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Kindheit
Оглавление1884 wurde ein prächtiges, fünfstöckiges Stadthaus in der Gluckgasse 3 erbaut, einer eleganten Straße in unmittelbarer Nähe des Neumarktes im Herzen des ersten Wiener Bezirkes. Kurz nach dessen Fertigstellung erwarb Alexander Bauer das Haus und teilte es in großzügige Wohnungen auf, nur eine auf jeder Etage. Ab 1890 vermietete er die oberste Wohnung an die Schrödingers. Durch die vorderen Fenster schaute man über die Ziegeldächer auf die gezackte, gotische Turmspitze und auf die Hochschiffstreben der Domkirche St. Stephan. Bis 1921, ein Jahr vor dem Tode von Erwins Mutter, sollte dies ihre Wiener Adresse bleiben.
Das Leben in den späten Jahren des Habsburger Reiches war angenehm und gemütlich für jene, die über ein hinreichendes Einkommen verfügten. Politischer Freiraum war nicht notwendigerweise zwingend für dieses angenehme Leben und dessen Nichtvorhandensein beunruhigte die einfachen Staatsbürger weniger, obwohl sich schon eine gewisse Unzufriedenheit bei den untertänigen Völkern in den entfernteren Gegenden des Kaiserreichs auszubreiten begann. Nach den Worten des Sozialisten Viktor Adler war die Regierungsform „ein durch Schlamperei geschwächter Despotismus“. Immer wenn irgendetwas schief lief, wurden jüdische Verschwörungstheorien bemüht – der endemische Antisemitismus war hilfreich, soziale und religiöse Bedürfnisse zu befriedigen.
Abbildung 2: Erwin mit Tante Emily (Minnie) Bauer (1893)
Erwins Kindheit verlief infolge des Nichtvorhandenseins von Geschwistern und der Obhut der Tanten ein wenig anders, als in einer typischen wohlhabenden Wiener Familie üblich. Vereinzelte Überlieferungen verdanken wir seiner Tante Minnie. Sie war 14 Jahre älter als Erwin, aber sie waren großartige Gefährten. Er lernte von Minnie Englisch sprechen, noch bevor er richtig Deutsch konnte. Sie brachte ihm aus England ein Buch mit biblischen Geschichten mit, die ihn zwar nicht besonders beeindruckten, aber es waren seine ersten englischen Lesestücke. Noch bevor er lesen oder schreiben konnte, „führte er Buch“, indem er Minnie die täglichen Ereignisse diktierte. Er behielt die Angewohnheit, ein Tagebuch zu führen, sein Leben lang bei. Die späteren Bücher namens Ephemeridae enthielten alles außer wissenschaftlichen Überlegungen. Er muss davon ausgegangen sein, dass die Wissenschaft eine bestimmte Beständigkeit besaß, während alles andere vergänglich war. 1891 beschreibt er in einer seiner frühesten Aufzeichnungen, wie Tante Emmy zur Abendzeit ein gutes Abendessen bereite „und dann sprachen wir über alles, was die Welt betraf.“ Minnie erinnerte sich an diese Abende: „Trotz meiner mangelnden Kenntnis des Fachs war er besonders daran interessiert mich über astronomische Dinge auszufragen. Ich musste mich hinstellen und die Erde mimen, und er war der Mond und rannte um mich herum, und gemeinsam bewegten wir uns dann um eine Lampe, die die Sonne darstellte.“
Wir wissen jedoch durch Erwins eigenen Bericht, dass der Einfluss seines Vaters für ihn immer am wichtigsten war:
„Meinem Vater bin ich für weitaus mehr dankbar, als dass er uns ein äußerst angenehmes Leben schenkte und mir eine hervorragende Erziehung sowie eine sorgenfreie universitäre Ausbildung ermöglichte, obwohl er bis fast zu seinem Lebensende mit wenig Begeisterung oder auch Begabung das Wachstuchgeschäft weiterführte, das er geerbt hatte. Er besaß eine außergewöhnlich umfangreiche Bildung; seinem Chemiestudium folgte eine mehrjährige intensive Auseinandersetzung mit der italienischen Malerei, einhergehend mit eigenen Landschaftszeichnungen und Radierungen, schließlich führte ihn der Weg zu den Pyxiden und ans Mikroskop, aus diesen Studien ging eine Reihe von Publikationen über die Pflanzenphylogenetik hervor. Für seinen heranwachsenden Sohn war er ein Freund, Lehrer und unermüdlicher Gesprächspartner, die Berufungsinstanz für alles, was seinen Sohn ernsthaft interessieren könnte. Meine Mutter war sehr gütig und von heiterer Natur, aber kränklich und hilflos, nicht sehr lebenstüchtig, auch anspruchslos. Ich denke, neben der aufopfernden Fürsorge, habe ich ihr für meinen Respekt gegenüber Frauen zu danken.“
Georgie war am Geigenspiel interessiert, aber da sie für ihr Spiel bei ihrem Ehemann keine Resonanz fand, verkümmerte ihr Talent. Fast einmalig unter theoretischen Physikern war, dass Erwin nicht nur selbst kein Instrument spielte, sondern auch eine Abneigung gegen die meisten Musikarten zeigte, außer für gelegentliche Liebeslieder. Einmal schrieb er seine Abneigung dem Umstand zu, dass seine Mutter an Brustkrebs gestorben war. Die Ursache hierfür sah er in einem mechanischen Trauma, das auf das Violinspiel zurückging. Wahrscheinlicher ist allerdings, dass er seine Abneigung gegen die Musik in der Kindheit entwickelte, als Reaktion auf den Mangel einer Erwiderung seines Vaters auf die musikalischen Fähigkeiten seiner Mutter.
Erwin ließ schon früh erkennen, dass er einen klugen Kopf besaß. Sein Vater war besorgt, er könne deshalb zu schnell vorangetrieben werden. Er wurde nicht auf die Grundschule geschickt, sondern an zwei Vormittagen in der Woche von einem privaten Hauslehrer unterrichtet. Eine solche Regelung war in den Familien der oberen Mittelschicht nichts Ungewöhnliches. Ihr wesentliches Ziel war es, sicherzustellen, dass ihre Jungen die Aufnahmeprüfung für das Gymnasium bestanden, gewöhnlicherweise in einem Alter von neun oder zehn Jahren.
Anstatt die Prüfung in dem üblichen Zeitrahmen abzulegen, genoss Erwin einen längeren Urlaub und reiste mit seiner Mutter und Minnie nach England, um die Russels in Leamington Spa zu besuchen. Das war im Frühjahr 1898, als er zehn Jahre alt war. Er sah seine Urgroßmutter auf der „Russel-Terrasse“ ihres Hauses, genannt nach seinem Urgroßvater. Er erkundete Kenilworth und Warwick Castles, ritt auf einem Esel entlang des weiten Strandes bei Ramsgate und erlernte das Radfahren, das er sein Leben lang des Vergnügens und der Nützlichkeit wegen praktizierte.
Auf der Fahrt zurück nach Österreich überquerten sie den Kanal von Dover nach Ostend und besuchten anschließend das herrliche, mittelalterliche Brügge. Weiter ging es Richtung Köln, wo sie den Rheindampfer bestiegen und durch das Land des Weines und der Burgen über Koblenz und Rüdesheim nach Frankfurt am Main reisten. Dort nahmen sie den Zug nach München und weiter nach Innsbruck.
Abbildung 3: Erwin mit seinen Eltern Rudolf und Georgine im Urlaub in Kitzbühel
Nun machte Erwin die ersten schulischen Erfahrungen. Seine Eltern waren hinsichtlich der Aufnahmeprüfung besorgt und befürchteten, dass „ich das ABC vergessen haben könnte“. Er ging für einige Wochen in die Schule nach St. Niklaus. Seine Mutter versuchte die englische Atmosphäre beizubehalten, indem sie bei einem Parkspaziergang darauf beharrte: „Nun werden wir nur noch Englisch miteinander reden.“ Sie versuchte auch die englische Gepflogenheit der halbfreien Tage zu wahren, aber inmitten all der anderen Feiertage war das schwer auseinanderzuhalten. Sein ganzes Leben hindurch ließ Erwin es nur selten zu, dass irgendetwas seinen Urlaub oder die Feiertage beeinträchtigte.