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Mit diesem Haus in der Lutherstrasse hatte es eine Bewandtnis, die so recht etwas für alte Klatschbasen gewesen wäre. Aber im alten Westen gab es durch Krieg und Nachkrieg zu viele Schicksalsänderungen innen und aussen. Von den Mietern der alten vornehmen Wohnungen sass ein grosser Teil schon auf dem Aussterbeetat. Sie würden nach Aufhebung der Zwangswirtschaft ihre Wohnungen aus Geldgründen nicht halten können. Sie teilten sie jetzt schon vielfach, durch die Behörde oder die Not gezwungen, mit allerlei Eindringlingen, und manche Wohnung war bereits durch die Neureichen ganz und gar bewohnt, die in ihrem Gebaren sehr an die Väter der nun verarmten Bürgerschichten erinnerten. Eine seltsame Gerechtigkeit: die durch Weltkrieg und Revolution reich Gewordenen nahmen den Kindern der durch 1870 reich Gewordenen die letzten Besitztümer ab.

Die einen im Kommen, die anderen im Gehen. Dazu die unheimliche Ausdehnung der Geschäftsstadt, die dem Westen immer mehr den reinen Wohncharakter nahm — das alles bewirkte, dass die Gespenster- und Flüstertradition, die lokalmündliche Berichterstattung nicht aufkam, dass sich kaum jemand mehr der Vorfälle erinnerte, die mit dem Bau des Hauses zusammenhingen. Nur Fräulein v. Meyer vom dritten Stock des Gartenhauses, eine sechzigjährige berufslose Dame, die sich mit Mühe und Not von Weissnähen und Vermieten ernährte, nur Fräulein v. Meyer wusste bis ins einzelne Bescheid. Aber einmal gab sie doch nur zuweilen und unter Freunden „ihre düstersten Erinnerungen preis“, und dann hatten die meisten Menschen ja gar nicht soviel Zeit, um die mit vielen Seufzern, Tränen und Redeblumen verzierten Ausführungen anzuhören. Die ganz charakteristischen Tatsachen waren kurz folgende: Kommerzienrat v. Meyer, ein 1888 geadelter reicher Baumaterialienhändler, hatte, durch unglückliche Spekulationen zurückgekommen, sich im Jahre 1902 auf das Bauen verlegt. Seine Bauten sollen sich (was Fräulein v. Meyer verschwieg) durch eine bedeutende „Windigkeit“ ausgezeichnet haben. Trotzdem ging das Baugeschäft leidlich, bis Meyer den Bau des Hauses in der Lutherstrasse begann. Da folgte Unglück auf Unglück. Beim Zuschütten des Brunnens fiel ein Arbeiter in den alten Schacht und wurde von Gasen erstickt. Einige Wochen später brach eine bis zum dritten Stock aufgeführte Wand ein, schlug drei Arbeiter zu Tode und fünf zu Krüppeln. Der Bau blieb darauf ein Vierteljahr halbfertig liegen und „frass Zinsen“ (das „frass Zinsen“ pflegte Fräulein v. Meyer sehr plastisch durch Kinnbackenmahlen darzustellen). Als man wieder beginnen wollte, zeigte es sich, dass infolge Grundwassers sich die Mauern gesenkt hatten. Man musste alles wieder abreissen, bedeutende Fundamentierungen vornehmen und von vorn anfangen. Schliesslich stürzte noch das Malergerüst zusammen, wobei allerdings nur ein Lehrling das Schlüsselbein brach. Aber dieser Einsturz hatte zur Folge, dass die Firma v. Meyer wegen Ausserachtlassen aller Vorsichtsmassregeln vier Wochen bestreikt wurde. Fast wäre ihr sogar noch die Baukonzession entzogen worden. Als das Haus dann endlich fertig war — es hatte das Dreifache des Voranschlags gekostet — wollten sich keine Mieter für das „Unglückshaus“ finden. Die Gasquelle des Brunnens könne wieder aufbrechen, meinten die einen. Die toten Bauarbeiter zögen die ersten Mieter nach, tuschelten die andern. Sehr solide werde wohl nicht gebaut, wo so viel Malheur geschehe, sagten die dritten. Kurzum, der grösste Teil des Hauses blieb jahrelang leer, das Vermögen des Herrn v. Meyer schrumpfte, er musste schliesslich sein Haus in Nikolassee verkaufen, die bescheidene Gartenhausetage in der Lutherstrasse beziehen und bald darauf sterben. Fräulein v. Meyer lebte dann von der geringen Differenz zwischen den Mietseinkünften und den Hypothekenzinsen, hungerte sich durch die Revolutionsjahre und verkaufte zur schlechtesten Zeit ihr Haus für ein paar Dollar an eine amerikanische Gesellschaft, um weiter zu hungern. Seit der Mitte des Krieges war natürlich alles vermietet, man war froh, ein Dach über dem Kopf zu haben. Viele lernten auch Fräulein v. Meyer und die Schicksale des Hauses erst kennen, als nichts mehr zu ändern war, und manche lernten sie überhaupt nicht kennen. Man hatte mehr über die dünnen Wände zu klagen als über Gespenster, und die dünnen Wände spielten sogar in einigen Prozessen, die die Mieter miteinander führten, eine Rolle. Der Gerichtshof hatte bei Lokalterminen immer feststellen müssen, dass die Verständigung von Wohnung zu Wohnung ganz mühelos geschah. Klar, dass solche Verständigungsmöglichkeit zu Kleinkriegen führte.

Die Gespenstergläubigen wieder konnten alles Unglück, von dem in diesen erregten Zeitläufen wohl jeder genügend abbekam, auf das Haus schieben. „Wirklich Schlag auf Schlag,“ pflegte zum Beispiel Exzellenz Rabe (Vorderhaus, I links) mit hohlem Husten zu stöhnen, „zwei Söhne gefallen, meine Frau gestorben, meine Tochter mit einem Juden durchgegangen (sie war in Wirklichkeit die Frau eines angesehenen Bankiers in Frankfurt am Main), mein Vermögen durch die Republik gestohlen, alles, seitdem ich in dem Haus sitze.“

Auch die Termahlens (vorn, II rechts) hatten alles verloren. In der Wohnung sass das Unglück ganz besonders fest und überfiel pünktlich sogar alle Untermieter. Da hatte, um nur einiges zu nennen, eine junge Dame sich zwei Tage nach ihrem Einzug vergiftet, da war der völkische Defraudant G. „aus dem Bett heraus“ (die schlimmste Vorstellung für alle polizeifremden Gemüter) verhaftet, da waren an einer Grippe die beiden Schwestern Möckel gestorben.

Und bei Bresch? Solange der alte Geheimrat Bresch noch lebte (ganz recht, der sogenannte „Kultus-Bresch“, in dem man allgemein den Urheber der Lex Heinze sah), solange der würdige kaiserwilhelmbärtige Herr noch zweimal die Woche mit Exzellenz Rabe zum Skat ging, war alles in Ordnung. Aber er überlebte die Monarchie nur um wenige Monate, und bald nach seinem Tode ging die Wirtschaft los! Der junge Bresch wechselte die Freundinnen, wie man Anzüge an- und auszieht, verdächtige Gestalten aller Art, radikale Politiker aller Schattierungen, Literaten, Schieber, Schauspieler und kleine Verschwörer gingen da aus und ein, und manche Nacht hindurch hörte der Lärm überhaupt nicht mehr auf. Also auch bei Bresch, der 1923 eine Frau aus gutem jüdischem Haus heiratete, gab es mehr Unglück als Glück, ging es finanziell heftig drunter und drüber, und obgleich man es ihm gönnte, denn er hatte es ja verdient, so musste man sich doch zuweilen wundern, dass hier, da und dort, bei Jungen und bei Alten, bei Tüchtigen und bei Faulen die Malheure sich immer wieder häuften und kaum bei jemandem von Glück gesprochen werden konnte.

Und das, was man wusste und erfuhr, war ja immer nur ein Teil von dem, was den Leuten tatsächlich zustiess. Die Wirklichkeit, die da in engen Stuben in den meist überfüllten Wohnungen, zwischen entnervten, zermürbten, halb und ganz toten Menschen sich abspielte, die nur zuweilen die Wände einer Wohnung sprengte oder durch die Fenster mit üblen Geräuschen und Gerüchen ins Freie drang, diese graue abscheuliche Wirklichkeit, die wie ein Fieber aus der Luft, aus den Mauern auf die hilflosen Menschen eindrang, war um vieles schlimmer, als die Aussenstehenden ahnten und die Beteiligten wussten.

Und es ist sehr zweifelhaft, ob das nur für unser Haus gilt. Seine Bewohnerschaft schien zwar merkwürdig zusammengewürfelt. Aber dieses bunte Durcheinander entsprach der Struktur eines Zeitalters, das sich vorgenommen zu haben scheint, durch Zusammenkoppelung des Nichtzusammenpassenden, durch Durchsetzung jedes Organismus mit Fremdstoffen einen letzten Kampf herauszufordern, der von nahem das merkwürdige Bild wimmelnder Lebendigkeit gibt. Der Fernerstehende freilich wird schliesslich erkennen, dass ein Gewimmel von Maden nicht die Lebendigkeit des Kadavers anzeigt, sondern seine Verwesung.

*

Urk war in den ersten Tagen sehr zufrieden über seine neue Wohnung. Die Atmosphäre des Hauses war noch nicht zu ihm vorgedrungen, die Bakterien der Zersetzung mochten vielleicht schon in seinem Körper rumoren, aber zunächst blieb er noch von dem Fieber, das aus den Steinen strömt, verschont.

Die Luft in seinem Zimmer war gut. Er erfuhr, dass Frau F., ein geschätztes Mitglied der Reinhardt-Theater, sie zuletzt bewohnt hatte, dieselbe Frau F., deren zarte Kraft er vor kurzem auf der Bühne bewundert hatte.

Nun standen die Räume, wie Elise berichtete, schon ein halbes Jahr leer. Frau Bermann sei so heikel beim Vermieten. Sie habe schon viele Mietlustige weggeschickt.

Am meisten Freude machte es ihm, dass nichts Unnützes in den Zimmern geblieben war. Im Schlafzimmer standen ausser dem Bett nur noch ein Kleiderschrank, eine Wäschekommode und der Kochapparat. Im Arbeitszimmer der Schreibtisch mit Stuhl, der Diwan, der Lehnsessel und das Bücherregal. Dreiviertel Tag schien die Sonne herein (wenn sie schien), und der Ausblick in den Hof war zwar rings eng begrenzt, aber doch ausgesprochen mannigfaltig.

Das Haus bildete mit seinen beiden Seitenflügeln ein nach dem Hof zu offenes Sechseck. Wenn Urk hinten im Zimmer in seiner Ofenecke sass, so fiel sein Blick auf eine glatte graue Hauswand, die nur von den kleinen Fenstern der Speisekammern durchbrochen in einem winzigen Stückchen Himmel endigte. Aber wenn man am Schreibtisch sass, so sah man zunächst den Gipfel einer riesengrossen Edeltanne. Weiter hinten kam dann ein Gebüsch von Stachelbeeren, eine kleine Kastanie, ein Vogelbeerbaum und schliesslich der mächtige Stamm einer Platane. Hinter der Platane stand dann die Rückwand eines anderen Hauses.

Von dieser Rückwand, die ursprünglich wohl auch das gleichmässige Mörtelgrau der übrigen Wände gezeigt hatte, war der Verputz in grossen Flächen und Sprüngen abgefallen. Der Platanenstamm mit den weissen und grauen Flächen seiner Rinde ähnelte so sehr dem zermürbenden Mauerwerk, die Mauer glich so sehr dem Holz der Platane, dass man zwischen dem Lebendigen und dem Toten, dem Gewachsenen und dem Gefügten nur schwer unterscheiden konnte. Mauer und Baum schienen eine erschreckende Ehe, ein gleichmachendes Zusammenleben von Ungleichartigem eingegangen zu sein. An den linken Seitenflügel war kulissenartig das Gartenhaus angepasst. Urk musste sich sehr nach rechts drehen, um diese dreistöckige schmalbrüstige Mischung aus Landhaus und Hinterhaus noch zu sehen. In den niedrigen Nordzimmern dieses Anbaus zu wohnen, musste eine Qual sein. Höchstens den einen breiten Balkon im dritten Stock, der von einem Ast der Platane überdacht wurde, und der morgens und abends ein wenig Sonne erwischte, hätte er haben mögen. Das schwarze alte Fräulein, das da mit den Blumenkästen und Töpfen wie mit Handarbeiten hantierte (es war Fräulein v. Meyer), hatte sicher keine Verwendung für diese Terrasse. Denn sonst hätte sie doch wenigstens einen Teil den Blicken der Hinterhäusler entzogen.

Sehr unangenehm war es für Urk, dass er gerade in der Zeit der Frühlingsreinigung eingezogen war. Während sonst nur zu bestimmten Stunden unter schrecklichem Klopfen und Klatschen Staubwolken in dem engen Hof aufgewirbelt werden durften, war der Platz in dieser Woche ganz den Reinigungswütigen freigegeben. Und vom Morgen bis zur Dämmerung hallte der Hof von Schlägen und Echos der Schläge, zog der Winterstaub und Dreck in dünnen Wolken über den Hof und begann das Grün der eben aufspringenden Stachelbeerblätter mit zähem Schmutz, Haaren und Federn zu beziehen. Der Regen, der in diesen Tagen reichlich fiel, konnte die Schicht nicht abspülen; höchstens, dass er die Frauen manchmal in die Häuser trieb und so eine angenehme Ruhepause für die Ohren schuf.

Manchmal, wenn die Schläge gar zu heftig wurden, trat Urk ans Fenster. Lärm, dessen Verfertiger man sieht, ist ja nicht ganz so schlimm wie verborgener Lärm. Was er da an Frauen sah, das gehörte alles dem gleichen Hennentyp an, in der Flattrigkeit der Bewegungen, der Eilfertigkeit ihres Kopfnickens, der staubaufwirbelnden Emsigkeit ihres Tuns. Die Jungen unterschieden sich von den Älteren eigentlich nur durch die Art, die vor Staub schützenden Kopftücher zu knüpfen und vielleicht durch das betonte Drehen in den Hüften. Für die Alten lohnte das Drehen und Wackeln mit dem Gesäss nicht mehr. Wer mit fünfzig Jahren noch Teppiche klopft, wird sie klopfen müssen, solange die Kräfte reichen.

Einmal wurde Urk durch ein sachliches, derbes Klopfen aus seinen Gedanken geweckt. Das konnte keine Frau sein. Und das, was er von oben sah, weckte seine Neugierde so sehr, dass er hinunter ging und zweimal den Hof überquerte, um diesen komischen Menschen anzusehen.

Es war ein Mann mit ausgeprägt slawischen Backenknochen — wie sich herausstellte, ein Russe — das Gesicht war wie von einem Schatten von einem Bart umgeben, der weich und flaumig, stellenweise auch in kleinen Locken spriessend, sichtlich niemals rasiert oder geschnitten wurde. In einem Umkreis von drei Zentimetern um den Mund herum hörte der Bart auf. So war das ganz schmale haardünne Lippenrot mitten in einen kalkweissen Kreis gezeichnet. Die Stirn bog sich von der Mitte aus stark zurück, sehr weit vorn begannen die Kopfhaare, die tabakgelb und borstig den Kopf starr bestanden. Schwarze Augen, blank und klein wie Schuhknöpfe blitzten aus dem Gesicht, das unleugbar einem hässlichen Menschen zugehörte.

„Es ist merkwürdig,“ dachte Urk, „dieser Kopf soll ein Menschenkopf sein. Als Menschenkopf finde ich ihn hässlich, ja abscheulich. Aber wenn ich ihn als Tierkopf ansehen dürfte, Kopf eines Tieres, das mir unbekannt war, so könnte ich ihn sehr schön finden. Und wie der Kopf gar auf den Schultern sitzt, wie spielend leicht und flügelartig die Arme aus den Schultern wachsen, das ist herrlich.“

Urk stellte sich in den Hausflur so, dass er in der Glasscheibe ungestört den Mann beobachten konnte. Der komische Mensch, dessen aschengelber, geflickter Anzug sicherlich die ehemalige Uniform eines russischen Soldaten war, und dessen nackte schmale Füsse in Holzpantinen steckten, führte mit seinem Teppich eine Pantomime auf. Bevor er wieder zu klopfen anfing, streichelte und striegelte er ihn wie ein Pferd. Dann sprang er zwei Schritte zurück, und mit einem tänzerischen Wiegen in den Knien schaukelte er seinen Körper vor und zurück, zurück und vor, wirbelte den Teppichklopfer wie einen Säbel, sauste kunstgerecht und heftig mit schnellen kleinen Schlägen auf und ab.

Ein kleiner Junge von vielleicht vier Jahren schlängelte sich gaffend und vertraulich an den Teppichklopfenden heran. Er machte schliesslich in seiner Arbeit eine Pause, streichelte den Jungen, lachte laut und breit und kramte unter den Sachen, die er zu klopfen hatte, eine Diwandecke heraus. Die knüpfte er zu einer Schaukel, setzte den kleinen Kerl herein und fing an, ihn unter einem komischen Singsang zu schaukeln. „Feste, Kohlomann,“ schrie der Junge, „feste.“ Und Kohlomann steigerte gehorsam seine Anstrengungen, fing an, wie toll seine Schaukel zu stossen, klapperte in den Pausen zwischen den Stössen mit den Hacken auf dem Hofpflaster, schlug sich rasselnd auf die Schenkel und trällerte keuchend eine alte Reitermelodie: Bum, tada tata bum, bum tada tata bum, hoi hoi hepp, bum tatada.

An den Fenstern des Seitengebäudes tauchten Gesichter auf, ein paar griesgrämige schimpften über den Lärm, eine Mutter stimmte mit ihrem Baby in den Gesang Kohlomanns ein, und einige Dienstmädchen grinsten behaglich auf den schwitzenden Russen herab. Schliesslich machte der Portier Querfurth mit einer Flut von Schimpfworten dem Vergnügen ein Ende. Der Junge verschwand heulend, Kohlomann entknüpfte seine Schaukel zu einer Decke und machte sich, ohne dem Portier etwas zu erwidern, an seine Arbeit mit derselben Anmut und Vergnüglichkeit, die Urk gleich entzückt hatten.

Querfurth, der eine Minute darauf faul, pfeifend und kauend an Urk vorbeischlenderte, gab ungefragt die gewünschten Auskünfte. Kohlomann sei ein ehemaliger russischer Kriegsgefangener, der sich nicht zurückgefunden habe. Er schlafe in einem Verschlag im Kohlenkeller und sei von den Kindern, da er sehr oft schwarz von den Kohlen sei, Kohlomann getauft worden. Er ernähre sich von Gelegenheitsarbeit, sei ein bisschen ehä (Querfurth klopfte auf die Stirn), sonst aber gutmütig.

Urk hörte sich das an, griff mit zwei Fingern an den Hut und ging fort. Er bummelte den ganzen Tag herum, halb befangen und halb unschlüssig. Zuerst lief er eine Stunde im Tiergarten spazieren; aber die verschleierte Sonne dieses Märztages, die halb offenen Knospen der Ziergebüsche, die halb frühlingsmässig angezogenen, halb winterlich vermummten Menschen machten ihn missmutig. Dann ging er die ganze Potsdamer Strasse herunter, blieb Schaufenster bei Schaufenster stehen und schüttelte den Kopf. Er konnte zuerst keine Verbindung finden zwischen den schmierigen, verdösten Menschen auf der Strasse und den sauberen und verlockend gestapelten Waren hinter den Scheiben. Aber dann sah er eine Bluse, etwas verdreckt schon, an einem Tippmädchen, dann drängte sich eine dicke alte Frau im Persianermantel durch die enge Tür eines Modegeschäftes und betrachtete prüfend nochmal den eben erstandenen viel zu koketten Hut, dann lief ein schmaler langer Mann mit ganz knöchelkurzen Hosen vor ihm her, und ein kleines Mädchen strich sich halb beschämt, halb stolz ein fürchterliches Pluderröckchen glatt, wie er es eben im Schaufenster gesehen. Die angebotenen Waren fanden also wirklich ihre Käufer, die Menschen enthüllten sich auch in den Schaufenstern. Ganz entmutigt kehrte Urk gegen sieben Uhr heim. Was sollte das werden? Wie sollte er es hier aushalten?

Aber er kam noch nicht zur Ruhe. Zunächst musste er im Badezimmer feststellen, dass durch irgendeine Röhre eine peinigende Schallverbindung zu der Hinterwohnung geschaffen war. Alles, was sich im Baderaum und im W. C. drüben abspielte, musste er so mithören, als geschehe es in seinem Badezimmer. Aber ausserdem schien man drüben die Tür fast immer offen zu lassen, so dass alle Gespräche, der Lärm und das Gezänk einer mehrköpfigen Familie genau zu verfolgen waren. Etwas ferner gerückt, immerhin aber auch noch deutlich vernehmbar, waren die Geräusche aus dem zweiten und vierten Stock. Man stand also — wirklich sehr ärgerlich — in dem Badezimmer geradezu im Mittelpunkt eines unzerreissbaren Spinnetzes von Tönen.

Urk war zuerst ganz entsetzt. Dann aber schüttelte ihn ein heftiges, dröhnendes Lachen, ein Pferdswiehern beinahe. Einsam zwischen den Menschen stehen, hatte er das jetzt nicht gewollt? Es war nicht das erstemal, dass das Schicksal tückisch wie ein Orakel oder ein aufdringlicher Witzbold seine Wünsche erfüllte.

Gegen acht Uhr kam noch Elise mit dem Anmeldezettel. Es müsse nun sein, meinte sie wichtig, sonst wäre eine Polizeistrafe fällig. Ob sie gleich warten könne? Morgen früh schlafe der Herr ja doch noch. Urk setzte sich seufzend an den Schreibtisch und begann auszufüllen. Manfred Urk, geboren 15. August 1889 in Berlin, Dr. med. et jur., berufslos, konfessionslos, frauenlos. Er hielt inne, strich das Wort „frauenlos“ und malte sorgfältig „Witwer“. „Witwer“, sagte er und wandte sich zu Elise um, die, mit übereinandergeschlagenen, weit aus dem Rock herausragenden Beinen, in einem Sessel Platz genommen hatte, „Witwer ist man doch, wenn einem die Frau gestorben ist?“ Elise gackerte wie ein kleines Mädchen. „Still,“ zischte Urk plötzlich, mehr böse auf sich als auf das Mädchen, „still, ich bin Witwer.“

Und als müsse er das verwirrte und errötete Mädchen entschädigen, ging er auf eines der noch eingewickelten Bilder los, packte es aus und stellte es vor Elise hin. „Das ist sie“, sagte er ganz sanft. Elise sah das Bild an und seufzte. „So jung, mein Gott.“

Aber Urk hörte nicht mehr. Sollte er bei „letzter Wohnort“ Kolonie Schönfliess bei Dorf Kreuth am Ammersee schreiben? Das kam ihm wie eine Indiskretion vor. Ausserdem war er ja zuletzt bei Leschkas gemeldet. Er schrieb also: Würzburger Strasse 12IV bei Leschka, löschte die Tinte ab, reichte Elise den Zettel und schob sie hinaus. Dann nahm er das Bild seiner Frau und betrachtete es lange. Da, unter dem Mund hatte sich Staub angesetzt. Er wischte leise mit dem feuchten Taschentuch darüber und packte das Bild wieder ein.

Aus dem zweiten Stock kam Grammophonmusik, im vierten ging ein Mann stampfend und stapfend auf und ab, beinahe eine Stunde lang. Als er endlich Ruhe gab, fing im Hinterhaus ein wüstes Gezänk an. Das endete in Klatschen und Geheul. Täglich um Punkt elf prügelte der Ingenieur Strupp seine Frau.

Das fiebernde Haus

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