Читать книгу Mails aus dem Jenseits - Walter Rupp - Страница 6
Im Niemandsland
ОглавлениеNach seiner Ankunft hier ruft mancher:
„Hilfe! Man braucht mich noch da drunten!“
Ihr Lieben!
Auch ich dachte, solange ich unten war, wie das Gabriele Wohmann in einem ihrer Romane formuliert hat: „Ich lebe überhaupt nicht ungern. Sterben würde ich frühestens dann erst wollen, wenn ich unumstößlich sicher wäre, dass es auch nach dem Sterben nicht aus ist mit mir. In das gar nichts kann ich einfach nicht einwilligen.“
Ich habe Euch das letzte Mal erzählt, dass ich mich in diesem dunklen Abstellraum für Moribundi lange mit der Frage herumquälte, wie man das Diesseits vom Jenseits unterscheiden kann. Als ich die Augen auftat, sah ich nicht etwa einen Engel, sondern einen wohl mehrere hundert Jahre alten Mann, der freundlich zu mir sagte: So, ein Neuankömmling. Aber die Krankenschwester wäre Dir wohl lieber gewesen. Ich bin der Senior hier. Als ich sagte: Ich bin viel zu früh hier. Unten liegen meine Arbeiten unerledigt herum, man sollte mir noch etwas Zeit lassen und mich beschwerte, dass man mich so plötzlich wegholt, meinte er: Wo kämen wir hin, wenn wir jeden fragen würden, wann er mit seinem Ableben einverstanden ist. Den Gläubigen kenne ich nicht, der fiebernd darauf wartet, wann er endlich die Reise nach drüben antreten darf. Da muss ein Arzt unvorsichtig gewesen sein. Ja die Ärzte, sie sind unsere zuverlässigsten Lieferanten. Auf diese ironische, ja spöttische Bemerkung war ich nicht gefasst.
Als ich stotternd fragte: „Bin ich im Himmel“, lachte er und sagte: „Nein, so schnell geht das nicht. Im Himmel bist du noch nicht. Hier schaut man sich die Neuzugänge sehr genau an. Jetzt bist du erst einmal im Jenseits. Wer hier ankommt, sollte froh sein, dass man ihn ins Fegefeuer lässt, wo er Gelegenheit erhält, all das abzustreifen, was an ihm hässlich ist.“
Ich wollte protestieren und fragte: „Fegefeuer, muss das sein?“ Als ich ihm klarmachen wollte, dass ich immer offen war für jede Religion und mir eigentlich nichts vorzuwerfen habe, gab er mir zur Antwort: „Solche Unschuldsbeteuerungen hören wir hier täglich. Aber bald muss jeder, wenn er auf sein Leben zurückschaut, einsehen, dass es bei ihm einiges in Ordnung zu bringen gibt. Man wird dir ausreichend Zeit zum Nachdenken geben, dabei wird dir einiges einfallen. Hier kommt - soweit ich das in den vielen Jahren, die ich hier bin, beobachten konnte, vielleicht so alle hundert Jahre einmal einer ohne Läuterung durch.“
Da fiel mir ein, was Paul Sartre, der sich ja nicht gerade durch Frömmigkeit auszeichnete, kurz vor seinem Ableben in einem Interview geäußert hatte: „Vieles in unserem Leben bleibt unfertig. Wir haben etwas angefangen, aber nicht zu Ende gebracht. Wir haben einen Lebensentwurf versucht und sind gescheitert. Ewiges Leben kann nicht Verewigung unserer misslungenen Ansätze oder gescheiterten Versuche zum Leben sein. Ob als Fegfeuer oder Seelenwanderung, es bleibt der Eindruck: Ich muss oder werde noch einmal auf dieses Leben zurückkommen, um das Verquere zurechtzurücken, das Angefangene zu Ende zu bringen, das versäumte nachzuholen, die Schulden zu bezahlen und die Schmerzen auszuheilen und das Unvollendete zu vollenden. Ich glaube, dass Gott das Werk, das er mit einem Menschen angefangen hat, auch vollenden wird ... dass die Geschichte Gottes mit unserem Leben nach unserem Tod weitergehen wird, bis jene Vollendung erreicht ist, in der eine Seele Ruhe findet.“
Dann forderte er mich der Senior auf: “Gehen Sie mal mit mir in die Kleiderkammer und legen Sie diese öde Krankenhauskleidung ab. Anschließend warten Sie im Wartezimmer, bis Sie aufgerufen werden. Ich hoffe, dass Sie nicht so lange warten müssen wie ich. Ich warte schon über 3000 Jahre.” Auf meine Frage: Was haben Sie Schlimmes getan, sagte er: Ja, etwas ganz Schlimmes. Vielleicht haben Sie einmal in der Bibel die Geschichte von Simson gelesen, der mit seiner Kraft eine Tribüne zum Einsturz brachte? Dieser Simson bin ich, ein Selbstmord-attentäter. Ich habe in meiner Verzweiflung einige tausend Philister mit in den Tod gerissen. Da kamen ihm die Tränen.
Dann verabschiedete sich der mit den Worten: Wir werden uns noch öfter sehen. Ich scheine Dich erschreckt zu haben. Aber das ergeht allen Neuzugängen so. Vorgestern kam einer an und rief laut: „Bin ich nicht mehr in der Intensivstation? Ich werde doch nicht im Himmel sein?“ – Ja die Reaktionen der Neuankömmlinge sind oft recht merkwürdig.“
Es bleibt mir also nichts anderes übrig, als mich auf eine Zeit der Läuterung einzustellen. Hauptsache: ich habe ein Etappenziel erreicht.
Sobald ich wieder Zeit habe, hört Ihr wieder von mir.