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Eines Morgens um 8 Uhr stand Mogreiner an Urks Bett und lachte ihn an. „Der Aufwachende ist immer hilflos“, nickte er vergnügt und legte seinen Hut auf den Eisschrank. „Mag er dort abkühlen“, sagte er pathetisch. Urk musste dann auch lachen. „Ganz recht“, antwortete Mogreiner auf Urks fragenden Blick. „Deine Mutter bat mich. Aber auch von mir aus hätte es nicht mehr lange gedauert.“

Urk richtete sich gemächlich auf und gähnte. „Das ist also der grosse Mogreiner, der laut Börsencourier die halbe chemische Industrie kontrolliert. Du bist ja noch mehr geworden, als wir beide erwarteten.“

„Übertreibung, leider Übertreibung“, murrte Mogreiner und wiegte bedauernd den etwas feisten grossen Kopf hin und her. „Knapp ein Viertel ist es, die Inflation war etwas zu früh aus, und obgleich es unter den alten Herren allerhand Dummköpfe gab, so gab es doch nicht genug Dummköpfe. Einige verlangten für ihren Besitz den vollen Wert.“

„Den du nie gezahlt hast.“

„Nein,“ bestätigte Mogreiner friedlich, „aber darum geht es jetzt auch langsamer. Gestern freilich habe ich eine glänzende Idee gehabt. Ich werde zunächst höhere Gehälter zahlen. Dann, wenn das die andern noch nicht ruiniert, höhere Löhne. In einem Jahre habe ich alle fähigen Köpfe in meinen Betrieben, und in zwei Jahren eine ausgezeichnete Arbeiterschaft.“

„Wenn aber“, warf Urk belustigt ein, „die Beamten und die Arbeiter auf die Idee kämen, den vollen Wert ihrer Arbeit zu verlangen?“

Mogreiner lachte laut und breit. Der ganze massige Körper wurde von den Stössen dieses Lachens erschüttert. Die Schultern zuckten, und die Hände, die nervös und fein von einem anderen Körper geliehen schienen, schlugen wirbelnd auf die Knie. Er beugte sich ein paarmal vor und zurück und versuchte zu sprechen. Aber das Lachen hinderte ihn immer wieder.

„Den Versuch“, sagte er dann schliesslich, immer wieder von Lachen unterbrochen, „den Versuch, die Arbeiter dazu zu bringen, macht man schliesslich seit fünfzig Jahren. Sie verlangen ja auch den vollen Wert, aber sie werden niemals begreifen, wie gross dieser Wert ist. Sie verlangen zu viel oder zu wenig und nie das, was ihnen zukommt. Darum bekommen sie immer zu wenig.“

„Darum?“ fuhr Urk auf. „Darum?“

„Beruhige dich,“ sagte Mogreiner ernst, „ich will weder jetzt noch sonst wann die soziale Frage lösen. Wahrscheinlich gibt es keine soziale Frage. Als Partei bin ich auch nicht sehr geeignet dazu. Ich habe nur immer gefunden, dass, wer zu viel verlangt, zu wenig bekommt, und wer zu wenig verlangt, auch zu wenig bekommt. Frechheit und Bedrücktheit kommen zu dem gleichen Misserfolg.“

Urk stieg langsam aus dem Bett, er schlug den Kragen seines blauleinenen Pyjamas hoch, steckte eine Hand in den Gürtel und begann nachdenklich, mit hochgestellten Haaren, auf und ab zu marschieren. Mogreiner schob seinen Stuhl in den Erker und setzte sich. Er öffnete das Fenster, holte schnell eine lange Zigarre aus seinem Etui und steckte sie umständlich an. „Bei offenem Fenster hoffentlich auch für Raucher“, sagte er entschuldigend und blies Wolken von unheimlicher Dicke ins Freie hinaus. Er behielt dabei die Zigarre dauernd im Munde. Es sah so aus, als lutsche er sie mit erheblicher Schnelligkeit ein.

„Übrigens bin ich“, sagte er unter fortwährenden Rauchstössen, „natürlich nicht gekommen, um dir zu versichern, dass ich mich freue, dich in Berlin zu sehen. Das ist selbstverständlich.“ Urk blieb stehen, zog eine Haarsträhne vor seine Augen, verbeugte sich und ging weiter. „Selbstverständlich nicht, weil ich dich liebe. Allerdings muss das auch einmal“ (er stand dabei auf und sah scheinbar interessiert auf die Strasse, so dass Urk nahe herankommen musste, um ihn zu verstehen), „das muss auch einmal und für immer gesagt sein. Ich liebe dich. Du kannst dich auf mich verlassen. Der einzige Mensch, der sich auf mich verlassen kann.“

Er wandte sich jäh um, stieg die Erkerstufe stampfend hinunter und stellte sich breit vor Urk hin, um sein Auf- und Abgehen zu unterbrechen.

„Lass dir das gesagt sein,“ fuhr er leise und zaghaft fort, „schliesslich musst du es ja mal gesagt bekommen, damit du es weisst.“ Urk legte ihm die Hand auf die Schulter und sah in das verkniffene Bulldogg-Gesicht, unter dessen erschüttertem Fett sich ein Gefühl erheben wollte. Er wollte etwas Abwehrendes tun. Was ging ihn dieser Mensch da an? Mochte er lieben, wen er wollte. Mogreiner hätte gern noch mehr gesagt. Es hatte ihn die Sucht gepackt, sich anzuvertrauen und zu entblössen. Welch merkwürdige Wollust, welch köstliche Betrunkenheit, das sagen, was man denkt!!

Dann aber spürte er die Abwehr Urks doch. Er riss sich zusammen, ging schwankend auf seinen Platz zurück und schwieg. Auch Urk sagte nichts. „Es musste also gesagt sein“, nahm Mogreiner das Gespräch auf, und seine Stimme war wieder ganz geschäftsmässig. „Damit du mein Angebot verstehst. Du sollst als Direktor zu mir kommen. Als meine rechte Hand. Als mein Kompagnon. Mogreiner und Urk — was wir vor fünf Jahren als Fusion planten, soll nun werden.“

Urk kam langsam vom Ende des Zimmers her. Er hielt den Kopf gesenkt, so dass der Bart jetzt den Ausschnitt des Pyjamas zudeckte, und ging Schritt für Schritt, sorgfältig ein bestimmtes Teppichmuster betretend, auf Mogreiner zu.

Vor der Erkerstufe blieb er stehen, sah auf und lächelte. „Die Voraussetzungen stimmen nicht“, sagte er dann verbindlich. „Dein Vater ist zwar tot, aber mein Vater lebt noch. Ich könnte wohl ein Viertel des Urkschen Besitzes bekommen ...“

Nein, so sei das nicht gemeint, murmelte Mogreiner mutlos. Er sei gross genug, man könne zu zweien ganz gut damit anfangen.

„Nein, ich nehme nichts geschenkt“, sagte Urk scharf, und er wollte hinzufügen: „denn ich liebe dich nicht.“ Aber er bezwang sich und sah nur Mogreiner mit zusammengekniffenen Lippen streng an.

Mogreiner wusste, dass sein Angriff fehlgegangen war. „Geschenkt?“ brauste er in einem letzten Versuch auf. „Geschenkt? Rede keinen Unsinn. Ich kenne deine Fähigkeiten, ich weiss, was du wert bist. Ich will dich für meine Unternehmungen kaufen!“ — „Nein,“ sagte Urk scharf, „ich will nicht.“ Mogreiner warf die ausgelutschte Zigarre zum Fenster hinaus und wandte sich um. Er war bleich und hielt eine kleine, leise zitternde Hand auf sein Herz, das ihn schmerzte. Aber über sein Gesicht hatte er Gewalt. „Wenn du heute nicht willst, komme ich morgen wieder oder übermorgen“, sagte er leise und lächelnd. „Denn da dein Vater sicher noch zehn Jahre lebt, da du aber mit deinem Vater nicht arbeiten kannst, musst du ja zu mir kommen. Du bist nicht zum Kuli geboren, und was willst du ohne Arbeit machen?“

Urk schüttelte den Kopf. „Ich weiss es nicht, ob ich ohne Arbeit leben kann.“ Er trat ganz nahe an Mogreiner heran. Die Hilflosigkeit des Riesen rührte ihn. Er setzte sich seufzend auf die Erkerstufe. „Weisst du,“ sagte er, „ich kann wirklich nicht beurteilen, was wird. Ich habe immerhin allerhand gearbeitet, geistig und körperlich, für mich und für andere, als Unternehmer, als Bauer, als Wissenschaftler, ich habe nichts gefunden, um das es sich lohnt. Geld haben ist schön. Viel Geld haben ist vielleicht schön, weil es Macht bringt. Keine Bedürfnisse haben, ist auch schön. Gar keine Bedürfnisse haben, bringt vielleicht auch Macht. So oder so. Das eine ist gut, und das andere ist gut, und man kann arbeiten, um es zu bekommen. Aber wenn man es dann hat ...“ Er stand auf und ging, mit den Armen schlagend, zur Tür. „Ich weiss nicht, was man dann tun soll. Wozu“, rief er und kam wieder angelaufen, ja er drängte sich geradezu an Mogreiner heran, „wozu ist Arbeit gut? Oder deutlicher: Muss ich diese unsinnige, menschenfressende Arbeit auch dann machen, wenn ich gut mit mir fertig werde? Ist nicht die Arbeit, die wir geleistet haben, ein Rausch wie andere?“

Mogreiner begann, Fassung und Farbe wieder zu bekommen. Nein, über den Sinn des Lebens philosophiere er nicht. Er sei vom Unsinn felsenfest überzeugt, und Arbeit: die sei doch wenigstens handfest und ganz und gar fraglos da. Und nun, nachdem der erste Angriff abgeschlagen, müsse er gehen.

Er setzte seinen Hut umständlich zurecht, zog die hellgelben Handschuhe an (immer noch, stellte Urk fest, liebte er zu unauffälliger Kleidung eine kleine Extravaganz) und verabschiedete sich schnell. Er schien es sogar sehr eilig zu haben; denn kaum, dass Urk ans Fenster getreten war, erschien er schon unten, sprang ins Auto und fuchtelte so lebhaft mit seinem keulenartigen Stocke, dass es aussah, als peitsche er den Chauffeur zu äusserster Eile.

Urk verliess bald darauf auch das Haus. Er hatte sich dieses Mal nach neuester Mode angezogen, obgleich er kein Ziel hatte und keinen Zweck mit so sorgsamer Toilette verband. Er trug zu einem mausgrauen Anzug einen Raglan aus dem gleichen Stoff, Stiefel mit Wildledereinsatz aus gleichem Grau, Handschuhe von der gleichen Farbe. Auf dem Kopf trug er einen winzig kleinen steifen Hut, langhaarig und dunkelgrau, wie ihn die englische Mode gerade vorschrieb. Er hatte den Hut tief in Nacken und Stirn gezogen. Nur Ohren und Gesicht waren sichtbar, und von hinten gingen Hut und Mantel ineinander über. Gegen dieses Grau in Grau erschien seine Haut auf den ersten Blick weiss. Aber sie hatte eine ungesunde Kellerfarbe und sah zwischen dem hellen Weiss des Kragens, dem Schwarz des Bartes und dem Dunkelgrau des Hutes krank und grünlich aus.

Wie Urk nun, die linke Schulter ein wenig hochgezogen, in der rechten Hand den dicken Bambusstock schwingend, eilig in die Kleiststrasse einbog, wehte von seinem Gesicht eine erstarrende Verlassenheit. Das lag wohl hauptsächlich an der Starrheit der Augen, die sozusagen wirklich nicht bei ihm waren, sondern tot und gläsern vor ihm herstarrten. Seine Gedanken gingen vor ihm her, und er folgte, magnetisch angezogen von ihrer Leere, von der Ungewissheit, von der hellen und betrübenden Zwecklosigkeit.

„Du magst es wenden, wie du willst,“ sagten die Gedanken, „es ist lächerlich, dazusitzen und auf die Erleuchtung zu warten. Tue irgend was. Die Lösung liegt nur im Tun.“

„Die Lösung liegt nicht im Tun,“ antwortete Urk leise und blieb stehen, indem er scheinbar aufmerksam den Feuerwehrmännern zusah, die einen entgleisten Wagen der Elektrischen in die Schienen hoben, „sondern sie begleitet manchmal das Tun. Ich habe mit dem Kopf und mit den Händen gearbeitet“, wiederholte er eifrig das Gespräch mit Mogreiner. „Ja, die Landarbeit war schön. Da vergass man sich. Dann starb Annette.“ Er hielt in seinen Gedanken schroff inne, er zwinkerte ein paarmal mit den Augen, die ihn schmerzten. Was hatte die Landarbeit mit Annettes Tod zu tun? Die Zusammenhänge mussten zu finden sein.

Als er dann seine Augen aufhob, begegneten seine Blicke den Blicken der verrückten Erna Bermann. Sie stand zwei Schritte vor ihm und lächelte ihn an. Sichtlich erkannte sie ihn wieder. Der Blick glitt aus der leeren Starrheit heraus (die, wie Urk mit leisem Schreck erkannte, nicht so unähnlich seiner Starrheit von vorhin war), und die Augen waren für Sekunden mit einer reinen und einfachen Freude erfüllt. Das Gesicht freilich konnte dem Erkennen nicht folgen und blieb starr in seinen blöden Falten. Die Hände, die vielleicht greifen wollten, schlenkerten unbeholfen.

Dann war auch das Erkennen vorbei. Die Augen erstarrten wieder ganz zu Gallert. Die Verrückte wandte sich rasch und ängstlich um und klammerte sich an ihren Begleiter. Das war der zerlumpte Russe Kohlomann, der ein paar Schritt zurück aufmerksam die Begegnung beobachtet hatte. Er schien Urk zu kennen, denn nachdem er die Kranke untergehakt hatte, schwenkte er freundlich grüssend seine Mütze, ehe er mit seiner Begleitung den Weg fortsetzte.

Urk sah den beiden lange nach. Ergreifend war, wie Kohlomann den zuckenden Bewegungen, dem leichten Schwanken der unsicher Gehenden nachgab, wie er sie stützte und hob, fast ohne sie anzufassen, wie er sie losliess und einfing, je nach ihrer Kraft und der Schwierigkeit des Weges. Es schien, als merke sie ihn kaum, und man sah, dass seine ganzen Bemühungen darauf gerichtet waren, immer noch unmerkbarer zu sein.

Erst als das Paar um die Ecke verschwunden war, setzte Urk seinen Weg fort. Ihm war etwas freier zumut. Er sah in einem der mageren Vorgärten eine Magnolie in halber Blüte stehen, die Kastanie hatte dicke Knospen, an vielen Balkonen schnitt man den wilden Wein und brachte die Topfpflanzen ins Freie.

Das Steigen der Säfte, das geheimnisvolle Entfalten war zwischen den Häusern so gut zu spüren wie draussen. Es schien Urk sogar, als nähmen hier Wände und Menschen mehr teil an dem Frühling, als dehnte sich Mauer und Haus, um aufzublühen durch den tollen Druck der Erdsäfte, die selbst unter dem Asphalt kreisen, die in Unkraut und Gras aus allen Ritzen der Steine schlagen, die in tausendfältiger Gestalt und auf hundertfältigen Umwegen auch die verwüstetsten Menschen zu Blüte und Frucht zu treiben suchen.

Urk spürte das wohl, und indem er die Strassen entlangschlenderte und jedes bisschen Gras, jedes Blättchen und die ersten Blüten von Krokus bis zu Veilchen durstig anschaute, spürte er eigentlich auch sich selber fruchtbar werden. Nur eines hinderte ihn, in den Besitz dieses Spürens zu kommen: Er misstraute sich bis ins letzte. Und während andere aus der Ehrlichkeit der Ablehnung, aus der Schärfe der Scheidung zwischen wahr und unwahr, fruchtbar und verwüstend Stärkung ziehen, schwächte ihn jede Erkenntnis. Er glaubte, dass hinter jeder Erkenntnis zwiebelähnlich die nächste sitze, die dem Kern noch näher sei, und dass der Ehrliche wahrscheinlich den Kern seines Wesens wegschälen müsse.

Wahrheit und Tod schienen ihm ein untrennbares Bündnis eingegangen zu sein, und nicht unmöglich, dass Wahrsein die Selbstaufgabe bedeutet, gegen die sich Urks im Grunde unverbrauchte Kraft mit wildem Trotz erhob.

*

Urks Marschtempo wurde durch seine Grübeleien immer wesentlich beeinflusst. Je offener und freundlicher seine Gedanken, um so langsamer und gemütlicher pflegte er zu gehen; sobald er sich jedoch in die Probleme verbiss, die ihn seit Jahren unklar bedrängten, und die seit Annettes Tode als klare Fragen Antwort verlangten, beschleunigten sich seine Schritte, und manchmal hinderte ihn nur die Angst vor den Strassenmenschen daran, in Galoppsprüngen durch die Strassen zu hetzen. Auch auf diesem Spaziergang wäre er am liebsten über den Kurfürstendamm gestürmt, schnurgerade an den Bäumen entlang bis in den Wald. Mit einiger Anstrengung zügelte er sich. Immerhin war das Tempo seines Marsches auffällig schnell, und als die Sonne für zehn Minuten durch die träge ziehenden Wolken brach, geriet er sogar in Schweiss. Er musste ein paarmal stehen bleiben, den engen Hut vom Kopf ziehen und die feuchte Stirn abtrocknen. Schliesslich behielt er gegen seine eigentliche Gewohnheit den Hut in der Hand, nachdem er das stark gewellte schwarze Haar mit einigen Strichen des Taschenkamms etwas glatter an den Kopf angelegt hatte. Er nahm gerade seinen Weg wieder auf, nachdem er erstaunt festgestellt hatte, dass er sich bereits in der Gegend des Olivaer Platzes befand, als er auf Renate Schwab stiess, die, aus einem Mietsauto steigend, unmittelbar an Urk vorbei in einen Laden gehen wollte.

Schreck oder Zündung? Sie wussten es beide nicht, denn sie beherrschten sich meisterlich nicht nur vor anderen, sondern auch vor sich selbst. Nachdem sie sich kaum zwei Sekunden wortlos und forschend angesehen hatten — die Gesichter nur unmerklich vorgelehnt und die Augen ein wenig wie geblendet zusammengekniffen —, war die Begrüssung höflich, ja herzlich und scheinbar ohne Verlegenheit.

Sie sei mit Ronny Schwab hier. „Mit meinem Mann, falls du das nicht weisst“, nahm Renate die Unterhaltung auf. Urk nickte. Er wusste es genau. Er verbiss sich bereits wieder in dieses merkwürdige Gesicht, das schmal, steil, dunkelhäutig in zwei deutlich ungleiche Hälften zerfiel. Wirklich, es war in der begonnenen Entwicklung weitergegangen und nun nach drei Jahren noch deutlicher zu sehen: Die rechte Gesichtshälfte war glatt, klar, zusammengefasst. Unberührt wie je. Die linke schien unter der Haut zerstört, ein wenig schwammig, verbraucht, ja sie war von einer messerscharfen Linie durchzogen, die an der Nase entlang bis zum Mundwinkel lief. Das linke Auge war starr und dunkler als das rechte. Es war eigentlich nicht mehr blau, sondern schon schwarz. Im ganzen war das Gesicht — von ganz hellen Haaren umschienen und von einem kornblumenblauen Hütchen eingerahmt — in seiner Unausgeglichenheit, in seiner Gegensätzlichkeit von Wissen und Nichtwissen, von Funke und unentzündbar, von verbrannt und Eis, welk und Knospe, war das Gesicht für Unwissende von einem schneidenden Reiz. Wissende hätten erkennen können, dass das eigentlich und aufreizend Lasterhafte weniger aus der Gegensätzlichkeit kam als aus jener Einheit, die hinter dem Gesicht wohnend ihm die verderberische Leuchtkraft verlieh: der Einheit der Unberührbarkeit. (Diese Unberührbarkeit schliesst die beiden Gegensätze Jungfrau und Nymphomanin ein. Nur Frau und Mutter ist darin, allen christlichen Deuteleien zum Trotz, nicht enthalten.)

Urks erste gesunde und natürliche Bewegung war nach der Flucht hin. Sollte die Passion des Geschlechtes noch einmal beginnen? „Nein“, schüttelte er den Kopf und sah Renate abwehrend an.

„Und deine Frau?“ fragte Renate langsam. Urk schüttelte den Kopf noch einmal. „Sie ist vor einem halben Jahr gestorben“, sagte er mit trockenem Gaumen.

Renate sah ihn erstaunt an. „Das weiss ich natürlich. Ich wusste auch, dass du in Berlin bist. Nein, ich frage nach dir. Trauerst du?“

Urk hörte zuerst nicht auf ihre Worte. Er lauschte auf die Stimme, die, eine fast farblose Samtstimme, immer noch für den ersten Augenblick bezaubernd klang. Aber dann erinnerte er sich, dass Tonlage, Tonfall, Tonstärke dieser Stimme sich nie änderten, dass es immer das gleiche, halblaute, monotone Sprechen blieb.

„Du schreist immer noch nie“, sagte Urk leise und errötete über das ganze Gesicht weg.

Renate lächelte ein wenig. Der Kontakt zwischen Urk und Renate war geschlossen.

„Nein, ich schreie nie“, sagte sie leise und begann ein bisschen weiter zu schlendern. „Auch Ronny hat sich in den Kopf gesetzt, dass ich schreien müsste. Er findet aber auch nicht, was schreien macht. Nein, er findet es nicht.“

Urk ging einen halben Schritt hinter ihr und hörte höflich zu. Ein wenig schien ihm die Schulter Renates gebeugt, etwas steif war der schmale Rücken geworden, nur die Lebendigkeit der Hüften war geblieben und das katzenartige Anheben der Oberschenkel, das lautlose Aufsetzen der Füsse, durch das ihr Gang schwer und schwebend wurde, melancholisch und aufreizend wie ihre Stimme.

„Ja, ich traure“, antwortete Urk nun scharf. „Ich traure wahrscheinlich sogar sehr.“ Er liess den Stock ein wenig durch den Sand scharren, der auf einem Teil des Gehsteigs frisch aufgeharkt war. Er blickte gespannt nach rückwärts auf die Schlangenlinie, die der Stock zog. Renate beobachtete ihn scharf. Der Bart war verzeihlich, vielleicht stand er ihm sogar gut. Aber der steife Hut war unmöglich. „Nimm doch bitte den Hut ab,“ bat sie, „es ist nicht anzusehen.“

Urk nahm den Hut ab und schämte sich, dass er diesen Wunsch so schnell erfüllte. „Ja, ich traure“, fing er dann noch einmal ruhig an. „Ich bin nämlich nicht gefühllos. Ganz und gar nicht gefühllos. Nur meine Gefühle liegen auf einer anderen Ebene.“ Er ärgerte sich, dass seine Stimme sich etwas nach Renates Stimme färbte.

„Es mag ja sein,“ sagte Renate uninteressiert, „warum sollst du schliesslich keine Gefühle haben? Ich habe ja auch Gefühle, nur auf einer Ebene, wo ich sie nicht erreichen kann.“

Sie blieb ungeduldig stehen und sah nach der Uhr. Man hätte eine Tasse Kaffee zusammen trinken können. Nun freilich sei es zu spät. „Ich werde dich besuchen“, schloss sie kurz, reichte Urk die Hand und sprang in ein Auto. „Nein,“ wollte Urk hinterherrufen, „nein, ich will nicht“, aber er schrie, indem er ein paar Schritt neben dem Wagen herlief, nur seine Adresse hinein.

Renate beugte sich weit aus dem Auto, lachte und winkte, solange Urk zu sehen war. Dann holte sie den Spiegel aus dem Täschchen und sah sich so gründlich an, wie es bei dem Stossen und Stuckern des Autos ging. Nein, man sah nichts, dachte sie zufrieden und atmete auf. Und man hörte auch nichts. Im Gegenteil, ich habe ganz lustig gesprochen. Sie fühlte vorsichtig den Hals entlang. Das Herz schlug noch stark in der Halsader. Wie gut, dass sie heute die hochgeschlossene Bluse trug. Denn Urk beobachtete scharf. Er war nicht ganz so einfach zu betrügen. Und doch einfach: dieser Mann hatte wahrhaftig nichts von ihrer Liebe geahnt. Er ahnte noch heute nicht, wie sehr sie ihm verfallen war, wie sehr sie ihn liebte oder, was ihr das gleiche zu sein schien, wie sehr sie ihn hasste. Während dieser Selbstgeständnisse sah sie sich unverwandt in dem Spiegel und achtete streng darauf, dass keine Miene, keine Falte ihre Gedanken ausdrückte. Es gelang gleich ganz gut. Nur die Funken in den Augen waren zuerst nicht erloschen. „Auslöschen,“ befahl sie streng, „auslöschen.“ Da wurde erst das dunkle matt und dann zögernder das helle. Sie nickte befriedigt, steckte den Spiegel ein und lehnte sich langsam zurück. Sie begriff, dass der Kampf vor drei Jahren gar nicht mit ihrer Niederlage und mit dem Sieg Annettes geendet hatte. Nein, der Kampf war ohne Entscheidung abgebrochen und soeben wieder aufgenommen. Und das, was jetzt begonnen hatte, war der schwerere Kampf, der vielleicht wirklich bis zur Entscheidung durchzufechten war.

Ja, bis zur Entscheidung, fühlte auch Urk, als er die Tür zu seinem Zimmer aufschloss. Es war ihm sehr merkwürdig, dass in diesen Wänden noch nichts von Renate zu spüren war. Nichts erinnerte an sie, nicht einmal Hand oder Handschuh rochen nach ihr. Nicht ein Fleckchen der Haut hatte ihre Haut getroffen.

„Ich bin unberührt“, lächelte er und stand unschlüssig im Zimmer. Die Sonne kam gerade über das Dach des Gartenhauses, streifte die Kahlwipfel der Platane und fiel über das Fensterbrett auf den blauen Teppich, auf seine Schuhe. Das Klappern von zwei Schreibmaschinen, eine Köchin, die zur Arbeit sang, ein erschütterndes Klopfen von Matratzen wurde vom Winde herangespült und ebbte wieder zurück. Ein bisschen gedämpfter war das alles zur Zeit des heiligen Mittagschlafes. Urk schloss das Fenster. Es wehte wohl doch ein bisschen kühl herein.

Urk nahm das immer noch eingewickelte Bild Annettes und befreite es langsam von seinen Leinenhüllen. Dann lief er gegen seine Gewohnheit durch die ganze Wohnung in die Küche, liess sich Hammer und Nagel von Elise geben und hängte das Bild dicht über dem Lehnsessel an dem Ofen auf.

Es hing eigentlich zu tief, aber ihm war es so recht. Er betrachtete es aufmerksam. Es schien ein meisterhaftes Porträt zu sein. Denn auch ein Fremder musste gepackt werden von der ungemein lebendigen Anmut dieses zierlichen und bedeutenden Gesichtes. Auffällig waren die vorgeschobenen stark geschwungenen Lippen, die zu den zarten Linien von Kinn und Augenbrauen nicht ganz passten. Die höckrige Eigenwilligkeit der Stirn und der feine Schwung von Schläfe, Wange und Kinn, das zarte, gelockte, nussbraune Haar machten den Reiz des Gesichtes noch einprägsamer. Das Alter Annettes war nach diesem Bilde nicht zu bestimmen. Denn während man nach Form und Farbe kaum auf zwanzig geschätzt hätte, konnten die Augen einer Vierzigjährigen gehören.

„Die Augen waren nie so dunkel“, murmelte Urk, aber dann besann er sich. Als er am Sterbetage in Annettes Zimmer trat, hatten die Augen gerade diese Farbe. Das fiel ihm jetzt erst auf.

„Woher sah der Maler diese Todesfarbe ein ganzes Jahr, bevor sie starb?“ flüsterte Urk entsetzt. Er setzte sich auf den Stuhl und stützte die Hände auf die Knie. „Und ich sehe erst jetzt, dass sie sterben wollte“, dachte er. Er wurde langsam von den Füssen her starr, über eine Stunde blieb er empfindungslos sitzen.

Das fiebernde Haus

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