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Einleitung

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Als im August 1914 der Erste Weltkrieg ausbrach, war Erwin Schrödinger 27 Jahre alt, Privatdozent an der Universität Wien und stand am Anfang einer vielversprechenden Karriere als Physiker. Während des Krieges diente er als Offizier in der österreichischen Festungsartillerie, zunächst an der italienischen Front, später wurde er dem kaiserlichen Institut für Wetterkunde in Wien zugeteilt. Am 7. Oktober 1915 wurde der von ihm verehrte Professor für theoretische Physik, Fritz Hasenöhrl, bei einem italienischen Angriff in der Nähe von Folgaria (Prov. Trient) von einer Granate getötet.

Anfang 1918 erfuhr Schrödinger, dass er ernsthaft für ein Extraordinariat in der theoretischen Physik an der Universität Czernowitz in Erwägung gezogen wurde.

„Ich entschied mich, dort aufrichtige theoretische Physik zu lesen, zunächst nach dem Vorbild der brillanten Vorlesungen meines verehrten Lehrers Fritz Hasenöhrl, der im Krieg gefallen war. Darüberhinaus war es mir ein Anliegen, mich mit der Philosophie zu beschäftigen, tief versunken, wie ich zu der Zeit in die Schriften von Spinoza, Schopenhauer, Mach, Richard Semon und Richard Avenarius war. Doch mein guter Engel fuhr dazwischen, da Czernowitz nicht länger zu uns gehören sollte. So wurde hieraus nichts. Ich musste bei der theoretischen Physik bleiben und zu meinem Erstaunen kam bisweilen sogar etwas dabei heraus.“

Unter deutschen und österreichischen Physikern war ein ernsthaftes Interesse an der Philosophie nichts Ungewöhnliches, aber für Schrödinger war sie zu der Zeit derart wichtig, dass er in Versuchung stand, ihr zuliebe seine naturwissenschaftliche Arbeit zu opfern und sein Leben ganz den philosophischen Studien zu widmen. Viel später, 1963, schrieb Max Born: „Ich bin überzeugt, dass es sich bei der theoretischen Physik genau genommen um Philosophie handelt. Sie hat fundamentale Konzepte revolutioniert, beispielsweise das von Raum und Zeit (Relativität), der Kausalität (Quantentheorie) und der Substanz und Materie (Atomistik). Sie hat uns neue Methoden des Denkens gelehrt (Komplementarität), die auch weit über die Physik hinaus anwendbar sind.“ Durch seine Entdeckung der Wellenmechanik im Jahr 1926 trug Erwin Schrödinger maßgeblich zu diesem revolutionären Wandel unseres Weltbildes bei; nach Arnold Sommerfelds Verständnis der modernen Physik sogar eindeutig an erster Stelle: „Sie war das Erstaunlichste unter all den erstaunlichen Entdeckungen des 20. Jahrhunderts.“ Dieses Urteil sollte auch für die ein Jahr zuvor von Werner Heisenberg entdeckte Quantenmechanik gelten.

Warum waren diese Theorien so revolutionär in Bezug auf ihre philosophischen Implikationen? Zusammengefasst zeigten sie folgende Resultate: (1) Sie werteten den seit Newton in den Wissenschaften vorherrschenden Materialismus ab. (2) Sie zeigten, dass alles in der Welt Teil alles anderen ist; es gibt keine Grenzen und keine isolierten Teile in der Welt. (3) Sie verwarfen die Idee des strengen Determinismus und der Berechenbarkeit in der Natur. (4) Sie warfen tiefe Fragen über die Rolle des Geistes in der Natur auf und ordneten somit dem menschlichen Beobachter erneut eine zentrale Position in der Naturphilosophie zu. Als Konsequenz dieses Infragestellens der herkömmlichen Ideen breitete sich die neue Quantentheorie weit über das Gebiet der Physik hinaus aus und ließ die Wissenschaftsphilosophie, und wohl auch die Philosophie im Allgemeinen, in einem Zustand des Wandels zurück, dessen endgültige Position bisher nicht erkennbar ist.

Thomas Kuhn verweist in seinem Buch Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen (1962) auf die Existenz zweierlei Arten von Wissenschaft: eine Normalwissenschaft und eine „revolutionäre“ Wissenschaft. In jedem einzelnen Teilbereich wird in Übereinstimmung mit einem Satz von Regeln, Konzepten und Prozeduren, die als Paradigma bezeichnet werden, Normalwissenschaft betrieben. Dieses Paradigma wird von allen in diesem Teilbereich tätigen Wissenschaftlern akzeptiert. Normalwissenschaf ähnelt einem Puzzlespiel: interessant, hübsch anzusehen und es wird eine Lösung gefunden, aber die Regeln ändern sich nicht. Während dieser „normalwissenschaftlichen“ Forschungsaktivitäten werden jedoch manchmal unerwartete Entdeckungen gemacht, die in Bezug auf das herrschende Paradigma inkonsistent sind. Unter den Wissenschaftlern kommt es zu einer an Intensität zunehmenden, angespannten Situation, die schließlich zu einer wissenschaftlichen Revolution führt. Dieser Vorgang wird durch einen Paradigmenwechsel begleitet, wobei es zur Ausbildung eines neuen Paradigmas kommt, das eine Wiederaufnahme einer normalwissenschaftlichen Forschungsaktivität erlaubt.

Eine solche Analyse des wissenschaftlichen Fortschritts scheint die Arbeit Schrödingers angemessen zu beschreiben. Seine wissenschaftlichen Publikationen vor 1925 waren typische Ergebnisse einer „Normalwissenschaft“, kompetent, aber sicher keine bemerkenswerten Erweiterungen des Fachgebietes, wie es von seinen Lehrern und Mitarbeitern an der Universität in Wien vertreten wurde. 1926, seinem annus mirabilis, veröffentlichte er im fortgeschrittenen Alter von 38 Jahren vier großartige Artikel zur Wellenmechanik, über die Born sagte: „Es gibt nichts Schöneres in der theoretischen Physik“. Das war in jeder Hinsicht revolutionäre Wissenschaft. Nach seiner großen Entdeckung war Schrödinger nicht bereit, seine Arbeit im Rahmen einer „Normalwissenschaft“ weiterzuführen. In seinen späten Jahren bemühte er sich verzweifelt um einen weiteren Durchbruch. Sein Ziel war eine Feldtheorie, die Gravitation und Elektromagnetismus vereinigen sollte, wobei er die Erfolgsaussichten weniger illusionär beurteilte. Zu einem jungen Wissenschaftler in Irland sagte er: Dieses Problem ist für alte Männer geeignet, die schon etwas in der Wissenschaft geleistet haben.

Die Kuhn’sche Analyse der wissenschaftlichen Revolutionen unterstreicht die Spannung, die dem Durchbruch zu einer neuen Weltsicht vorangeht. Schrödinger war ein leidenschaftlicher, poetischer Mensch, das Feuer seiner Genialität wurde durch die intellektuelle Spannung entfacht, die aus der aussichtslosen Situation der Quantentheorie Plancks, Einsteins und Bohrs erwuchs. Es scheint, dass psychische Belastungen, vorzugsweise in Verbindung mit intensiven Liebesaffären, seiner wissenschaftliche Kreativität eher förderlich als hinderlich waren. In seiner kurzen Autobiographie schrieb er: „Ein echtes Lebensbild zu schaffen, dazu fehlt … auch die Möglichkeit, weil das Fortlassen der Beziehungen zu Frauen einerseits in meinem Falle eine große Lücke ergibt, andererseits geboten erscheint, erstens des Klatsches wegen, zweitens weil sie kaum genügend interessant sind, drittens weil in diesen Dingen kein Mensch wirklich ganz aufrichtig und wahrhaftig ist oder auch nur sein darf.“

Erwin Schrödinger war wohl die vielschichtigste Persönlichkeit aller Begründer der modernen Physik. Er war ein heftiger Gegner von Unrecht, betrachtete sogar schon jegliche politische Aktivität als verachtenswert. Er hasste Pracht und Herrlichkeit, dennoch zeigte er eine kindliche Freude an Ehrungen und Medaillen. Er war dem vedantischen Konzept, dass alle Menschen einem weiteren zugehörig sind, ergeben, dennoch lehnte er Zusammenarbeit in jeglicher Form ab. Sein Verstand folgte einer exakten Beweisführung, sein Temperament war sprunghaft, einer Primadonna gleich. Er gab vor, Atheist zu sein, machte aber vor religiösem Symbolismus keinen Halt und betrachtete seine wissenschaftliche Arbeit als Zugang zur Göttlichkeit. In vielerlei Hinsicht war er ein wahrer Sohn Österreichs. Robert Musil beschrieb in Der Mann ohne Eigenschaften: „In diesem Land handelte man anders als man dachte, oder man dachte anders, als man handelte – zuweilen ging man tatsächlich bis an die äußersten Grenzen der Leidenschaft und ihrer Folgen. Beobachter haben das fälschlicherweise übereinstimmend als Charme bezeichnet, oder sogar als Schwäche, in der sie den österreichischen Charakter zu erkennen dachten.“

Die Psychologie lehrt, dass ein Individuum im Laufe seines Lebens dazu neigt, Verhaltensmuster zwischenmenschlicher Beziehungen, die in der Kindheit erfahren wurden, zu wiederholen; demnach wird die Lebensweise und auch das Sexualverhalten eines Menschen oft durch die Erfahrungen in der Kindheit und durch die Familie, in der er aufwuchs, bestimmt. Als Einzelkind in einer nachsichtigen Familie konnte Erwin leicht dem Gedanken verfallen, dass sich die Welt um ihn als Zentrum dreht.

Das soziale Umfeld in Schrödingers prägenden Jahren in Wien muss Auswirkungen auf seine Lebensphilosophie gehabt haben und somit auch auf die Art und Weise, wie er seine wissenschaftliche Arbeit begriff. Es ist schwierig, nicht von der intellektuellen und künstlerischen Brillanz Wiens am Ende des 19. Jahrhunderts verzaubert zu werden, aber dieser Glanz war äußerlich, einem Nachleuchten gleich. Während Schrödinger die Universität besuchte, das Theater, Partys, Heurigen und Ausflüge in die nahe gelegenen Berge genoss, versuchte der junge Adolf Hitler, einige Bilder von Wiener Kirchen zu verkaufen. Die Akademie hatte ihn zweimal als Kunststudenten abgewiesen und er hatte seinen Mantel verpfändet, um Brot und Milch kaufen zu können. Jetzt trieb er sich in Hemdsärmeln, mit ungeschnittenen Haaren und einem wuchernden Bart in den verschneiten Straßen herum. Einem Freund erzählte er: „Ich möchte nicht als arrogant erscheinen, aber ich denke, in dem Moment, wo mich die Kunstschule verschmäht hat, hat die Welt etwas Wertvolles verloren.“

Letztendlich wird die Essenz des Lebens eines kreativen Menschen an dessen Arbeit gemessen: die Musik Mahlers, die Poesie Hofmannsthals, die Romane Musils und die Physik Schrödingers. Bei einem theoretischen Physiker ist ein ursächlicher Zusammenhang zwischen seiner wissenschaftlichen Arbeit und der Struktur seiner Persönlichkeit häufig nicht einfach zu erkennen. Eine große Entdeckung kann in einem gewissen Umfang unbeabsichtigt erfolgen, das Produkt der Umstände fällt in ein fruchtbares Feld des Intellekts. Schrödinger nimmt in einem seiner Gedichte hierauf Bezug:

Parabel

Was in unserm leben, freund,

wichtig und bedeutend scheint,

ob es tief zu boden drücke

oder freue und beglücke,

taten, wünsche und gedanken,

glaube mir, nicht mehr bedeuten

als des zeigers zufallschwanken

im versuch, den wir bereiten

zu ergründen die natur:

sind molekelstöße nur.

Nicht des lichtflecks irres zittern

läßt dich das gesetz erwittern.

Nicht dein jubeln und erbeben

ist der sinn von diesem leben.

Erst der weltgeist, wenn er drangeht,

mag aus tausenden versuchen

schließlich ein ergebnis buchen. –

Ob das freilich uns noch angeht?

Wissenschaftlicher Ruhm hat keine merklichen Veränderungen der Persönlichkeit Erwin Schrödingers bewirkt, aber er hat ihm erlaubt, sich selbst freier auszudrücken. Max Born, der über einige Dinge, die Schrödinger getan hat, bestürzt war, schrieb dennoch: „Sein Privatleben erschien Bürgerlichen wie uns seltsam. Aber all das machte nichts aus. Er war ein äußerst liebenswerter Mensch, unabhängig, unterhaltsam, temperamentvoll, gütig und freigebig, und er hatte ein äußerst perfektes und effizientes Gehirn.“

Erwin Schrödinger

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