht mindestens noch 100 000 Frauen pro Jahr, die abtreiben, ohne den Instanzenweg einzuhalten. Auf jährlich 15 000 wird die Zahl jener Frauen geschätzt, die den Eingriff im Ausland vornehmen lassen.
Nur 88 540 Schwangerschaftsabbrüche wurden 1987 an das Statistische Bundesamt gemeldet. Die weitaus meisten Fälle kamen aus Hessen und Nordrhein-Westfalen - Aufnahmeländer für Frauen, denen anderswo nicht oder nur unter erschwerten Umständen geholfen wird.
Mittels "wallraffmäßiger Recherchen" hat Strauß-Gefolgsmann Mayer herausgefunden, dass zum Beispiel 1984 statt der 5011 statistisch erfassten Abbrüche in Wahrheit mehr als 30 000 Abtreibungen, getarnt durch unverdächtige Befunde, von bayrischen Ärzten vorgenommen wurden.
Staatsminister Edmund Stoiber, der spätere Ministerpräsident, wollte die hohen Dunkelziffern, die freilich auch die Wirkungslosigkeit des Strafrechtsparagraphen 218 belegen, dazu nutzen, die Ärzte an die Kandare zu nehmen. Mit Leistungsverweigerung durch die Kassen und verschärften Strafbestimmungen will Stoiber die Ärzte zur Ehrlichkeit zwingen - oder zum Verzicht auf Abtreibungen. Stoiber scheut dabei auch nicht vor einem weiteren jener Alleingänge Bayerns zurück, wie sie die CSU auf vielen innenpolitischen Feldern sucht. In einem Streitgespräch mit Rita Süssmuth nahm Stoiber sogar einen Bruch mit der CDU in Kauf: "Dann müssen halt die im Norden ihr eigenes Wahlprogramm auflegen."
Zwar hielt auch Stoiber eine Änderung des Paragraphen 218 bei den gegenwärtigen Mehrheitsverhältnissen nicht für möglich, er baut aber auf eine zunehmende "Bewusstseinsänderung in der Bevölkerung". Die soll offenbar durch Prozesse wie in Memmingen beschleunigt werden - mit einer auf schiere Abschreckung angelegten Justizstrategie.
Die 1. Strafkammer am Landgericht - mit fünf Männern schon bedrohlich besetzt - hat nicht weniger als 32 Verhandlungstage anberaumt. Erst am 17. Februar soll nach bisheriger Planung das Urteil über den Ketzer in Weiß gesprochen werden - so lange dauern selbst Mordprozesse selten.
Worauf das Spektakel hinauslaufen soll, ist offenkundig. Nicht, ob der damals einzige Frauenarzt am Ort die soziale Indikation im Einzelfall vielleicht auch einmal zu Unrecht angenommen hat, steht im Vordergrund des juristischen Interesses. Die wahre Funktion des Justizschauspiels liegt in dem Versuch, die im Paragraphen 218 a fixierte Notlagen-Indikation auf dem Umweg über die Rechtsprechung auszuhöhlen oder gar abzuschaffen.
Die bayrische Grünen-Abgeordnete Bause ist überzeugt, diese Marschrichtung für das Memminger Gericht sei von oben verordnet - vom bayrischen Staatsministerium der Justiz. Tatsächlich hätte schon die Anklagebehörde die Möglichkeit gehabt, eine Vielzahl der aufwendig zusammengekratzten Fälle gar nicht erst zur Anklage zu bringen.
Ausdrücklich lässt die Strafprozessordnung eine solche Begrenzung des Prozessstoffs zu - gerade auch, um überflüssige Großverfahren zu vermeiden. Doch für die Memminger Staatsanwälte mussten es immer noch 156 Fälle sein, die sich dem Gynäkologen heute noch vorwerfen lassen, offenbar damit das Spektakel richtig rund wird und auch zur erwünschten saftigen Strafe führt.
"Die Höhe der zu erwartenden Strafe" war schon im letzten Herbst für den Haftrichter der Grund, den bis dahin unbescholtenen Frauenarzt wie einen Schwerverbrecher für sechs Wochen hinter Gitter zu bringen. Länger allerdings ließ sich die Meinung, der Arzt - verheiratet, zwei Kinder - würde womöglich fliehen und sich ins Ausland absetzen, selbst in der bayrischen Justiz nicht mehr aufrechterhalten; er bekam Haftverschonung.
Die 156 Fälle angeblich illegaler Abtreibung soll Theissen zwischen Dezember 1981 und März 1987 vorgenommen haben. Im Schnitt habe er pro Eingriff 400 Mark kassiert. In keinem einzigen dieser Fälle habe eine Indikation zum erlaubten Eingriff vorgelegen.
Alle diese Frauen, denen der Arzt geholfen hat, sind ohne Verschlüsselung mit Namen und Vornamen in der Anklageschrift säuberlich aufgelistet. Der Prozess dürfte sie alle noch einmal an den Pranger bringen. Auch wenn in einigen Verfahrensabschnitten Neugierige nicht in den Zuschauerraum dürfen, müssen die Frauen ihre Anonymität preisgeben und abermals Details aus ihrer Intimsphäre offenlegen - eine moderne Spielart der Inquisition.
Die Anklageschrift liest sich, als hätten ihre Verfasser sich vor lauter Verfolgungsfreude die Hände gerieben. Aufgeführt werden auch Vorwürfe, die dem Gynäkologen gar nicht vorgehalten werden dürfen: "Der Angeschuldigte hat bereits in verjährter Zeit eine Vielzahl von illegalen Schwangerschaftsabbrüchen gegen Entgelt vorgenommen."
Sonnenklar jedenfalls für die Ankläger: Der Memminger Frauenarzt hat gewerbsmäßig gehandelt, damit sei "jeweils ein besonders schwerer Fall gegeben", der Strafrahmen reicht bis zu 15 Jahren Freiheitsentzug. Damit nicht genug: "Die Verhängung eines Berufsverbots wird erforderlich sein."
Ausgelöst wurde die Strafverfolgungslawine durch eine anonyme Anzeige bei der Steuerfahndung in Kempten. Der oder die Unbekannte hatte - womöglich unter Bruch des Steuergeheimnisses - mitgeteilt, Theissen habe Einkünfte aus Schwangerschaftsabbrüchen bei seiner Einkommensteuererklärung nicht angegeben. Im Herbst 1986 nahm das Finanzamt Memmingen seine Ermittlungen auf.
Am 24. September erließ das Amtsgericht einen Durchsuchungsbeschluss, tags darauf wurden Wohnung und Praxis des Arztes durchwühlt und Karteikarten von 1390 Patientinnen aus der Zeit seit Anfang 1977 beschlagnahmt.
Drei Wochen lang fingerte Oberamtsrat Knobelspies von der Steuerfahndung sämtliche ärztlichen Aufzeichnungen durch. Dann schrieb Knobelspies an den Staatsanwalt und bat, das Verfahren "hinsichtlich des Verdachts illegaler Schwangerschaftsabbrüche zu übernehmen".
Bei Staatsanwalt Herbert Krause, kam Knobelspies an die richtige Adresse. Der Ankläger beantragte, die beim Finanzamt zwischengelagerte Patientenkartei für sein Strafverfahren zu beschlagnahmen. Ein Memminger Amtsrichter erließ prompt den erwünschten Beschluss - offenbar ohne rechtliche Skrupel.
Von diesem Zeitpunkt an liefen die Ermittlungen nicht mehr nur gegen den Frauenarzt, sondern auch gegen Hunderte seiner Patientinnen. Im Mai und September 1987 wurden die Theissen-Praxisräume abermals durchsucht und Karteikarten über 201 weitere Patientinnen beschlagnahmt.
Eingeleitet wurden schließlich Strafverfahren gegen 279 Patientinnen und 78 ihrer Ehemänner, Freunde oder Bekannten - wegen Verdachts der illegalen Abtreibung oder hierzu geleisteter Beihilfe. Unbehelligt blieben nur Partner, die ihre Gefährtinnen im Stich gelassen und oft gerade damit, so die Rechtsanwältin Brigitte Hörster, "die Notlagensituation der Frauen verschärft" hatten.
Bis zur Prozesseröffnung wurden gegen 174 Frauen Geldstrafen zwischen 900 und 3200 Mark verhängt - per Strafbefehl. Das ersparte ihnen zwar in eigener Sache fürs erste die Peinlichkeit einer öffentlichen Hauptverhandlung vor Gericht, doch schon 129 Frauen sind auf diese Weise zu Vorbestraften geworden. 45 Verurteilte haben gegen ihren Strafbefehl Einspruch erhoben, die meisten davon ohne Erfolg, zwei Frauen kamen mit einem Freispruch davon. Die meisten Frauen hatten den gegen sie ergangenen Strafbefehl rechtskräftig werden lassen - nicht, weil sie die Verurteilung als Recht akzeptierten, sondern weil sie jedes weitere öffentliche Aufsehen und jeden erneuten Einbruch in ihre Privatsphäre mehr fürchteten als eine Verurteilung und ihre Eintragung im Strafregister.
Die Memminger Justizpraxis, konstatierte die SPD-Landtagsabgeordnete Hedda Jungfer, "ist beispiellos in der Geschichte der Kriminalisierung von Frauen seit der Reform des Paragraphen 218". In der Tat: Anderswo stellen Staatsanwälte derlei Ermittlungsverfahren - falls es überhaupt dazu kommt - in der Regel wegen geringer Schuld und mangelndes öffentliches Interesse ein.
Viele Juristen sehen in der Situation unfreiwillig schwanger gewordener Frauen geradezu den Musterfall für die Anwendung jenes Paragraphen 153 der Strafprozessordnung, der die Einstellung eines Ermittlungsverfahrens wegen geringfügigen Verschuldens ermöglicht.
So gab es in Rheinland-Pfalz 1985 überhaupt keine Verfahren wegen Abtreibung, 1986 eins und 1987 zwei, von denen eines eingestellt wurde. Zurzeit ist in Koblenz ein einschlägiges Ermittlungsverfahren gegen einen Arzt anhängig, der 1440 Abtreibungen vorgenommen haben soll. Gegen keine der betroffenen Frauen wird auch nur ermittelt.
In Hessen liefen 1985 sechs Ermittlungsverfahren, 1986 vier und 1987 fünf - in der Mehrzahl gegen Ärzte. Alle Verfahren wurden eingestellt. In Schleswig-Holstein gab es in den letzten drei Jahren nur zwei Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts auf illegalen Schwangerschaftsabbruch, im Saarland fünf. Alle endeten mit Einstellung.
In West-Berlin werden solche Ermittlungsverfahren amtlich gar nicht erst gezählt. Verurteilungen in den letzten drei Jahren: null.
In Nordrhein-Westfalen kamen 1985 bis 1987 insgesamt 14 einschlägige Verfahren bis vor Gericht. Acht wurden eingestellt, drei endeten mit Freispruch, zwei mit einer Geldstrafe und eines mit einem Zuchtmittel nach dem Jugendgerichtsgesetz. Baden-Württemberg führt keine speziellen Statistiken über Abtreibungsverfahren - pro Jahr gibt es dort etwa eine Verurteilung.
Ganz anders war die Gangart in Memmingen. Was immer dort gegen die Frauen und ihren Arzt an Ermittlungsergebnissen zusammengetragen und den Beschuldigten vor Gericht jetzt vorgehalten wurde, geht auf eine einzige Quelle zurück – die Patientenkartei des Doktor Theissen. Auch alle späteren Ergebnisse aus den Vernehmungen der Frauen, der Praxishilfen und des angeklagten Gynäkologen beruhen letztlich auf Vorhalten, die ihrerseits aus den Notizen in der Arztkartei abgeleitet sind.
Dieser Umstand könnte bewirken, dass alle Strafurteile im Umfeld des Theissen-Falles hinfällig werden, weil die Art und Weise der Beweismaterialbeschaffung womöglich unzulässig war.
"Es ging hier nicht um die Durchsuchung einer Tankstelle oder eines Gemüseladens", argumentiert der Frankfurter Strafverteidiger und Theissen-Anwalt Sebastian Cobler. War die Beschaffung der Beweismittel unzulässig, weil sie gegen verfassungsrechtlich geschützte Grundrechte von Beteiligten verstieß, dürfen die Beweise nicht verwertet werden.
Die Patientenkartei jedes Arztes und insbesondere die eines Gynäkologen enthält sensible Daten aus dem Persönlichkeits- und Intimbereich von Patienten. Was dem Arzt von seinen Patienten anvertraut wird oder was er aufgrund seiner ärztlichen Tätigkeit erfährt, ist grundsätzlich gegenüber Dritten geschützt, weil anders ein Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patient - Grundlage jeder Beratung und Behandlung - nicht herstellbar ist.
Eingriffe von Staatsorganen in diesen Schutzbereich sind nur dann rechtmäßig, wenn die Schwere der angenommenen Straftat und der Bruch des Arztgeheimnisses in einem vertretbaren Verhältnis stehen. Keineswegs müssen oder dürfen alle Straftaten um jeden Preis aufgeklärt werden. Im Gegenteil: Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, der einer Strafverfolgung im Einzelfall durchaus Grenzen setzen kann, hat seinerseits Verfassungsrang.
Im Theissen-Fall ging es zunächst nur um den - anonym geäußerten - Verdacht der Steuerhinterziehung, mithin keineswegs um ein Kapitalverbrechen. Er richtete sich nur gegen den Arzt, nicht aber gegen dessen Patientinnen.
Diesem Verdacht hätte die Justiz pflichtgemäß nachgehen können und müssen, ohne dabei in eine Patientenkartei mit sensiblen Daten Dritter einzubrechen. Eine steuerliche Betriebsprüfung hätte womöglich schon ausgereicht oder, wie Verteidiger Cobler meint, die Kontaktaufnahme des Finanzamts mit dem Steuerberater des Arztes, um ihm zunächst eine - strafbefreiende - Selbstanzeige wegen Steuerverkürzung zu ermöglichen.
Den Antrag der Theissen-Verteidiger, das Verfahren einzustellen, weil die Beschlagnahme der Patientenkartei verfassungswidrig und die Beweismittel deshalb unverwertbar seien, hat die Memminger Strafkammer schon am zweiten Verhandlungstag zurückgewiesen. Die bayrischen Richter der ersten Instanz wollen sich das so spektakulär gestartete Verfahren nicht mehr aus den Händen winden lassen.
Ob ihr Urteil aber auch in der Revisionsinstanz noch Bestand haben wird, scheint zweifelhaft. In einem vergleichbaren Fall hat das Bundesverfassungsgericht 1977 die Beschlagnahme der Klientenkartei einer Aachener Drogenberatungsstelle für verfassungswidrig erklärt, weil es in dieser Art der Beweisbeschaffung zur Überführung von Drogentätern einen Verstoß gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit sah.
Wahrscheinlich müssen viele der Frauen, die mit dem Strafbefehl das Juristengezerre um ihre Zwangslage endlich hinter sich glaubten, im Theissen-Prozess nun doch noch vor Gericht - als Zeuginnen. Soweit ihre eigenen Verfahren bereits rechtskräftig abgeschlossen sind, haben sie ihr Recht eingebüßt, die Aussage zu Tatgeschehen und Hintergrund zu verweigern.
Albert Barner, damals 60, der Vorsitzende Richter der 1. Strafkammer, hat diesen Frauen mit "beiliegendem Freikuvert" für die Antworten einen Fragebogen von zehn Seiten Länge zugeschickt, "um Ihnen die mit einer Befragung in einer öffentlichen Hauptverhandlung verbundenen Unannehmlichkeiten nach Möglichkeit zu ersparen".
Was so rücksichtsvoll intoniert scheint, wird sich in Wahrheit zur womöglich schlimmsten Tortur für die betroffenen Frauen auswachsen. Schon die schriftlichen Fragen sparen kein intimes Detail aus.
Im Anschreiben zu der monströsen Liste von weit über hundert Fragen, die "binnen 14 Tagen" zu beantworten waren, mahnt der Richter "rein vorsorglich", dass sich die Betroffenen schon bei unvollständiger Beantwortung strafbar machen könnten.
Zu beantworten waren nicht nur Fragen nach eigenem Einkommen ("Bescheinigung über Lohn, Gehalt, Rente oder Arbeitslosenunterstützung beifügen") und Vermögen ("Sparguthaben, Grundbesitz, Aktien u.a."), sondern auch gleiche Fragen zu "Ehemann/Partner", "Erzeuger", "Kindern" und "Eltern" - jeweils "bitte Bescheinigungen beifügen".
Den Richter interessierten Schulden-Ursachen wie Gesundheitszustände, Vertrauenspersonen beim Arbeitgeber, Wohnungsgröße und Beziehungsdauer, Hausärzte alle nahen Verwandten und Betreuungsmöglichkeiten "durch Geschwister oder Freunde", am meisten aber die Frage, ob denn die Zeuginnen bereit sind, Ärzte und Schwangerschaftsberater von der Schweigepflicht zu entbinden. Und: "Durch wen wurde die Zeugin darauf hingewiesen, dass Dr. Theissen möglicherweise einen Schwangerschaftsabbruch vornehmen werde?"
Frauen, die sich weigern, bei dieser Ausforschung ihrer Privatsphäre mitzuwirken, drohte Richter Barner unverhüllt: Wer eine Frage auch nur teilweise unrichtig oder unvollständig "zum Vorteil von Herrn Dr. Theissen" beantworten sollte, könne sich ein neues Strafverfahren - diesmal wegen Strafvereitelung - einhandeln.
Aber auch wer alle Fragen beantwortet, muss mit der Vorladung in den Zeugenstand rechnen. Denn jede Aussage, die von früheren Bekundungen im Vorverfahren abweicht, wird entweder Ankläger oder Verteidiger zur Vorladung dieser Zeugin veranlassen, je nachdem, ob nun die Abweichung im Einzelfall zugunsten oder zu Lasten von Dr. Theissen ausfällt - praktisch also in jedem Fall. Auch wenn nur der Staatsanwalt oder nur der Verteidiger auf der Zeugenvernehmung besteht, muss die Zeugin mündlich vernommen werden.
Entscheidend für den Prozessausgang ist die Frage, ob in den angeklagten Fällen eine Indikationslage gegeben war oder nicht. Die Ankläger sagen nein, der beschuldigte Frauenarzt sagt ja. Also muss - wenn schon, denn schon – peinlich genau Beweis erhoben werden.
Dass die meisten der betroffenen Frauen bereits mit der Begründung rechtskräftig verurteilt worden sind, eine Indikation zum Schwangerschaftsabbruch habe nicht vorgelegen, bindet die Theissen-Strafkammer nicht. Die Richter können jeden Fall nun auch anders bewerten.
Der Gynäkologe räumt ein, was nicht zu bestreiten ist: Er habe die Schwangerschaftsabbrüche ambulant vorgenommen, was nach den einschlägigen bayrischen Bestimmungen nicht sein darf. Er habe sich, sagt Theissen, stets davon leiten lassen, was für seine Patientinnen am wenigsten schädlich sei. Er verwies auf die jedenfalls außerhalb Bayerns medizinisch unumstrittene Erkenntnis, dass die auch von ihm angewandte Absaugmethode weit schonender für die Patientinnen ist als die in bayrischen Kliniken praktizierte Ausschabung.
Bis Ende 1980 hat Theissen in seiner Praxis legal ambulant abgetrieben, gestützt auf eine Bescheinigung der Kassenärztlichen Vereinigung. Dann wurden in Bayern und Baden-Württemberg ambulante Eingriffe verboten. "Ich habe mich gefragt", so Theissen, "war das nun falsch, was vor 1980 war?" Viele Frauen hätten ihm gesagt, sie fühlten sich besser aufgehoben, wenn "alles in einer Hand liegt".
Jede der Frauen, die von ihm Hilfe wollten, habe er darauf hingewiesen, dass sie nach der Gesetzeslage vor dem Abbruch der Schwangerschaft erst eine Beratungsstelle aufsuchen müsse. "Sie wollten davon aber nichts wissen", schilderte Theissen die Situation vor Gericht, "sie wollten ihre Geschichte nicht immer wieder jemand anderem erzählen müssen."
Zu jedem Einzelfall habe er sich ausführlich über die Problemlage seiner Patientinnen unterrichtet, in etwa zehn Prozent aller Fälle den Eingriff auch abgelehnt. Auf den Gedanken jedenfalls, dass die von ihm gestellte Indikation einer möglichen Nachprüfung nicht standhalten könnte, sei er in keinem Fall gekommen. Eine Abtreibung ist - außer in den Fällen einer medizinischen, ethischen oder eugenischen Indikation - dann nicht strafbar, wenn "der Abbruch der Schwangerschaft angezeigt ist, um von der Schwangeren die Gefahr einer Notlage abzuwenden, die so schwer wiegt, dass von der Schwangeren die Fortsetzung der Schwangerschaft nicht verlangt werden kann und nicht auf eine andere für die Schwangere zumutbare Weise abgewendet werden kann" (Paragraph 218a).
An der Interpretation dieser Norm scheiden sich die Ansichten von Juristen in Bayern und anderswo. Was die Memminger Richter aus dem Gesetzestext herauslesen werden, wird nicht nur die Zukunft des angeklagten Gynäkologen und seiner Patientenschaft bestimmen. Es kann - ein rechtskräftiges Urteil vorausgesetzt – das gesellschaftliche Klima der Republik beeinflussen.
Die Anklageschrift führt den Fall einer 21jährigen auf, die nicht gewusst habe, "was eine Indikation überhaupt gewesen sei". Schlussfolgerung des Staatsanwalts: keine Indikationslage. Eine andere, verheiratete Frau habe innerhalb von 15 Monaten drei Schwangerschaftsabbrüche vornehmen lassen. Staatsanwalt Krause: "Daraus ist zu schließen, dass in diesem Fall die Schwangerschaftsabbrüche offenbar als Familienplanungsmethode betrachtet wurden." Das moralische Unwerturteil des Allgäuer Anklägers soll offenbar die Aufhellung der psychischen Gegebenheiten des Einzelfalls entbehrlich machen. Juristen-Kurzschluss: Derlei Abbrüche sind illegal.
Die Memminger Richter mussten sich entscheiden, ob sie der Leitlinie ihres Bayerischen Obersten Landesgerichts zur Notlagen-Indikation aus dem Jahre 1978 folgen oder selbst im Allgäu zur Kenntnis nehmen wollen, was der Bundesgerichtshof in Karlsruhe 1985 in einer ausgewogenen und differenzierenden Entscheidung zur Sache judiziert hat.
Bayerns oberste Richter hatten vor zehn Jahren die "Voraussetzungen einer Notlagenindikation" bemerkenswert schlicht umrissen: "Eine Heranziehung der Eltern und des Arbeitgebers der Schwangeren sowie von öffentlichen oder privaten Sozialeinrichtungen zur Überprüfung der Frage, welche Nachteile der Schwangeren bei einer Austragung der Schwangerschaft drohen würden und wie man diese abwenden oder wenigstens auf ein zumutbares Maß herabsetzen könnte ... ist in der Regel unumgänglich." Die Münchner Oberrichter legten schon damals besonderes Gewicht auf die Fragestellung, "weshalb schließlich der Schwangeren nicht zumutbar sein sollte, das Kind wenigstens zeitweise Dritten anzuvertrauen".
Alle Anzeichen deuten darauf hin, dass auch die Memminger Justiz der schwarzen Linie ihrer Münchner Oberinstanz folgt. Damit allerdings könnten die Theissen-Richter in Karlsruhe gründlich auflaufen. Über eine Revision gegen ihr Urteil werden nicht bayrische Richter entscheiden, sondern der Bundesgerichtshof (BGH), vielleicht gar das Verfassungsgericht.
Im Juli 1985 hatte der BGH in seiner Grundsatzentscheidung festgelegt, dass es bei der Frage der Indikation letztlich immer auf die "ärztliche Erkenntnis" ankommen müsse, die nicht von Juristen ersetzt werden dürfe. Zwar betraf das BGH-Urteil einen Zivilrechtsfall und wurde vom 6. Zivilsenat entschieden. Seine Kriterien aber haben auch für die Strafrechtsproblematik Geltung.
Es komme "auf den Entscheidungskonflikt der schwangeren Frau im Zeitpunkt des Eingriffs an", so die Karlsruher Richter, und dabei sei auch die "psychische und physische Verfassung" maßgeblich: "Die Feststellung darüber, dass die Voraussetzungen für einen Schwangerschaftsabbruch vorliegen, ist das Ergebnis dieses vertraulichen Arztgespräches, bei dem es nicht nur um die wirtschaftliche und soziale Lage der Schwangeren, sondern auch um die Aufklärung der Schwangeren über die medizinischen Aspekte des Eingriffs und um die Erfassung und Bewertung der körperlichen und seelischen Belastung der Schwangeren durch die Schwangerschaft sowie um die Aussicht geht, das Kind unter den derzeit gegebenen und für die Zukunft vorauszusetzenden Umständen auszutragen und großzuziehen und dabei seinen Belangen gerecht zu werden. Weil die Erfassung und Bewertung aller dafür bedeutsamen Umstände letztlich auch bei der Notlagenindikation ärztliche Erkenntnisse und Erfahrungen verlangt, stellt 218 a StGB ausdrücklich darauf ab, dass die Voraussetzungen für einen erlaubten Schwangerschaftsabbruch "nach ärztlicher Erkenntnis" vorliegen müssen. Nach denselben Grundsätzen hat der Arzt, der den Schwangerschaftsabbruch durchführt, zu beurteilen, ob eine Notlagenindikation besteht. Ihm obliegt die letzte, eigenverantwortliche Entscheidung darüber. Auf seine "ärztliche Erkenntnis" kommt es an, die er an den zum Schutze des werdenden Lebens strengen Voraussetzungen des 218 a StGB auszurichten hat. Von eindeutigen Fallgestaltungen abgesehen, stände es auch im Widerspruch zu der vom Gesetz dem Arzt übertragenen Aufgabe, wenn die Gerichte ohne genaue Kenntnis auch der medizinisch relevanten Umstände ihre Beurteilung an die Stelle der des abbrechenden Arztes setzen könnten."
Ob womöglich eine Notlagen-Indikation in Wahrheit nicht vorlag, obwohl der Arzt sie vor seinem Eingriff bejaht hatte - das dürfe ein Gericht, so der Leitsatz der einschlägigen BGH-Entscheidung, in aller Regel "nicht ohne sachverständige Beratung durch einen Arzt feststellen".
Bezogen auf den Memminger Prozess heißt das: In allen 156 Fällen, die dem Gynäkologen vorgeworfen werden, müssten nun medizinische Sachverständige benannt werden, die aufs gründlichste die betroffenen Frauen explorieren, den angeklagten Arzt anhören und sich dann in der Hauptverhandlung den Fragen der Richter, Ankläger und Verteidiger zu stellen haben.
Bis zum Urteil kann es dann, wenn die Memminger so weitermachen, wie sie das Verfahrensspektakel aufgezogen haben, noch Jahre dauern. Schon jetzt hat die psychische Belastung vieler beteiligter Frauen ein unmenschliches Maß angenommen.
Rechtsanwältin Heike Gall-Alberth berichtet, für eine ihrer Mandantinnen habe sich "die Lage so zugespitzt, dass sie sich umbringen wollte": "Die Vorstellung, vor Gericht als Zeugin aussagen zu müssen und dann erkannt zu werden, erschien ihr so furchtbar, dass sie regelrecht durchdrehte."