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Die neue Welt

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Was ist die Zeit? Was ist die Ewigkeit?

Wenn mich niemand danach fragt, weiß ich es.

Wenn ich es einem erklären will, weiß ich es nicht.“

Augustinus

Liebe Hinterbliebene

Die neue Welt ist wirklich in jeder Hinsicht neu. Große Mühe bereitet mir die Umstellung von Zeit auf Ewigkeit. Wenn es weder Tag noch Nacht noch Jahreszeiten gibt, weiß man wirklich nicht, wie man sich orientieren soll. Hier kommt jeder ohne Uhren aus. Die Urmenschen sind nicht älter als wir, die erst jetzt angekommen sind. Adam und Eva konnte ich wegen der Milliarden Seligen, die hier sind, leider noch nicht entdecken. Ich bin gespannt, was sie auf die Frage antworten: Warum sie so töricht waren, von dem einen Baum zu essen, wo es doch im Paradies so viele Apfelbäume gab. Vielleicht treffe ich auch einmal unter den Milliarden Tieren, die hier endlich angstfrei leben können, die Paradiesschlange. Ich möchte von ihr wissen, warum sie sich in den Kopf gesetzt hatte, die ersten Menschen zu Fall zu bringen.

Natürlich habe ich nach meiner Ankunft hier sofort nach allen Verwandten und Bekannten Ausschau gehalten, aber leider erfolglos. Auf meine Nachfrage beim Aufnahmebüro hat man mir gesagt, ich sollte mich deswegen nicht beunruhigen. Wenn ich sie noch nicht gefunden hätte, bedeute das nicht, dass sie nicht irgendwann einmal ankommen. Es komme öfter vor, dass die, die früher gestorben sind, später, manchmal sogar, je nach Lebensweise erst nach Jahrhunderten, ankommen.

Ihr möchtet vielleicht wissen, ob man sich mit der Verwandtschaft noch weiter verwandtschaftlich verbunden fühlen muss und ob es wirklich ausgeschlossen ist, dass sich Ehepartner noch einmal begegnen oder – sollten sie diesen Wunsch verspüren – in einem eheähnlichen Verhältnis miteinander verbunden bleiben dürfen. Werden die ermordet wurden, ihren Mördern danken, dass sie sie, früher als geplant, in Jenseits schickten? Bekommt man wirklich einen neuen Leib oder seinen alten Leib nur runderneuert, vielleicht mit Flügeln ausgestattet, zurück? Und was sind das für Speisen, die man bei den neuen Gastmählern reicht?

Dass das Eingewöhnen etwas dauert, hängt wohl damit zusammen, dass man eine Menge falscher Erwartungen mitbringt, von denen man sich erst einmal lösen muss, bis man für das Neue empfänglich geworden ist. Ihr wundert euch vielleicht, dass ich noch nicht nach-gefragt habe, wie es Euch geht; wie Euer Erbschaftsprozess ausging; ob Elisabeth ihr Abitur bestanden hat und Erwins Bewerbung angenommen wurde? Unsere himmlischen Zeitungen berichten über irdische Ereignisse nichts, denn dafür würde sich auch keiner interessieren. Ich verspüre auch nicht die geringste Lust, auf die Erde herunterzuschauen. Dieses blöde Herum-rennen da unten interessiert mich nicht mehr und ich kann noch immer nicht verstehen, warum mich das überhaupt einmal interessierte.

Es ist ein überwältigendes Erlebnis, gleich nach der Ankunft hier zu erleben, wie viele verschiedene Menschen – von denen keiner nach Herkunft, Eigenart und Lebensgeschichte dem anderen gleicht - ohne jede Spannung einträchtig zusammen leben, wie man das ihnen nie zugetraut hätte. Die himmlische Seligkeit ist weit mehr als der Zustand eines gleichbleibenden Wohlbehagens, wie man das in Meditationskursen erfährt. Die unvorstellbare Fülle unbe-schreiblicher und beglückender Eindrücke, die man in jedem Augenblick aufnimmt, wollen verarbeitet werden. Wenn man allerdings ein Leben lang immer nur in die Glotze geguckt und sich sinnlichen Reizen ausgesetzt hat, braucht es seine Zeit, bis man fähig ist, übersinnliche Eindrücke zu genießen.

Die Umstellung von Zeit auf Ewigkeit fällt mir immer leichter. Es gelingt mir auch langsam, dieses blöde Herumstochern in der Vergangenheit, das man mir in einer irdischen Therapie beibrachte, endlich zu lassen. Erst wenn man nicht mehr auf das starrt, was war, ist man in der Lage, sich an der ewigen Gegenwart zu erfreuen. Heute ist einer bei uns angekommen, der gestern mit großem Pomp und unter Beteiligung der gesamten Prominenz des Landes feuer-bestattet wurde. Er war auf einen großen Bahnhof eingestellt und sehr enttäuscht, dass niemand sich von Nachrufen oder pathetischen Grabreden beeindrucken ließ, und dass man ihn hier nicht anders empfing als die vielen Tausend, die in jeder Minute hier eintreffen.

Entschuldigt bitte! Georg Friedrich Händel, der Euch ja als genialer Musiker bekannt sein dürfte, möchte mit uns Neuangekommenen das „Halleluja“ einstudieren. Einige Engel haben schon über unseren Gesang gelacht und die spöttische Frage gestellt, ob wir denn Sänger bei einem Kirchenchor gewesen wären. –

Ich lasse wieder von mir hören.

Mails aus dem Jenseits

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