Читать книгу Mails aus dem Jenseits - Walter Rupp - Страница 5
Der lange Abschied
ОглавлениеGlaubt ja nicht, "das Leben sei sozusagen ein erster Entwurf,
zu dem das zweite die Reinschrift bilden wird!"
Man kann das Leben nicht noch einmal beginnen.
Liebe Hinterbliebene!
Entschuldigt, dass ich mich nicht gleich nach meinem Ableben bei Euch gemeldet habe. Wahrscheinlich hattet Ihr Euch schon Sorgen gemacht, ob ich im Jenseits überhaupt angekommen bin. Ich war einfach nach all dem, was nach dem operativen Eingriff geschehen war, wie gelähmt. Ich war in einem mir bisher unbekannten Zustand: noch nicht tot und auch nicht mehr lebendig.
Die Ärzte meinen ja, man könne keine Träume und Empfindungen mehr haben, wenn die Beatmungsgeräte abgeschaltet werden. Noch lange nachdem ich auf dem Operationstisch ge-legen hatte, gingen mir die Worte der Operateure durch den Kopf: „Das Beste wäre gewesen, wir hätten gar nicht reingeschaut. Aber man soll uns nicht nachsagen, wir hätten nicht das Menschenmögliche getan.“ Ich hörte immer nur die Sätze: „Man soll uns Ärzten nicht vorwerfen, wir hätten versagt, wenn die Natur versagt. Nähen wir wieder zu, dass er wenigstens drüben nicht entstellt herumlaufen muss.“ Ein Arzt fügte die lakonische Bemerkung hinzu: „Manchmal müssen wir eben Operationen durchführen, auch wenn ein Patient nicht zu retten ist, weil es nicht nur um Menschen geht, sondern auch um die Medizin. Auch sie will Fortschritte machen.“ – Ich wundere mich noch immer, was man so alles in einer Narkose mitbekommt.
Eine Operation war für mich, wie für so viele andere, die jetzt hier sind, das letzte große Ereignis des Lebens. Obwohl ich leblos dalag, nahm ich doch wahr, dass man mich danach in eine hässliche Abstell-Kammer schob, die für ‚Moribundi‘, für Jenseits-Kandidaten vorgesehen war. Von dem hellen Licht, von dem die schwärmen, die Nahtod-Erfahrungen machen konnten, bemerkte ich in dieser Zeit nichts, im Gegenteil, es war überall finster. Es war auch ausge-schlossen zu erkennen, ob ich noch hier war oder schon drüben bin. Ich war zwar tot, aber gestorben war ich trotzdem noch nicht. Das sollte man auseinanderhalten, das sind zwei sehr verschiedene Zustände. Leider sind die meisten längst tot, bevor sie gestorben sind.
Solange ich sterile weiße Wände sah, war mir klar, dass ich mich in einem Krankenhaus befinde. Aber als mich ein merkwürdiger, apathischer Gemütszustand überfiel, dieses Gefühl des Entspanntseins, wie ich es einmal bei einem Zen-Kurs erlebte, musste ich mich an eine Religionsstunde erinnern, wo uns die himmlische Seligkeit als ein gleichbleibendes Gefühl des Wohlbehagens, das niemals aufhört, beschrieben wurde. Da ging mir plötzlich der Gedanke durch den Kopf: das wird doch nicht die himmlische Seligkeit sein?
Aber es ist nun einmal so: „Wir wurden ins Dasein geworfen wie Würfel aus einem Becher“ (Wilder) und dürfen den Tag unserer Geburt und den unseres Todes nicht bestimmen.
Ihr hört bald wieder von mir.