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III

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Am 1. April wachte Urk früher als sonst auf. Ein Autobus stampfte vorüber und liess das Bett im Erker zittern und leise schwanken. Das wiederholte sich jeden Morgen kurz nach sechs, denn man hatte eine neue Autobuslinie eingerichtet, die durch die Lutherstrasse ging.

Urk wollte sich eigentlich an langes Schlafen gewöhnen. Das Stadtleben strengte ihn immer noch sehr an. Aber dieser erste Wagen schnitt mit seinem Stampfen jeden Schlaf durch. Die kurze Spätnachtstille der Grossstadt wurde damit beendet, und die Geräusche hörten dann nicht mehr auf. Urk mochte zuerst nichts hören und nichts sehen. Was ging ihn die Stadt, was ging ihn das Haus an? Aber erst waren es die Geräusche, denen er nachsann. Dann sah er schon den ersten Menschen nach, fing ihre Namen auf, wurde mit ihren Gewohnheiten und Beschäftigungen bekannt, und schon nach einer Woche hatte das Erwachen des Hauses keine Geheimnisse mehr für ihn. Er konnte bald die regelmässigen Geräusche von den unregelmässigen unterscheiden.

Da kam erst das dumpfe Poltern der Kohlen im Heizraum. Dann schrillten die ersten Wecker. Die Brötchenholer und Bäcker stapften über das Pflaster, und während die Proletarier unter den Arbeitern, die um sieben Uhr an der Arbeit sein mussten, das Haus verliessen, setzten die Wecker der besseren Arbeiter ein, der kleinen Bureauangestellten, begann Gähnen und Zank der Mittelständler, deren Arbeit um acht Uhr anfing. Sie gingen aus dem Haus, begleitet von den Schulkindern, die es arbeitsmässig so schwer hatten wie die Erwachsenen, die ihren eintönigen und bedrückenden Pflichten nachkommen mussten, ohne die Rechte der Erwachsenen zu haben. Zwischen halb neun und neun gingen die gehobenen Angestellten fort und die kleinen Beamten, eine ganze Kolonne von mittelmässigen Existenzen, um die es sich nicht viel Aufhebens lohnt, während die Selbständigen und die Prokuristen noch beim Kaffee sassen, einen Blick in die Zeitungen warfen und, zwischen den Zigarrensorten kramend, ein Sortiment für den Tag zusammenstellten. Sie fingen offiziell erst um zehn Uhr zu arbeiten an, obgleich manche schon eine viertel, ja eine halbe Stunde früher auf dem Posten waren.

Ministerialrat Garleb zum Beispiel verliess stets um 9 Uhr 8 Minuten das Haus. Er legte Wert darauf, den Wagen der Linie 60 zu erreichen, der um 9 Uhr 16 die Motzstrasse passierte und zwischen 9 Uhr 32 und 35 beim Ministerium eintraf. Um 9 Uhr 12 fuhr Direktor Wagenknecht von der D-Bank in seinem kleinen Auto fort. Kurz danach stürzte Fräulein Messerschmidt aus dem Haus, in der linken Hand eine Zigarette schwingend, während die rechte Hand die graue Kostümjacke über dem quellenden Busen zu schliessen suchte. Fräulein Messerschmidt hätte um 9 Uhr in ihrem Bureau sein müssen, und man kann sich denken, warum sie es sich erlauben durfte, beinahe täglich eine Stunde nach Arbeitsbeginn zu erscheinen.

Fräulein Messerschmidt auf den Fersen folgte Herr Pellmann jun., mit seinem Vater zusammen Inhaber des bekannten Antiquariats Pellmann Söhne, ein Mann, der mit erst vierzig Jahren bereits eine Autorität auf dem Autographenmarkte war. Pellmann jun. führte, obwohl seine Beine genügend gebogen waren, seinen Dackel Ecke mit sich (ein ungewöhnlicher Name, der sich von der Hundevorliebe des Dackels für Ecken herleitete und so recht den treffenden Witz Pellmanns illustriert). Hinter Pellmann jun. winkte mit reichlichem Juhu Frau Pellmann jun. her, während Pellmann sen. mit seiner Frau um 9 Uhr 45 ein kräftiges „Auf Wiedersehen“ wechselte.

Dass der Agent Knöter erst um 9 Uhr 50 schwer keuchend mit zwei Handtaschen das Tor passierte und seinen Tag begann, war weniger durch die Gehobenheit seiner Stellung bedingt als durch die Tatsache, dass die Chefs ja doch erst nach 10 Uhr zu sprechen waren. Um Punkt 10 Uhr beendete der Filmdirektor Hutscheer den Reigen der Regelmässigen, nachdem bereits eine Viertelstunde lang sein Chauffeur eine fürchterlich lärmende Mahnung gehupt hatte. Mit Hutscheer fuhr häufig seine dreizehnjährige Tochter, ein zierliches Mädchen mit einem ihrer verstorbenen Mutter nachgemachten lasterhaften Zug um die Lippen, ein frühreifes Geschöpf, das sich oft tagelang in den Filmateliers herumtrieb, und dessen Unterricht in den Händen eines modernen Pädagogen lag, der viermal wöchentlich ins Haus kam.

Nach 10 Uhr blieben dann nur noch die Hausfrauen zurück, die mit Lärm ihr Hauswerk begannen, oder, wenn sie besser gestellt waren, schnatternd an den Telephonhörern hingen, die Haustöchter, die auf den Mann warteten oder auf Abenteuer sannen, die kleinen Kinder, die auf der Strasse herumbrüllten, die Treppenhäuser und den Hof nach Unterhaltungsmöglichkeiten durchforschten und die schlechten Launen der Erwachsenen ausbaden mussten, und endlich die unsicheren Kantonisten beider Geschlechter und jeglichen Alters. Die Rentner und Pensionierten, die Arbeitslosen und Abgebauten, ein Schriftsteller, ein Schauspieler, zwei Verhältnisse, der Schuster im Keller, die Pastorenwitwe Möhle, die eine Art Pension im Hinterhaus hatte (ein Heim für Heimatlose, pflegte sie zu sagen, wenn die Portionen gar zu mager wurden), der schon erwähnte Referendar a. D. Dr. Bresch (kurz gesagt, ein Commis voyageur in geistigen Dingen), der Ingenieur Strupp, der von Gott weiss was für dunklen Geschäften lebte, die Malerin Fräulein Vogeley, der praktische Arzt Dannhauer, der auf Kundschaft wartete, der Privatdetektiv Schürf, der halbe Tage mit dem Portier und dem Schuster Skat spielte, Herr Falluhn, der angeblich Beziehungen zu den Sowjets hatte, die Prostituierte Ida Herbst, ein reicher Mann namens Hans Georg Bienert, und endlich Urk.

Urk: das war nun freilich für Urk das schwierigste Kapitel. Er sass da in seinen Zimmern und dachte eifrig über die Menschen des Hauses nach, als gingen die ihn etwas an. Er lief oft durch seine Zimmer über den Flur weg, vom Strassenfenster zum Hoffenster, um einem Bewohner nachzuschauen, oder einen Besucher als nicht hierhergehörig zu entlarven. Nachdem er erst einmal damit angefangen, trieb er es bald als einen Sport, die Struktur des Hauses schnellstens zu erforschen, immer genauer zu erfühlen, was denn eigentlich in diesem Gewirr von Zimmern, diesem Komplex von Steinschachteln sich vollzog, begann, vollendet wurde, aufhörte.

Es hatte ihn ganz wider sein Erwarten und seinen Willen ein Jagdfieber gepackt. Das war das genaue Gegending seines bisherigen Lebens. Urk, der während dreier Jahre monatelang mit keinem anderen Menschen gesprochen hatte als mit seiner Frau, Urk, der tagelang auch mit seiner Frau oft kaum ein Wort gewechselt hatte, erkannte jetzt erst Sinn und Abgrund des Wortes Dasein. Dasein: das hatte er doch wohl beinahe gehabt? Oder gar ganz? Es war ihm, als müsse er hinter sich greifen, um sich festzuhalten. Sei es, dass er auch nur den Schatten der Toten umarmen könne oder seinen eigenen starren Schatten. Die Gesellschaft der toten Annette, das vergangene Dasein, das war bunt und trächtig gegen dieses eingetrocknete, aschene, ausgelaugte Leben, das ihn nun umgab.

Jeder dreht sich um sich, dachte er, das ist klar. Jeder dreht sich für sich, das mag auch sein. Jeder dreht sich nach dem gleichen Gesetz, das ist selbstverständlich. Warum aber spürt niemand, dass alles Lebendige nach Ursprung, Dasein und Ziel, nach Anfang, Mitte und Ende, nach Ursache und Wirkung dem Gleichen entstammt, das Gleiche ist und das Gleiche erstrebt? Was soll diese Fiktion der Feindseligkeit von Mensch zu Mensch. Keiner kann den zu Fall bringen, der sich nicht selbst zu Fall bringt. Die Feindschaft gegen Menschen ist nur die Feindschaft gegen dich selbst. Der Kampf ums Dasein nur der Kampf um dich selbst.

Gegen Abend notierte er in sein Tagebuch, dem er immer nur die Resultate, nie die Wege seines Denkens anzuvertrauen pflegte: „Dasein ist eine Fiktion, handle danach. 7. 4. 25.“ Als er das niedergeschrieben hatte, stutzte er und musste lachen. Nein, so war es noch nicht richtig. „Dasein“, verbesserte er, „ist eine Fiktion. Also gefährlich.“

Dann trat er ans Fenster, von der Platane erhob sich ein Schwarm von Spatzen, lärmte durchs Gebüsch und kehrte ins Geäst zurück. Die Katze, deren Fell fast genau die Farbe der beginnenden Dämmerung hatte, setzte sich zu Füssen des Stammes, fromm und ergeben den Blick hinauf gerichtet, als habe sie nie jagen wollen. Über die Häuser weg tönte das Pfeifen eines Stares. Vielleicht fünf Minuten lang war der Hof ganz leer. Dann kam Kohlomann mit einem Ascheimer, den er umständlich säuberte, in den Küchen flammten die ersten Lichter auf. Bald wurden ein paar andere Zimmer hell. Und da man noch nicht die Vorhänge vorzog, konnte man weit hineinsehen. Da sassen im Gartenhaus eine ganze Anzahl Damen um einen Tisch und bewegten die Köpfe hin und her, Fräulein v. Meyer hob eine Näharbeit ins Licht der Lampe, und ganz unten hielt eine Mutter ein scheinbar krankes Kind in die warme Luft hinaus, während ein Mann im Hintergründe das Bett aufschichtete. Bald kamen dann die Berufsleute heim, überquerten schnell und türenschlagend den Hof. Hier und da kam ein Lachen zu den Fenstern hinauf, oder der Rauch der abendlichen Zigarren, öfter noch Lärm und Türenschlagen, Geschrei und Fluchen. Die Übermüdeten zankten sich mit den Gelangweilten, ab und zu schrillte ein Telephon, wurde Zank von Ferngeschwätz unterbrochen. Je kühler es wurde, um so ferner rückte der Lärm, weil die Fenster geschlossen wurden oder zuknallten. Schliesslich war es, als stöhnten nur einzelne Steine, als wimmerten die Mauern in den Fugen, als zitterten die Wände unter dem Ansturm von Zorn, Verzweiflung, Gereiztheit und Feindschaft.

Als sich Urk endlich abkehrte und auch sein Fenster schloss, war er nicht weitergekommen. Er hatte die Arme auf dem Rücken verschränkt und schaukelte sich ein wenig in den Knien. Immer unklarer wurde ihm der Sinn seines Schicksals. Die Frage, um die seit sechs Monaten ruhig und unablässig sein Denken und Handeln kreiste, die Frage, warum ihm seine Frau gestorben war, wurde quälend, weil er zu gar keinem Ergebnis gelangte.

Nun kam das Dunkel. Wieder war ein Tag vorbei. Er hatte hinter den Menschen hergesehen, hatte sie beobachtet und belauscht. Er, der einzig Untätige zwischen den Tätigen. Untätig? Das war nur gut! Um dieses Leben lohnte es nicht, eine Hand zu heben.

Plötzlich musste er im Grübeln innehalten und erschreckt Licht machen. Nah und sehr verstärkt tönte das Wimmern des Zornes und der Feindschaft, das er eben hatte aus den Mauern schwingen hören. Deutlich war da ein gereiztes, bellendes Weinen, nicht mehr ganz menschlich und noch nicht tierisch, ein leises, durchdringendes Schluchzen und Stammeln, als wolle ein Sprachloses Sprache gewinnen.

Ohne nachzudenken lief Urk durch den Flur, riss die Tür des Berliner Zimmers auf und machte Licht. Das Wimmern setzte einen Augenblick aus. Dann aber kamen kleine rauhe Schreie aus der Ecke. Das musste — ihm fiel es nach einer Gedankenpause des Erstaunens ein — natürlich Erna Bermann, die verrückte Tochter der Bermanns, sein.

Das war freilich nicht ohne weiteres ein Mensch zu nennen. Ein schwammiger, fast viereckiger Körper stand da auf zitternden und dicken Beinen, ein niedriger Hals schien von einem quadratischen breitbackigen Kopf zwischen die Schultern gedrückt. Ein Gesicht war Urk zugewandt, das, von einer Menge starrer und tiefer Querfalten durchzogen, etwas halb greinendes, halb überanstrengtes hatte. Ein Gesicht, das, eine Mischung von Baby und Greis, die Hilflosigkeit beider Menschformen vereinigte. Üppige Frauenlippen leuchteten rot aus dem käsigen Weiss der Haut, aber ein deutlicher Schnurrbart zerstörte auch diesen Reiz. Die blauen Augen waren gross und schön, und hinter ihrer erschreckenden Starrheit leuchtete vielleicht zuweilen etwas Menschliches.

Da Urk, die Hand am Lichtschalter, regungslos stehengeblieben war, liess die Verrückte langsam ihre abwehrend erhobenen Arme sinken, hob sie noch einmal halb und liess sie dann fallen, als wären Gewichte daran. Sie lachte sogar, rauh, heiser und gutmütig und schüttelte langsam den schweren Kopf. Dann liessen auch die starren Augen Urk los, und das Wimmern setzte verstärkt von neuem ein. Ein Bellen und Röhren, ein Gurgeln und Winseln, ein Wimmern und Stöhnen, dass Urk gerne dieses Wesen bei den Schultern genommen hätte, um es zu trösten. Aber als er nur einen Schritt machte, geriet das Mädchen sofort wieder in Abwehr, und Urk musste eine ganze Weile starr stehen bleiben, beinahe ohne zu atmen, ehe die Augen ihn wieder losliessen und das Weinen von neuem begann. Urk schloss die Augen und versuchte zu hören. Was rief diese verdunkelte Seele? Es klang wie in einen hohlen Abgrund gerufen, als angele der Schrei nach Widerschrei und Echo, als suche das Wimmern nach Bild und Widerbild. „Ein verrückter Narziss“, fuhr es ihm durch den Kopf.

Nach einer Weile öffnete sich die jenseitige Tür. Das Wimmern schlug jäh in Fauchen um, und das Wesen stürzte sich katzenartig auf die eintretende Frau Bermann. Die sah Urk erstaunt an. Dann ergriff sie die Kranke bei den Händen und drückte sie mit der Gewandtheit eines Krankenwärters auf einen Sessel. Das Fauchen steigerte sich noch und endete in einem jammervollen Stöhnen. Der Körper sackte ganz zusammen. Das Gesicht zerschlaffte nach unten, über die Augen klappten hellrote Augendeckel. Eine graue Maske, undurchdringlich wie Dämmerung, bedeckte das Geheimnis. Urk wandte sich eilig und ging in sein Zimmer.

Nach einer halben Stunde erschien Frau Bermann bei Urk, um sich zu entschuldigen. Nicht immer seien die Anfälle so heftig wie heute. Nein, die Kranke habe sich noch nicht ganz beruhigt. „Sie wimmert aber so leise, dass es kaum mehr zu hören ist“, schloss sie streng und legte die Arme leicht ineinander, die Handflächen nach innen.

Urk rückte für Frau Bermann den Stuhl in die Ofenecke, denn es schien ihm, dass sie fror. Frau Bermann lächelte dankbar und setzte sich. In der milden Beleuchtung der Lampe sah man kaum die weissen Strähnen, die in drei schmalen Wegen das schwarze Haar durchquerten, sah man nicht die Gramringe um die Augen, die so oft Augen alt und abgründig erscheinen lassen.

Sichelförmig, wie ein roter Viertelmond, stand das Lippenpaar in dem kleinen Gesicht, das klar und schüchtern, durchscheinend und undurchdringlich sich Urk zuwandte. Ist sie 25, ist sie 50? dachte Urk. Man kann es nicht sagen, also ist sie ein Mensch. Frau Bermann nahm das Gespräch noch einmal auf: „Merkwürdig ist, dass sie keine Angst vor Ihnen hatte. Ich bekam einen grossen Schreck, als ich Sie im Zimmer sah. Während der Anfälle darf sonst nie ein Fremder im Zimmer sein.“ Urk antwortete, dass er ja schliesslich auch Mediziner sei. Vielleicht ... „Ach, die Mediziner“, lachte Frau Bermann beinahe fröhlich. „Nein, die Mediziner sind nie mit ihr fertig geworden.“

„Ich bin nicht gerade fanatischer Anhänger der Medizin,“ sagte Urk leichthin, um das Gespräch im allgemeinen zu halten, „und ich finde auch nicht, dass sie viele Krankheiten heilen kann. Aber die Gründe der Krankheiten kann sie zuweilen ganz gut erkennen.“ Frau Bermann zuckte unmerklich zusammen, sie sah Urk aufmerksam an, als habe er ihr etwas Wichtiges verschwiegen.

„Ich weiss den Grund“, flüsterte sie und wurde ganz weiss. Wirklich (wie seltsam!), sie wusste plötzlich den Grund, und es schlug ein Frost hart durch ihr Herz. Sie zügelte sich heftig, denn sie hatte ein brennendes Verlangen, das Erkannte zu sagen. Diesem Mann zu sagen? Diesem Mieter? Sie stand eilig auf, sie schnellte geradezu in die Höhe. Wenn sie es diesem Unbekannten nicht sagte, einem ihrer wenigen Bekannten würde sie nichts sagen können. Und ihrem Mann? Sie verabschiedete sich schnell. Sie konnte ein Entsetzen, das ihr die Lippen auseinanderriss, nicht bändigen. Deshalb also? Deshalb?

Sie floh geradezu aus Urks Stube. Sie stürzte in die Dunkelheit des Berliner Zimmers und lehnte den dunklen Kopf gegen die dunkle Wand. Ja — weil sie sich das nicht sagten, konnten sie nicht miteinander sprechen. Weil sie sich das verschwiegen, mussten sie in ihrer Ehe über beinahe alles schweigen. Lange blieb sie im Dunklen stehen. „Gibt es“, dachte sie angestrengt, „etwas wie Strafe, so kann ich nicht begreifen, dass man mit der Qual eines anderen Wesens bestraft wird.“

Das ist nun freilich auch nicht so. Man wird, sofern man mit seinem Begreifen nicht über die Ebene von Schuld und Sühne hinauslangt, dort bestraft, wo man sündigt. Der Schöpfer im Geschöpf. Aber wie der Schöpfer ein Produkt ist und ein Selbständiges, so auch das Geschöpf. Das, was man von anderen her ist, ist nur das eine; das, was man von sich selbst her wird, ist das andere. Ein schlechter Trost für den, der im Unglück sitzt. Aber der einzig wirkliche Trost. Die Freiheit ist in deine Hand gelegt!

Urk war aus dem Weggehen der Frau Bermann natürlich nicht klug geworden. Aber er pflegte so wenig wie möglich über Dinge nachzudenken, die man ihm nicht anvertraute. Es gab genug, es gab zu viel Leute, die den ganzen Einsatz der Kraft verlangten. Man konnte nicht noch Hilfe aufdrängen.

Genug Leute, die Urks Hilfe brauchten? Auf diesem Umweg kehrte er zu sich selbst zurück. Merkwürdig: drei Jahre eines Landlebens und nun schon wieder ein halbes Jahr lähmender Untätigkeit. Man brauchte ihn. Jedes Zusammentreffen mit Menschen zeigte deutlich die Fülle von Aufgaben. Jede Minute hätte er benutzen müssen zu all den Dingen, die nötig waren.

Er aber baute erst das Land, sass über Bücher gebeugt, sprach mit seiner Frau. Führte ein Leben für sich, also ein Leben. Dann starb die Frau. Warum starb die Frau? Urk sah am Schatten, dass er schon wieder die Fäuste ballte. War das Sterben ein Zeichen? Winkte Gott mit so billigem Wink? Nun, dann war es recht, dass er, Urk, sich wieder verkrochen hatte. Dass er diesen Winkel gewählt hatte. Still inmitten des Lärms, faul inmitten der Rastlosen, untätig, wo alles nach seiner Tätigkeit schrie.

Urk ging wieder in sein Badezimmer. Er wollte ein Bad nehmen, aber er nahm nur ein Lärmbad. Pfeifend, trillernd, singend, klopfend, hämmernd auf Klavieren und Grammophonen, zankend, lachend, bumsend, kreischend mit tausenderlei Tönen und Zwischentönen überbrauste ihn der Lärm des Hauses, und in den Pausen hörte man fern die Strasse brodeln. Mit einem leeren Lächeln gab er sich dem Lärm hin. Der Mond leuchtete kalt und klar und entstellte das lächelnde Gesicht in ein fratzenhaftes.

Das fiebernde Haus

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